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Der Kinderarzt war noch bei meiner Schwester zurückgeblieben, oder vielmehr bei meinem Vater, und ich vernahm in der Stille der Nacht eine etwas erregte Unterhaltung zwischen ihnen. Endlich ging der Kinderarzt, von meinem Vater bis zum Haustor begleitet. Nachher hörte ich meinen Vater mit meiner Mutter sprechen. Ich dachte, es handle sich um mich, und drückte mein Ohr an die Wand. Aber mein Name fiel nicht. War mein Schicksal schon entschieden? Es demütigte mich, daß ich hier in meinem Nachtgewand wie ein neugieriger Dienstbote, dem die Kündigung von seiten seiner Herrschaft bevorsteht, an der Tür horchen sollte. ›Bin ich denn euer aller Sklave?‹ hörte ich meinen Vater grollen. ›Ach, das ist alles nicht so schlimm‹, antwortete meine Mutter, dann kam etwas Unverständliches und zum Schluß die mir wohlbekannte Redensart: ›Also ein kleines Pflaster auf die große Wunde, Maxl?‹ Mein Vater tat einige laute Schritte, seine Schuhe knarrten, und ich wich von der Tür zurück. ›Hundert Kronen!‹ sagte er vorwurfsvoll zu meiner Mutter. ›Hundert Kronen, Frau, für das Thermometereinstecken und einen Backenstreich! Hat man je so etwas gehört!‹ ›Also, was soll geschehen?‹ fragte meine Mutter, und ich begann zu zittern. ›Die hundert Kronen könnten deine Eltern zahlen! Noch heute sind sie mir hunderttausend schuldig ...‹ Ich schlüpfte schnell in meine Kammer zurück, denn es schien mir, als habe sich mein Vater der Tür genähert.

Ich schlief trotz allem bald ein. Die schlechte Uhr tickte immer noch auf meinem Nachtkästchen. Es war spät geworden, zwischen eins und halb zwei.

Nachts träumte ich, daß ich mich auf dem steinigen Wege befand, der von Puschberg zu dem kleinen Bergsee hinuntergeht. Er war jetzt (ich träumte, es sei Winter) zugefroren, und man sah ihn von weitem durch die Bäume als eine kreisrunde Fläche zwischen den Felsen, die eine Farbe wie Blei hatten. Vor mir lief ein kleiner Junge mit stark schlenkernden Armen, dessen Kopf, von der Schneedecke abgehoben, ich aber nur aus der Entfernung sehen konnte, denn der Junge lief viel schneller den Abhang hinab, als ich mit meinen schweren, genagelten Schuhen folgen konnte. Ohne daß mir jemand es gesagt hätte, wußte ich, es war mein Kind. Ich war stolz auf ihn, und ich freute mich, daß er mir gehörte (Judith!), ich dachte daran, ihn einzuholen und unter meiner Pelerine, der gleichen, unter der ich früher einmal den jungen Perikles spazieren geführt hatte, unterzubringen, und zugleich schwebte mir vor, ich habe ihn zu unterrichten, wie ich in jener Zeit Jagiello unterrichtet hatte. Ich rief nach ihm, und zwar seltsamerweise mit diesen Namen abwechselnd, Jagiello und Perikles, und es erschien mir selbstverständlich, daß er auf beide Namen hörte.

Plötzlich begann mein Sohn blitzschnell den Abhang auf einer glatten Eisbahn ›hinabzuschleifen‹, wie wir Jungen es nannten. Immer rasender ging die Fahrt, den Felsen zu. Vergeblich rief ich ihm warnend zu, er solle bremsen, er solle sich festhalten, er solle einen herabhängenden Tannenzweig fassen, er wollte nicht hören oder konnte nicht mehr haltmachen, und ich, jetzt auch noch dazu unfähig, nur einen Schritt zu tun, hörte mich selbst sagen: ›Wie kann ein Kind ein anderes Kind erziehen?‹ Aber das Wunderbare war, daß unmittelbar hernach mein Kind sich oberhalb meines Standortes unverletzt und höchst vergnügt einstellte, mit rotbraunen derben Wangen, wie sie die Tiroler Knaben dieser Gegend haben, er hatte Vallys Kirschenaugen, bald verwandelte er sich in Vallys großen Bruder, den ›Kühhirt‹, und dann in Vally selbst ... Hier erwachte ich. Es war spät, weit über die Stunde hinaus, zu der mein Vater das Haus zu verlassen pflegte, um seine Klinik aufzusuchen. Mein Zimmer war dunkel, schien aber bereits aufgeräumt. Da Vally fehlte, hatte es wohl die Köchin oder die Amme besorgt. Ich hörte nebenan Judith fröhlich lachen und mit einem Löffelchen an ihre Milchtasse schlagen, wozu sie laut, aber nicht sehr wohltönend sang. Ihre Halsentzündung war wohl schon geheilt. Ich freute mich an diesem Gesang. Ich freute mich aber auch, mich mit meiner Mutter jetzt ohne meinen Vater aussprechen zu können und erhob mich schnell, zog die Rolläden hoch, oder wollte es tun, als ich über einen mitten im Zimmer stehenden Gegenstand stolperte: es war mein alter Studentenkoffer.

