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Der alte Mohrauer der geschlossenen Anstalt in B. hatte mich beim Abschied gefragt, ob ich keinen jungen Doktor kenne, der bereit wäre, eine Assistentenstelle bei ihm anzunehmen. Wenn er verheiratet sei, wäre es kein Hindernis. Hatte er an mich gedacht? Er wußte aber, daß ich in der Schule meines Vaters war, und hatte mir auch Grüße an ihn aufgetragen. Ich war nicht glücklich in dieser Schule. Aber ich entsann mich eines Wortes meines armen Freundes, das er mir einmal zu Beginn seiner Universitätsstudien gesagt hatte: Der Mensch hat nicht glücklich zu sein. Wenn ich an ihn dachte, an sein stumpfes, entseeltes, ausweichendes Auge, an sein schmutzigweißes Krankengewand, an den seelischen Tod im lebendigen Leibe, an den Hunger, den dieser elende Leib litt – da kam ich mir selbst beneidenswert vor. Ich kehrte voll neuer Lebenskraft in die Schule meines Vaters zurück. Ich glaubte, ich hätte den besseren Teil meines Lebens noch vor mir und wollte haushalten mit ihm.

Auf der Heimreise überlegte ich, ob man nicht noch eine dritte Methode finden könne, den Augendruck zu messen. Mir schwebte ein Apparat vor, der von rechts und links her den Augapfel umfaßte und festhielt. Wenn man diesen Apparat belastete, wie man eine Briefwaage belastet, würde der Druck von rechts und links den Augapfel zusammenpressen (in winzigem Ausmaße natürlich), und aus der Kraft, die nötig war, um eine bestimmte Änderung der Krümmung der Hornhaut zu erzeugen oder auszugleichen, ließe sich der Augendruck messen. Noch während der Reise kam mir der Haupteinwand. Ein solcher Apparat setzte voraus, daß die Hornhaut durchsichtig und normal war. Er war also nicht allgemein verwendbar. Aber wenn man sich damit begnügte, ihn als Hilfsapparat bei Operationen zu verwenden? Daß sich der Augapfel trotz den strengen Mahnungen des Operateurs doch immer ein wenig bewegte, wie oft kam es vor und wie sehr erschwerte es jeden Eingriff! Die Schnitte waren an sich sehr klein, jeder halbe Millimeter konnte entscheiden. Ängstliche Patienten oder Kinder, bei denen der Operateur unvorhergesehene Bewegungen des Auges fürchten mußte, konnten nur in der Narkose operiert werden, und dies war nicht einfach, da der obere Teil des Gesichts unbedingt keimfrei zu bleiben hatte. Sonst konnte man sich damit begnügen, das Auge – nicht die Iris! durch Kokain unempfindlich zu machen. Ich kam also mit neuen mutigen Plänen daheim an.

Mein Vater hörte mir nur zerstreut zu. Er war im Begriffe, mit der ganzen Familie zu verreisen. In der Privatklinik blieben nur einfache ›Nachbehandlungen‹ zurück, und im Krankenhaus sollten die Ärztin und ich uns in die Arbeit teilen. Kaum war meine Familie abgereist, als ich einen Brief von Eveline empfing. Es war ein Glück, daß ihn meine Frau nicht in die Hand bekommen hatte. Mir klopfte das Herz bis an den Hals, ich empfand Angst und eine schwere wollüstige Beklemmung, es tat mir wohl und wehe, das Unentrinnbare näher kommen zu fühlen. Nie hatte mir Eveline seit ihrer Verheiratung einen langen Brief geschrieben, nun hielt ich ihn in den Händen und konnte, ohne von meiner ungeliebten Frau gestört zu werden, ihn lesen. Mein Vater war auf Wochen verreist, ich war frei. Vielleicht konnte Eveline kommen, vielleicht wollte sie es. Aber ich wollte es nicht. Es widerstrebte mir, Vallys Abwesenheit auszunützen. Ich öffnete den Brief nicht. Ich zwang mich unter Aufgebot aller meiner Kräfte dazu, diesen Brief in ein anderes Kuvert zu geben und dieses zu versiegeln mit einem Petschaft, das ich vom Schreibtisch meines Vaters nahm. Manchmal überkam mich freilich auch eine andere Angst, nämlich die, daß in dem Briefe keine Liebeserklärungen, sondern Krankheitsberichte stehen könnten. Ich wußte doch durch Jagiello, daß Eveline nicht gesund war, daß ›sie aus dem Fieber nicht heraus kam‹. Aber konnte ich ihr helfen? Selbst wenn wir miteinander hätten unbeschreiblich glücklich werden können, war dieses Glück für sie lebensgefährlich. Ich redete mir ein, ich sei ein großer Menschenfreund, wenn ich ihren Brief ungelesen ließ, und zweifelte doch im innersten Grunde an mir.