Mich traf es wie ein furchtbarer Schlag, und ich war nicht gewohnt, Schläge zu bekommen. Mein alter unseliger Jähzorn wallte auf, ich packte den muffig riechenden, abgeschabten Lederkoffer und schleuderte ihn mit aller Gewalt gegen die Verbindungstür, die zum Speisezimmer führte. Mit einem Schlag verstummte Judith mitten in ihrem krähenden Gesang. Ich hörte sie schluchzen, aber nicht das übertriebene, kreischende Weinen ihrer Anfälle, sondern ein anderes, zarteres, echteres. Ich kleidete mich in aller Eile an. Sollte ich meine Sachen packen? Sollte ich es auf eine letzte Aussprache mit meiner Mutter ankommen lassen? Mußte sie mich nicht gehört haben, ebenso wie mich Judith gehört hatte? Ich vernahm, wie sie Judith tröstete, wie sie mit der Köchin tuschelte. Ich wusch mich in aller Eile, dann lief ich in das Speisezimmer. Judith war noch da, verstimmt und mürrisch, aber die Tränen waren bereits getrocknet. Auch die Amme mit Viktor kam herein, nur meine Mutter war nicht zu sehen. Ich fragte. ›Die Frau Professor ist ausgegangen?‹ ›Jetzt, um neun Uhr morgens?‹ Die Dienstboten wollten etwas sagen, denn sie waren mir immer zugetan, aber ich begriff, daß ich mir nicht von ihnen Aufklärungen holen durfte.

Ich brachte alle meine Sachen in Ordnung. Ich hatte wenig Anzüge und einen nicht übertrieben großen Vorrat an Wäsche, so daß ich alles bequem in meinem Koffer unterbrachte. Als ich über dem alten Ding gebeugt auf dem Boden kniete, durchzuckte es mich nicht mehr schmerzlich, sondern eher wieder freudig, ich begriff, vielleicht zum erstenmal, was es heißt, frei zu sein. Ich nahm den Koffer auf, ich ging die Treppe hinab, ich stellte den Koffer bei dem Portier unter. Ich wollte meine Freiheit keinem Mißverständnis verdanken, ich wollte mein Elternhaus, an dem ich immer noch mit allen Fasern hielt, nicht infolge eines Mißverständnisses verlieren. Ich wußte, der Portier würde meinem Vater und meiner Mutter, sobald sie zurück waren, sofort Bericht erstatten, daß ich den Koffer mit den Sachen bei ihm untergestellt hatte, und wenn mich meine Eltern nicht aus meinem Zimmer vertreiben wollten, konnte alles noch leicht in Ordnung kommen.

Mein erster Weg war natürlich zu Vally. Sie erblaßte etwas, ich merkte es deutlich, und war verlegen, als sie mich in ihrem kleinen Zimmer sah. Sie hatte Strümpfe zu stopfen und setzte diese Arbeit anfangs fort, bis ich ihr die Strümpfe und die Nadel aus den Händen nahm. ›Ich dachte, ich würde Sie nicht wiedersehen‹, sagte sie, und der verhaltene Ton ihrer Worte überraschte mich noch mehr als der Inhalt. Ich sah sie an. ›Liebst du mich denn?‹ kam es plötzlich aus ihrem Mund, während sie eine dunkle Röte bis an die Wurzeln ihrer reichen, schwarzbraunen, seidigen Haare überströmte. ›Und liebst du mich?‹ fragte ich, denn im Grunde meines Herzens wußte ich nicht, ob es Liebe war, was ich für sie empfand und was mich jetzt trotz allem bis in die Tiefe meines Lebens gepackt hatte. ›Dich lieben?‹ fragte sie und nahm mir die Nadel und die Strümpfe aus der Hand, wo ich sie bis jetzt ungeschickt gehalten hatte, ›mehr liebe ich dich, als mir selbst lieb ist.‹ Ich erzählte ihr von meiner Unterredung mit meinem Vater, von seiner Erlaubnis, Medizin studieren zu dürfen. ›Und du hast es nicht angenommen?‹ fragte sie, mit einem eher kalten Blick und einem finsteren, düsteren Lächeln, ›warum hast du es nicht angenommen? Nun, vielleicht besser, daß du dem alten Satan aus den Händen bist!‹ Als sie sah, daß ich es nicht ertragen konnte, daß sie so über den Menschen sprach, den ich mehr als alles andere liebte ( das wußte ich), biß sie sich auf die Lippen und sagte: ›Kennst du ihn denn? Aber ich verspreche es dir, kein Wort über ihn kommt mehr über meine Lippen, bis ...‹ ›Bis?‹ fragte ich. ›Frage nicht!‹ sagte sie kurz und machte sich wieder an die Arbeit. Ich erzählte nach einer ziemlich langen Pause nun auch die Geschichte von dem alten Koffer. ›Sagte ich es dir nicht?‹ fragte sie, schon jetzt ihr Versprechen brechend, nicht schlecht von meinen Eltern zu sprechen, aber sie besann sich noch zu Zeiten und ließ mich ausreden. ›Das habe ich nicht gewollt‹, sagte sie endlich. ›Ich darf dich nicht um dein Elternhaus bringen.‹ ›Aber es muß doch sein?‹ ›Es soll nie heißen, daß ich dich zu etwas gezwungen habe!‹ Sie begann zu weinen, und ich Tor sah erst jetzt, daß sie schon während der ganzen Zeit, seitdem ich eingetreten war, die Tränen zurückgehalten hatte. ›Weine nicht‹, suchte ich sie zu trösten, ›wir halten zusammen. Wir sind jung und gesund und werden einen Ausweg finden, Vally! Mir ist heute nacht unser Sohn sogar im Traum erschienen.‹ ›Was, unser Sohn?‹ Sie schreckte aus ihrem Brüten auf. ›Versprich mir eines, ich bitte dich, nur eins versprich mir!‹ ›Ewige Liebe und ewige Treue?‹ fragte ich scherzend, obgleich es mir unheimlich zumute war in dem dämmerigen, etwas dumpfen Zimmer, das abends und nachts stets ganz anders, und zwar freundlicher ausgesehen hatte als jetzt. ›Gut!‹ sagte sie abgebrochen. ›Versprich mir, daß du niemals einen dritten rechten lassen wirst über mich!‹ ›Was meinst du? Kein anderer soll über dich richten?‹ ›Nein! Keinen sollst du über mich zu Rate ziehen, und keiner soll über mich zu Gericht sitzen, bevor ich es nicht weiß, versprichst du mir das?‹, und sie hielt mir ihre kleine, schöngebildete, bräunliche, aber sehr abgearbeitete Hand hin. Ich nahm sie. Ihre Tränen hatten aufgehört. ›Und was versprichst du mir?‹ fragte ich, immer noch bemüht zu scherzen und die schwere Atmosphäre zu verscheuchen, die über uns lag. ›Was soll ich dir versprechen, Kind? Du hast doch schon alles! Was ...‹ sie unterbrach sich. Offenbar wollte sie sagen, was bin ich dir, oder etwas Ähnliches, aber sie wollte sich nicht klein machen. Das war stolz und unbedingt richtig in diesem Augenblick. ›Ich werde dich nie verlassen‹, sagte sie und heftete ihren immer noch düsteren Blick auf mich, dann widersprach sie sich: ›Ach, wenn ich es nur könnte! Was soll nur aus ihm werden? Was soll nur aus uns werden?‹ ›Was aus uns werden soll? Wir werden heiraten, damit das Kind ehelich auf die Welt kommt.‹ ›Das ist unmögliche, sagte sie, ›du glaubst, daß du dazu gezwungen bist, aber du bist nicht gezwungen.‹ ›Das weiß ich doch‹, antwortete ich. ›Du weißt, daß du mich nicht heiraten mußt? Hast du dir das auch überlegt, liebst du mich denn? Ist es nicht Mitleid? Ist es nicht ...‹ Ich drängte mich an sie, ich küßte sie, ich riß sie zum Bett, und wir verbrachten Stunden über Stunden in stummen, furchtbaren, nicht endenden Umarmungen voller Glut und voll von einem neuen, tiefen, grauenhaften Glück, uns war, als könnte dieser Rausch nicht enden, wir gruben uns immer tiefer in den anderen ein, dachten nicht an Essen, Trinken, nicht an Ruhe oder Schlaf, nicht an Schmerz, es wurde immer stärker, immer aufreizender, immer sehnlicher, unerschöpflicher, den ganzen Tag hindurch, die Nacht hindurch, bis wir gegen Morgen in einen tiefen Schlaf verfielen, aus dem wir erst gegen Mittag erwachten.

Jetzt war kein Zweifel mehr für mich. Ich mußte doch einen Menschen lieben, mit dem ich mich, unter Blut, Tränen und beinahe Tod vereinigen konnte – und nach dem ich mich sehnte, kaum daß ich auf die Straße getreten war. Ich kaufte Nahrungsmittel ein, wir aßen auf dem Bettrande sitzend und fielen uns, während wir tapfer vom Aufstehn und in die Stadt gehen sprachen, von neuem in die Arme. Meine Vally war noch glühender als ich, sie wollte mir weh tun, und sie wollte mich anstacheln, ihr Schmerzen zu bereiten, die sie durch noch stärkere, noch süßere Liebkosungen auslöschte, um sie aufs neue zu erwecken. Es war ihre Natur. Sie hatte nichts von einer Schwangeren an sich. Ihr Körper war fast ebenso unberührt und fest geschlossen wie vor einigen Wochen, als wir uns das erstemal – in welch unvollkommener Liebe! – vereinigt hatten. Ich dachte beim Erwachen am dritten Tage an meine Mutter, die immer unter ihren Leiden in der Hoffnung gestöhnt, die sich verhäßlicht hatte, die von ihren Übelkeiten geplagt war – nichts davon bei diesem schlanken, leidenschaftlichen, tollen, liebeshungrigen, unersättlichen und doch so sanft zärtlichen Geschöpf. Sie ließ mich ihre feste Brust befühlen und küssen, ich sollte merken, wie heiß diese Brust sei, sie konnte nie genug bekommen, und sie, die mir seit vielen Jahren – wie eine Magd eben – gedient hatte, ließ mich bis ins Letzte vergessen, daß ich sie jemals anders gekannt hatte, als sie jetzt war ...

Endlich mußten wir unser gewohntes Leben wieder aufnehmen. Das Geld ging uns aus. Vally wollte zur Postsparkasse laufen und etwas von ihren Ersparnissen abheben. Ich sollte nach Hause gehen und dann mit dem Koffer zu ihr zurückkommen. Ich überlegte, wie ich Geld verdienen könnte. ›Jetzt habe ich noch Geld. Sorge dich nicht‹, sagte sie und wollte keinen Widerspruch. ›Ich kann mich doch nicht von dir ernähren lassen?‹ sagte ich. ›Sind wir Mann und Frau, oder?‹ fragte sie. – Ich ging nach Hause. Der Koffer, mit Staub bedeckt, stand in der gleichen Ecke in der Behausung unseres Portiers, wo ich ihn untergebracht hatte. Ich nahm ihn in die Hand. Ich öffnete ihn, während mich der Portier und seine behäbige Frau von der Seite her beobachteten. Vielleicht hatten mir meine Eltern eine kurze Nachricht, ein Briefkuvert mit etwas Geld hineingelegt, Lebensmittel für einige Tage? Nichts. Sie hatten auch dem Portierehepaar keine Botschaft an mich aufgetragen.