Die Ärztin nahm in dem Krankenhaus mit unserem Apparat die ersten Messungen an den Augen vor. Auch jetzt war dieser Apparat (es war das vierte Modell) noch sehr unvollkommen. Aber ich begann mich in der Augenheilkunde heimisch zu fühlen, und nachdem ich der Ärztin bei vielen schwierigen Operationen assistiert hatte, obgleich es mich anfangs demütigte, als älterer Mann von neunundzwanzig Jahren mich einem jungen Mädchen unterordnen zu müssen, überließ sie mir bald einfachere Eingriffe, die einigermaßen gelangen. Ich erfuhr zum erstenmal, was es heißt, für einen Kranken verantwortlich zu sein. Oft kam ich noch nachts an das Krankenbett, um mich zu überzeugen, wie es dem Kranken ging. Wir legten nach den Eingriffen meistens Verbände an, in welche kleine Drahtgitter eingebaut waren. Wie oft habe ich sie befühlt, um mich zu überzeugen, daß sie trocken waren, daß keine ungewöhnlichen Schmerzen bestanden. Allen Kranken war es verboten, nach der Operation etwas Festes zu kauen, da die Kaubewegung das Auge erschüttert, das so sehr der Ruhe bedarf. Aber wenn die Kranken, ausgehungert wie sie waren, an dem bißchen Rübenmus und Kartoffelbrei, dem einzigen, was man ihnen jetzt reichen konnte, nicht genug hatten und sich mit ihren Händen in die Schubfächer der Nachtkästchen tasteten, wo harte, trockene Maisbrotrinden aufgespart lagen, wie schwer war es, sie zur Vernunft zu bringen. Der Krieg dauerte zu lange. Die Menschen waren zu verzweifelt.

Mein Vater kam zurück. Er war mißgestimmt. Jetzt begann er doch am Endsieg zu zweifeln. Er schloß sich, mit Vally ein, und beide besprachen, wie man das Vermögen retten könnte. Aber er war eigensinnig. Er gab Vally zwar recht – und wie es sich nachher zeigte, hatte sie recht –, er tat aber doch, was er wollte. Vielleicht aus Widerspruchsgeist oder weil er einfach immer herrschen mußte. Mich hatte er nur kühl begrüßt. Im Krankenhaus hatte er allerhand auszusetzen gefunden, was mich sehr traurig machte. Aber die Ärztin tröstete mich. Es war seine Gewohnheit. Nie hatte einer seiner früheren Assistenten nach den großen Ferien ein gutes Wort von ihm erhalten, wenn er die laufenden Angelegenheiten in seine Hände zurückgab. Nun tröstete auch ich mich. Aber wir kamen aus den Aufregungen nicht heraus. Im Oktober wurde der Verfall der Monarchie offenbar. Die österreichischen Nationen, Ungarn, Tschechen, Kroaten und Serben etc. machten sich frei. Übrig blieben bloß die deutschen Kernlande. Polen sollte ein selbständiges Reich werden, Königtum oder Republik, man wußte es noch nicht. In Rußland herrschte die Revolution, auch bei uns bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. Sie bestanden in jeder Fabrik, in jedem Institut, in jedem Mietshaus, Amt, Krankenhaus, in jeder Gemeinde. Mein Vater empfing die Räte des Krankenhauses. Ich war dabei, als er von dem wohlverdienten Untergang der sterbensreifen Monarchie und dem Siegeszug unserer neuen sozialistischen Zeit sprach. Ja, er scheute nicht davor zurück, mich zum Exempel heranzuziehen: ›Ich habe die soziale Frage‹, sagte er mit seinem undurchsichtigen Lächeln zu den kleinen ›roten‹ Angestellten, die jetzt eine große Rolle spielten, in meiner Familie individuell gelöst. Mein ältester Sohn hat eine Frau der dienenden Klasse geheiratet, und wir alle haben stets Beweise der sozialen Gesinnung gegeben‹, etc. Das Wort sozial kam jetzt ebensooft vor, wie früher das Wort von der Obrigkeit. Ich sah, wie die kleinen Leute seinem Zauber unterlagen. Sie beteten ihn noch mehr an als zuvor und wählten ihn in die wichtigsten Verbände. Mein Vater verhöhnte die Roten, wenn er mit uns allein war, und prophezeite ihnen noch böse Tage. Mich überkam ein so bitteres Gefühl, daß er es bemerkte. ›Sieh mich nicht so böse an! Ich bin verantwortlich für euch alle, und ihr werdet sehen, daß ich recht habe!‹ Nicht, daß die soziale Frage jetzt bei ihm im Vordergrunde stand, warf ich ihm vor, sondern daß er seine Ansichten über das vergangene Reich und die Regierungsform so schnell geändert hatte. ›Alles trägt seinen Lohn‹, versprach er uns. Mir lag nichts an einem Lohn, mich schmerzte es, daß das ganze Reich von den früheren Feinden nicht nur besiegt worden war, sondern daß man es sehr tief demütigte. Dies war unnütz.