Ich hätte die paar Stufen hinaufgehen, etwas fordern können, das mir zustand, denn noch war ich ihr Sohn, noch war ich nicht Vallys Mann. Aber ich empfand jetzt einen Stolz, den ich früher nicht gekannt hatte, denn Vally hatte mich zum Mann gemacht, und ich begriff, daß ich mich nicht mehr demütigen könnte. An meinem Gefühl für sie zweifelte ich nicht mehr.

Als ich Vally wiedersah, mußte ich wahrnehmen, daß sie fast ebenso überrascht war wie vor drei Tagen. Hatte sie mir zugetraut, ich würde sie, nachdem das zwischen uns gewesen war, mit unserem Kinde verraten? Von dem Kinde wollte sie aber nicht viel reden hören. ›Überlaß das mir‹, sagte sie, ›es ist noch nicht da.‹ ›Es ist noch nicht da?‹ fragte ich sehr überrascht. ›Aber Vally, du bist doch sicher, du täuschst dich nicht?‹ ›Du bist doch sicher, du täuschst dich nicht‹, machte sie mir nach und lachte. ›Willst du mich? Heiratest du mich oder mein Kind?‹ Ihre Lustigkeit war übertrieben, sie kroch auf der Erde umher und ahmte ein kleines Kind nach, das seine ersten Schritte versucht. ›Vally‹, rief ich. ›Nun‹, sagte sie, stand auf, sah mir kalt in die Augen, nahm meine Hände in die ihren und fragte: ›Bereust du? Tut es dir leid? Haben sie dich vor mir gewarnt?‹ Ich wollte ihr sagen, daß ich sie nie verlassen würde, aber sie unterbrach mich. ›Du bist neunzehn Jahre alt. Ich kann vielleicht keine ewige Treue verlangen, du kannst noch zurück, ich schlage mich durch.‹ ›Und das Kind?‹ Sie verzerrte plötzlich das Gesicht. ›Das Kind‹, schrie sie schrill, ›ich bin dir nichts, und das Kind ist alles? Ich lebe doch noch? Bin ich ein Fetzen? Dann will ich dich nicht mehr. Eine Stubenmädelliebe? Ein Mist und Dreck? Vielleicht tut es jetzt mir leid, und ich will dich nicht mehr.‹ Sie weinte nicht, sie starrte mich mit trockenen Augen an, setzte sich an den Tisch und begann die Strümpfe wieder vorzunehmen, die sie vor einigen Tagen aus den Händen gelassen hatte.

Ich wußte nicht, war es Mitleid, war es Sinnlichkeit – jetzt wo sie mir zürnte, reizte sie mich noch mehr, und wir verbissen uns fast sofort darauf in die wütendsten und dabei doch innigsten Zärtlichkeiten – ich blieb. Und nachdem sie sich endlich an meinem Halse ausgeweint und mir die Tränen sorgfältig mit ihrem Taschentuch vom Halse und von meiner Brust abgetrocknet hatte, begannen wir endlich einen Plan für die Zukunft zu schmieden. Um neun Uhr abends hatten wir angefangen, uns über unsere Zukunft zu besprechen, und es war fast vier Uhr morgens, als wir uns klar waren. Unser Plan war fast fehlerfrei, und wir haben lange Zeit diesen Plan befolgen können. Sie wußte, was ich haben sollte, was ich mir wünschte. Diesen Wunsch wollte sie vor allem, unbedingt, um jeden Preis erfüllt wissen, ich sollte studieren, ich sollte Arzt werden. Die Sorge für das Kind wollte sie solange wie irgend möglich allein übernehmen, das Kind sollte mich auf keinen Fall hindern. Sie war in ihren Plänen so selbstlos, so vornehm, so gar nicht ›Stubenmädelliebe‹, daß es selbstverständlich für mich war, daß auch ich ihr und dem Kind ein Opfer brachte, indem ich meine Familie verließ, sie heiratete und dem Kind einen Namen gab.

Welche Aussichten hatten wir, Geld zu verdienen? Ich hätte Lektionen erteilen können, aber sie sagte mit Recht, ich müsse mich mit allen Kräften an meine Arbeit halten, keinen Tag, nicht einmal eine Stunde verlieren. Sie wollte arbeiten, sie wollte für das Kind sorgen. Sie wollte sich bilden, um später mit Ehren als meine Frau in der Gesellschaft erscheinen zu können, und sie begann augenblicklich, sich im Schreiben zu üben, da sie eine schöne Handschrift als unentbehrlich erachtete, sie bat mich, ihr Bücher aufzuschreiben, die sie aus der Volksbibliothek entlieh, sie wollte unter allen Umständen unentgeltliche Sprachkurse nehmen. Sie bat mich, ich solle sie unerbittlich auf Fehler in der Aussprache, auf unpassende Manieren beim Essen aufmerksam machen, und das waren nicht bloß Worte, sondern ihr Ernst. Sie konnte noch auf einige Zeit in den Dienst gehen, und sie tat etwas, was sie in meinen Augen sehr hoch stellte, sie trat bescheiden und tapfer meiner Mutter und meinem Vater entgegen, erbat ihre Papiere und setzte ein gutes Zeugnis durch. Sie verzichtete während des kommenden Sommers darauf, mich an anderen Zeiten als sonntagnachmittags bis acht Uhr abends zu sehen.

Ich konnte erst im Herbst auf der Universität inskribieren, bis dahin mußte ich mich in der Bibliothek an die Bücher und Atlanten der Anatomie etc. halten, und ich kannte die menschliche Anatomie bereits sehr genau aus Büchern, bevor ich, nicht ohne Schaudern, die erste Leiche sezierte. Ihre geringen Ersparnisse (sie war stets sehr ehrlich und meine Familie stets sehr sparsam gewesen) waren bald aufgezehrt. Ich bewohnte ein Zimmer, nicht kleiner und nicht größer als die Kammer, die ich zuletzt daheim gehabt hatte, und das man ein Kabinettl nannte. Aber auch diese Miete zu erschwingen wurde ihr schwer. Wir versetzten zuerst meine goldene Uhr, dann lösten wir sie mit Mühe ein, schließlich mußten wir sie verkaufen. Seit den Sommermonaten, genau gerechnet, einen bis zwei Monate nach meinem Auszug von zu Hause, wurde ihre bis dahin immer sehr wechselnde Stimmung anders – ernster und heiterer zugleich. Ich verstand es nicht. Bei mir hatten sich die Sorgen und die Unruhe vergrößert. Sie aber hatte eine Art Sicherheit gewonnen.

Es mußte für mich gesorgt werden. Mein Vater lehnte jede freiwillige Unterstützung ab. Er war vielleicht sehr tief getroffen. Wahrscheinlich hoffte er, mich zu einem Rückzug zu gewinnen. Ich hätte ihm zu dieser Zeit nicht vor die Augen zu treten gewagt, ich traute mir selbst noch nicht genug Kraft zu. Vally ging eines Sonntagnachmittags nochmals zu ihm. Ich wartete vor dem Haus, sah mein Schwesterchen am Fenster.

Judith sah mich nicht. Ich fand sie sehr blaß.

Sie soll sich sehr um mich gegrämt haben. Vally war sie um den Hals gefallen und hatte sie nicht mehr loslassen wollen. Meine Eltern waren kühl dabei gestanden.

Man sah Vally zu dieser Zeit ihre Schwangerschaft schon deutlich an. Mein Vater bestand darauf, die ›Sache‹ durch seinen Rechtsanwalt zu regeln. Wir, Vally und ich, hatten nicht die Mittel, einen solchen für uns zu bezahlen. Vally vertraute sich ihrer neuen Herrschaft an. Diese hatten gute Bekannte, und diese Bekannten wollten Vally mit einem Anwalt zusammenbringen. Es gelang, und der Advokat versprach, meine Vertretung auf Borg zu übernehmen. Ich konnte ein Stipendium anstreben, das die österreichisch-ungarische Militärbehörde, die Mangel an Militärärzten hatte, jungen dienstwilligen Medizinern gewährte. Doch brauchte ich dazu ein Mittellosigkeitszeugnis – und die Einwilligung meines Vaters. Unmöglich zu erlangen.

Dem Advokaten gelang es schließlich, gegen den Willen meiner Mutter, einen Ausweg zu finden, der uns alle rettete.

Mein Vater war also doch nicht unerbittlich gewesen. Zwar versagte er mir jeden Unterhalt, aber er war damit einverstanden, daß ich meine Volljährigkeit schon jetzt erlangte, was im Gesetz als Ausnahme vorgesehen ist, und ich meinerseits entsagte allen Ansprüchen an ihn.

Dieser Entschluß fiel uns beiden, Vally und mir, nicht leicht. Die Lage unseres Kindes wäre nämlich viel günstiger gewesen, wenn ich unmündig blieb, da dann mein Vater nach Maßgabe seines Vermögens, das jetzt schon gewaltig war, für die Alimentation des unehelichen Kindes aufzukommen hatte. Auf der anderen Seite war es unsicher, ob ich das Stipendium erhalten würde, ja schon die Erlangung des Mittellosigkeitszeugnisses stieß auf Schwierigkeiten.

Dennoch entschlossen wir uns dazu. Meine Frau war jetzt stolz geworden, sie wollte keine Almosen, sie ließ sich bei ihren Besuchen zu Hause nicht im Vorzimmer, auch nicht im Sprechzimmer abspeisen, sondern bestand darauf, daß man unsere und des Kindes Zukunft im Salon bespreche und daß sie sich ebenso auf einen Fauteuil setzen dürfe wie ihre frühere Herrschaft. Obwohl sie zu dieser Zeit schon wieder im Dienst stand, im Hause meiner Eltern war sie es nicht.