Ich erfuhr es bald, was er damit sagen wollte: Alles trägt seinen Lohn. Wir bewohnten das große Haus, die riesige Villa. Wir waren eine zahlreiche Familie, wir brauchten eine Menge Dienstpersonal. Gut. Mein Vater hatte seine Sprechstunde in den Parterreräumen, wir hausten in den zwei Stockwerken. Es war November, Dezember, es wurde kalt, wie sollte man die vielen Räume heizen? Die Kinder mußten es warm haben, meine zarte Mutter auch. Mein Vater löste diese Schwierigkeiten spielend leicht. Er beantragte für die Villa eine große Menge Kohlen auf Karten. Er sagte, sein Sprechzimmer sei auch mittellosen Kranken geöffnet, sein Haus diene gemeinnützigen Zwecken, und so erzielte er es, daß wir in diesem Winter immer behaglich gewärmte Räume hatten. Und ich sollte ihm nicht dankbar sein? Er und Vally versorgten uns mit Kartoffeln, mit Weizenmehl. Dies alles machte ihm keine Sorgen. Sorgen machte ihm nur die Kriegsanleihe, die er gezeichnet hatte und die gefährdet war. Noch konnte man sie gegen andere Wertpapiere austauschen. Aber er hielt starr daran fest.

Es gab viel Arbeit. Die Armee war aufgelöst. Sie strömte unter ungeheuren Schwierigkeiten in ganz verelendetem Zustande zurück. Nie war das Sprechzimmer meines Vaters so gefüllt wie jetzt. Aber er schied nach wie vor zwischen gut zahlenden Kranken, denen er noch höhere Honorare abforderte als zuvor, und den minder bemittelten, die er bis gegen Schluß der Sprechstunde warten ließ – und dann mir überantwortete. Ich habe getan, was ich konnte, aber meinen Vater zu ersetzen, war ich nie imstande.

Wir standen kurz vor Weihnachten. Von Jagiello hatte ich schon seit dem Waffenstillstand keine Nachricht. Er sollte in den letzten Tagen vor dem Waffenstillstand, nach Abschluß der Kämpfe, von den Italienern gefangengenommen worden sein. Sein Buch über ›Kinderarbeit in Industrie und Handwerk‹ hatte ich erhalten. Ich nahm es zur Hand, konnte aber nicht recht folgen und legte es zurück, um es während der Weihnachtsfeiertage zu studieren. Meine Frau bereitete mir eine ›Überraschung‹, ein für die damalige Zeit kostbares Geschenk, vor. Einen Pullover aus echter Wolle, an dem sie strickte. Als ich sie einmal dabei überraschte, sagte sie, das Ding unter der langen Tischdecke versteckend, es sei für unsern Jungen bestimmt. Aber mein Sohn hatte bereits zwei solche Kleidungsstücke und ich keines dieser Art. Meine Kleidung war so zerschlissen, daß man mich, wenn ich mich im Krankenhause ohne den weißen Mantel zeigte, für einen ›Kranken dritter Klasse‹ hielt. Aber die meisten Ärzte in den Anstalten hatten es damals schwer, viele noch schwerer als ich. Meinen Vater erkannte man natürlich von weitem. Er hatte einen herrlichen, mit Biber gefütterten Pelz mit einem breiten Persianerkragen, das Geschenk eines seiner dankbarsten Patienten. Er mußte seine Gesundheit erhalten, seine Kraft für die ärztliche Tätigkeit aufsparen. Er machte die Mode mancher reichen Menschen jener Zeit nicht mit, als Proletarier erscheinen zu wollen, und er hatte recht. Die geborenen Proletarier, mißtrauisch in ihrer neuen Macht, konnten genau unterscheiden, bei wem die Armut echt und bei wem sie angeschminkt war. Mancher brüstete sich damals, dem zu Grunde gegangenen Staat ein Schnippchen geschlagen, sich durch besondere List dem Dienst des alten Regimes entzogen zu haben. Mein Vater tat nichts dergleichen. Er blieb der, der er war, und ich begann mit ihm Frieden zu schließen. Er hatte Schwächen. Ich wollte lernen, ihn wegen dieser Schwächen nicht gering zu achten, sondern ihn mit diesen Schwächen noch viel mehr zu lieben. Wen hätte ich sonst lieben sollen?