Ich sollte mich nicht um die Zukunft des Kindes absorgen, wiederholte sie immer. Ihr Glaube an sich und mich war unerschütterlich. So setzten wir alles glücklich durch. Ich erhielt die amtliche Bestätigung, daß ich vom 11. VIII. 1909 an mündig sei. Vally bat um Urlaub, wir fuhren nach Puschberg (meine Eltern waren dieses Jahr nach Franzensbad gefahren), und ich wurde in der alten Dorfkirche getraut. Mein Schwiegervater und meine neue Familie empfingen mich ohne besondere Gefühlsausbrüche, nur der alte Pfarrer hatte Tränen in den Augen. Das Aufgebot war bereits vor Monaten bestellt. Wir beichteten und erhielten die hl. Kommunion. Als Trauzeugen hatte ich den Lehrer und einen Großbauer des Dorfes, meine Frau ihren Vater und andere Familienmitglieder, unser Hochzeitsessen fand im Dorfwirtshaus statt. Unsere Villa besuchten wir nicht. Sie stand öde und verlassen da, das Gras war hoch über die Wege gewuchert ... Wir gingen schnell vorbei.

Gern hätte ich meinen alten Freund Perikles als Trauzeugen gehabt. Ich hatte ihm rechtzeitig geschrieben. Hatte er meinen Brief nicht erhalten, oder zürnte er mir, unberechenbar, wie er geworden war – er kam nicht. Trotzdem waren wir glücklich, und ich versuchte sogar, Vallys ›Manner‹ als meine eigene Familie anzusehen. Die Trauungsanzeige erschien in dem Lokalblatt der nächsten kleinen Stadt, und Vallys Familie zeigte diese Druckzeilen stolz umher, als wir uns am Bahnhofe eingefunden hatten zur Abreise.

In der kleinen Notiz war mein Vater als Ehrenbürger von Puschberg genannt, und seine Verdienste um die ›dankbare Gemeinde‹ waren aufgezählt, ich wurde als strebsamer, aussichtsreicher Mediziner bezeichnet. Vorläufig war ich jedoch nichts als ein sehr von Sorgen bedrückter Mensch von noch nicht zwanzig Jahren. Auch Vally hatte nicht die heiterste Miene. Um ihren Mund und um die schönen großen dunklen Augen sah ich schon die ersten braunen Flecken, wie sie meine Mutter immer gehabt hatte, wenn sie in der Hoffnung war. Wir erwarteten die Ankunft des Kindes für Ende Januar, Anfang Februar – und es war geplant, daß Vally im Lauf des Oktobers ihre Stellung aufgeben sollte. Bis dahin mußte die Entscheidung fallen, ob ich das Militärstipendium, unsere einzige Einnahmequelle, erhalten würde oder nicht. Ich hatte mich vor meiner Hochzeit der Militärkommission zur Untersuchung gestellt, man hatte mich als militärtauglich befunden. Ich konnte mein Einjährigenjahr wann immer abdienen, ich wollte es bis nach Erlangung meines Doktortitels verschieben. Während der Heimfahrt belustigte sich Vally damit, ihren neuen Namen überall hinzukritzeln, wo sie freien Platz fand, so auch auf die Rückseite unserer Fahrkarten. Ich lächelte sie mit aller Anstrengung froh an, ich wollte ihr meine Sorgen nicht zeigen. Auch sie wußte die ihren zu verbergen, sie wollte mit ihrer alten Tapferkeit aufrecht bleiben und sagte, sie dächte nicht daran, vor dem neuen Jahr ihre Dienstmädchenstellung aufzugeben, da sie zu diesem Termin den Anspruch auf ein größeres Geschenk habe.

Ich hatte mir fest vorgenommen, die Demütigung, die vielleicht (nur für mich) darin bestand, daß meine Frau nicht nur aus dem dienenden Stande gekommen war, sondern daß sie in diesem nach der Heirat verbleiben mußte, niemand merken zu lassen.

Ich erinnerte mich aber der höhnischen Worte meines Vaters, ich wolle Christus sein, mich aber nicht ans Kreuz schlagen lassen, als ich Vally am zweiten Tag nach unserer Ankunft – nach einer leidenschaftlichen Nacht – um halb sieben Uhr morgens mit ziemlicher Kraft aus dem Schlaf rütteln mußte, denn um sieben mußte sie bei ihrer Herrschaft angetreten sein. Sie erwachte schwer, als sie aber verstanden hatte, sprang sie auf, zog sich in aller Eile an und bereitete mir noch zum letztenmal das Frühstück.

Bei unserem wortkargen Abschied bat ich sie nochmals, sie möge der Herrschaft sagen, sie möge sich von Oktober, spätestens November an nach einem anderen Mädchen umsehen. Meine Frau verschloß mir mit vielen Küssen unter Tränen den Mund. ›Laß mich nur, laß mich! Bei uns ist das anders als bei den zimperlichen Stadtfrauen. Ich kann bis zum neuen Jahr schaffen, auch wohl noch den Februar.‹ ›Aber unser Kind?‹ ›Sorge dich nicht um das Kind, du hast es mir versprochen! Die Frauen bei uns gehen vom Feld nach Hause, legen sich hin, bekommen ihr Kind, und zwei Tage später sind sie wieder auf dem Kartoffelfeld und häufeln oder auf der Wiese und mähen ...‹ Was sollte ich tun? Ich küßte meine Frau und begleitete sie bis zur Station der elektrischen Straßenbahn, denn es war spät geworden, und zu Fuß hätte sie die Dienststelle nicht mehr rechtzeitig erreicht. Nachher kehrte ich nach Hause zurück, die Universitätsbibliothek wurde erst um halb neun Uhr geöffnet.

Als wir uns nach vierzehn Tagen zum erstenmal wiedersahen (meine Frau hatte ausdrücklich darum gebeten, ich möge ihr nie beim Einkaufen oder bei anderen Gängen zu begegnen versuchen, denn sie hatte dieses Versprechen ihrer sonst so menschlichen Herrschaft geben müssen), trafen wir uns in einem Kaffeehaus in ihrer Nähe. Sie sah etwas blaß aus, auch ich muß nicht mehr das gepflegte Aussehen gehabt haben, das ich in der Anstalt in A. oder bei meiner Familie hatte. Denn zum erstenmal in meinem Leben mußte ich mir, wenn ich essen wollte, überlegen, was es koste und ob ich solange essen dürfe, bis ich vollständig satt war. Ich lernte, daß es mancherlei Abstufungen von satt gibt. Heute hatte ich eine gute Nachricht für meine Frau. Ich war inskribiert, die Kolleggelder wurden mir gestundet, bis das eingereichte Gesuch um unentgeltliches Studium erledigt war und ich durch eine kleine Prüfung von meinen Fortschritten Zeugnis gegeben hatte – und vor allem war meine Militärangelegenheit bewilligt. Wir waren reich, wenigstens ich hielt mich dafür, ich hatte auf einhundertfünfzig österreichische Kronen im Monat zu rechnen. War das nicht Grund genug, daß meine Frau ihren Posten früher aufgeben sollte? Nein, sie wollte nicht. ›Damit habe ich schon lange gerechnet. Wir brauchen jeden Heller. Wir müssen Wäsche für das Kind kaufen, und wenn man dir das Kolleggeld schenkt, die Entbindungskosten bei uns daheim schenkt mir niemand. Der Gemeinde meiner Leute dürfen wir nicht zur Last fallen.‹ Ihre Ehrenhaftigkeit rührte mich mehr, als ich sagen konnte. Vally hatte nie gelogen. Wir lebten jetzt ruhiger miteinander. Meine Liebe hatte sich aber nur gesteigert, und ich begann glücklich zu sein bei dem Gedanken, sie unter so vielen anderen gefunden zu haben. Sie wollte keine Lobsprüche hören. ›Traue keiner Frau!‹ sagte sie scherzend, ›alles Mistviecher!‹ Ich versuchte zu lächeln, aber ich dachte an meine Mutter, an meine Schwester, ich konnte nichts antworten. Sie merkte ihre Ungeschicklichkeit, und wir begannen, über die illustrierten Blätter in unserer Kaffeehausecke gebeugt, zu lesen und die Bilder anzusehen, wobei sie mich nach allem möglichen ausfragte, um sich zu bilden. In den Kaffeehäusern gab es auch medizinische Zeitschriften. Ich ließ sie mir jetzt kommen, und wenn ich auch das meiste noch nicht verstand, fesselte es mich doch. Ich schob meiner Frau Modezeichnungen zu, die in einem eleganten Journal standen, aber sie wollte mit mir lesen. Mein Blick fiel sofort auf einen Aufsatz über die syphilitischen Augenkrankheiten. Ich strahlte, mein Herz schlug. Ich dachte an das erstemal, wo ich als zwölfjähriger Junge in dem Buche über Augenkrankheiten den Namen meines Vaters gedruckt gelesen hatte. Nun durchflog ich den Aufsatz von einem Ende zum anderen. Vally lächelte, sie verstand mich, hatte ich ihr doch alles erzählt, wir hatten keine Geheimnisse voreinander.

Aber der Name meines Vaters kam nicht vor. Von dem Nachweis der Spirochäten im syphilitisch erkrankten Auge war zwar die Rede, es waren auch Forscher genannt, aber einer mit einem französischen, einer mit englischem Namen und dann ›und andere‹. Ich bedauerte meinen Vater, daß er mit seiner wichtigen Erfindung zu spät gekommen sei. ›Zu spät gekommen?‹ fragte Vally, und ihre Augen blitzten, ›sicherlich ist es nicht wahr! Er soll eine arme Doktorin in der Klinik haben, die er schuften läßt. Er sagt dann, es sei von ihm!‹ ›Vally!‹ sagte ich und schob das Blatt heftig weg. Vally schüttelte den Kopf über sich, sie bereute, daß sie ihr Versprechen gebrochen hatte. Später erst habe ich verstanden, weshalb sie sich so gefreut hatte, meinen Vater auf einer Unwahrheit zu ertappen. Sie wußte, daß ich ihn immer noch aus tiefstem Herzen liebte, und daß ich darunter litt, daß ihm ein wissenschaftlicher Erfolg entgangen war, den er verdiente. Wer denn sonst, wenn nicht er?

Abends begleitete ich meine Frau nach Hause, das heißt zu ihrer neuen Herrschaft, und auf dem Heimweg konnte ich es mir nicht versagen, an unserem Hause vorbeizugehen, wiederzukommen, nach den erleuchteten Fenstern hinaufzusehen und mir Gedanken zu machen. Aber ich beherrschte mich. Ich konnte dort nicht eindringen, ich mußte warten, bis mich meine Eltern riefen, und ich war im Grunde meines Herzens überzeugt, daß sie es bald tun würden.