Meine Frau hatte Anspruch auf mich. Ich wußte es. Sie lebte nicht leicht. Sie war in der Vollkraft der Jahre eine Art Witwe. Sie näherte sich mir. Ich stieß sie nicht zurück, aber ich rührte mich ganz und gar nicht, ich konnte sie nicht zum zweiten Male lieben. Unser Zusammenleben hätte nie unterbrochen werden dürfen. Ihr Vater – auch er jetzt in italienischer Gefangenschaft – hatte ihr damals nicht gut geraten, als ich nach Puschberg zu Besuch zu ihr gekommen war. Ich begriff heute nicht mehr, daß ich mich damals hatte zu einer Jähzornstat hinreißen lassen, aber noch weniger begriff ich, daß sie mich hatte ziehen lassen. Ich hatte viele Tage in Goigel drunten gewartet und Karten gespielt. Sie hätte mich ein Wort wissen lassen können.

In seiner Privatklinik nahm mein Vater alle Operationen bei den zahlenden Patienten vor. Er forderte dort so ungeheure Honorare, daß ich fürchtete, die Kranken würden ausbleiben. Das Gegenteil war der Fall.

Im Krankenhaus teilten wir uns in die Arbeit. Mein Vater überließ der Ärztin und gelegentlich mir die schwierigeren Eingriffe, aber wir zitterten beide, wenn etwas fehlzugehen drohte. Denn mein Vater kannte dann keine Mäßigung. Er wurde jetzt so reizbar, wie wir ihn nie gekannt hatten. Es schien, daß der Stern der Kriegsanleihe im Sinken war, und daß er sich nicht damit abzufinden vermochte. Ich versuchte ihn zu beruhigen. ›Ja, du hast gut reden‹, sagte er. ›Du bist schon als Sohn eines reichen Vaters auf die Welt gekommen. Ich habe mein Geld im Schweiße meines Angesichtes verdient und soll es jetzt für diesen wurzelfaulen Jammerstaat Altösterreich geopfert haben? Habe ich diesen blöden Krieg verloren? Mir soll nichts bleiben, nichts?‹ Was sollte ich darauf antworten? – Kurz vor Weihnachten führte ich im Krankenhaus eine Irisoperation aus, die zum Glück gut verlief. Mein Vater prüfte den Verband, sah die Temperaturtabellen an, später untersuchte er das operierte Auge und fand nichts auszusetzen.

Es befand sich zu dieser Zeit ein Kranker mit Glaukom in dem Krankenhaus, ein älterer Mann mit sonderbarem, scheuem Gesichtsausdruck, der seinerzeit in Fetzen gekleidet im Büro der Anstalt erschienen und auf die dritte Klasse, die Armenklasse, aufgenommen worden war. Er war ängstlich, schlief nicht ohne Schlafmittel, begehrte stets Dinge zum Essen, die wir ihm nicht verschaffen konnten, und fragte immer ungeduldiger, ob nicht bald der Professor, mein Vater, käme, ob er auch sicher sein könne, vom Professor eigenhändig operiert zu werden und nicht etwa von uns. Da sich mein Vater für Glaukom besonders interessierte, war anzunehmen, daß er auch diesen Fall selbst operieren würde, und so geschah es auch. Der Kranke war aber so aufgeregt, daß mein Vater eine leichte Narkose anordnete, die ich ausführte, während mein Vater das Messer führte. Ich hörte ihn, während meine Sorge natürlich vor allem der Narkose galt, mit der Ärztin und mit der Instrumentenschwester ungeduldig kommandieren, gegen seine Gewohnheit. Die Operation dauerte lange, ich mußte ein zweites Fläschchen Äther anbrechen. Endlich war der schwere Eingriff am linken Auge beendet, und der Kranke, von dessen Gesicht der scheue, fast verzweifelte Ausdruck kaum gewichen war, wurde vorsichtig auf einer Bahre in sein Bett gebracht, beide Augen verbunden, wie dies die Regel war.


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