Inzwischen verlegte ich mich mit meiner ganzen, noch ungebrochenen Kraft auf das Studium. Ich will nicht sagen, daß ich mich für besonders begabt halte oder hielt, aber eine Arbeitszeit von vierzehn Stunden, folgerichtig durchgesetzt, mußte Erfolg haben. Das, was den meisten im Anfang so schwer fiel, die langweilige normale Anatomie mit den zahllosen Bezeichnungen für das winzigste Fäserchen oder Knöchelein, war mir leicht geworden, weil ich von meinem Vater her wußte, wie selbst das unscheinbarste Häutchen oder Nervchen oder Blutgefäßchen die höchste Wichtigkeit erlangen konnte, ja erlangen mußte in den ebenso unzählbaren, sonst unbegreiflichen Krankheiten. Ich studierte außerdem, dem Lehrplan entsprechend, Botanik, Chemie, Physiologie, alles, was den gesunden Körper und sein normales Funktionieren betrifft.

Aber im tiefsten Winkel meines Herzens freute ich mich auf eine andere Zeit: nämlich die, wo mir die nicht sichtbaren Krankheiten aufgehen würden – dann kam die zweite, erhöhte Stufe der Einsicht in das menschlichste aller Gebilde, die Seele und den Geist, besonders in deren Erkrankung, in ihre Leiden und den Heilungsprozeß. Ich zwang mich dazu, mich streng an den Lehrplan zu halten. Manchmal fiel mir freilich dieser Verzicht auf das, was mich am stärksten anziehen mußte, schwerer als der Verzicht auf ein warmes Essen, das ich mir nicht täglich gönnen konnte. Aber ich war jung.

Ich mußte auch ertragen, daß ich meine Mutter und meine Geschwister nur durch Zufall sah. Einmal traf ich sie, als ich von einer medizinischen Studienanstalt zur Bibliothek eilte, die mir die teuren Unterrichtsbücher ersetzen mußte. Ich sah sie, sie sahen mich nicht.

Meine Mutter sah schön und gesund, aber fremd und etwas zu reich und hochmütig aus, Judith ging an der Hand eines neuen Kinderfräuleins, entzückend anzusehn in einem weißen Pelzchen aus Kaninchenfell, über dessen Kragen ihre brandroten Locken in reicher Fülle hinabfielen. Nur viel zu schnell verschwanden sie im Winternebel.

Ich mußte stehen bleiben, so klopfte mir das Herz. Zufällig war eine Kirche in der Nähe, ich trat in den eiskalten, todesstillen Raum, kniete nieder und verrichtete meine Andacht, dann stand ich auf. Auch hier gab es, wenn auch nur in geringer Anzahl, Exvototafeln. Ich dachte an das Exvoto, das ich in der Gnadenkapelle von A. hinter die Marmorplatte gesteckt hatte, als die mißverständlichen Worte Vallys mich in Sorge gestürzt hatten, in dem Briefe, in dem von der baldigen ›Erlösung‹ meiner Mutter die Rede war. Schütze meine Mutter! hatte ich damals geschrieben. Schon tastete ich jetzt nach meinem Collegienheft, um einen Zettel herauszureißen und ›schütze meine Frau und mein Kind‹ daraufzuschreiben, aber ich hatte mich inzwischen verändert, und was mir noch vor fünf oder sechs Jahren als Glaube erschienen war, kam mir heute als Aberglaube vor. So bekreuzigte ich mich nur, besprengte mich mit Weihwassertropfen, die fast gefroren waren, und eilte, um die verlorene Zeit einzuholen, im Laufschritt nach der Universitätsbibliothek, die abends schon um acht Uhr schloß. Ich fühlte mich als vielgeplagten, aber glücklichen Menschen.

Zu Weihnachten kamen viele Geschenke. Nicht nur, daß Vally von ihrer Herrschaft reich beschenkt worden war, so hatte auch meine Familie sich zum erstenmal unser erinnert. Außer vielen Leckerbissen (vielleicht waren es überflüssige Geschenke der Patienten an meinen Vater, die stets zu Festzeiten überreichlich einliefen) kam auch eine schöne, wenig gebrauchte Nähmaschine für meine Frau und ein alter Kinderwagen – noch ohne Gummiüberzug an den Rädern, der aber vollständig gut erhalten war. Er hatte mir gedient. Für Judith hatte man einen anderen gekauft, in dem jetzt schon der kleine Viktor umhergefahren wurde.

Die Entbindung meiner lieben Frau sollte in einer kleinen Stadt in der Nähe von Puschberg stattfinden, und das Kind sollte die erste Zeit bei meinen Schwiegereltern leben – alles nach unserem alten Plan in jener Nacht in Vallys Kammer. Jetzt konnten wir meinen Eltern danken für ihre Liebe, wir taten es zuerst schriftlich und dann auch telephonisch. Mein Vater war nicht überrascht, als er meine Stimme hörte, dann schickte er meine Mutter an den Apparat, und wir besprachen alle für den zweiten Weihnachtsfeiertag ein Wiedersehen und trafen uns in einem Kaffeehaus, dem gleichen, das ich und Vally stets besuchten. Zu spät fiel uns ein, daß meine Eltern, wenn sie im Wagen dort vorfuhren, Aufsehen erregen würden. Aber es kam bloß meine Mutter, und zu Fuß. Mein Vater mußte, wie sie sagte, zu einer Operation. Ich sah Vally an: zweiter Weihnachtsfeiertag und eine Operation? Vally lächelte, wurde aber plötzlich blutrot und senkte die Augen. Meine Mutter war sehr elegant gekleidet, hatte einige ganz neue Ringe, andere Schmuckstücke waren nur neu gefaßt – das war eben eine Schwäche meiner Mutter, und ich war so froh, wenn sie mich immer wieder an sich drückte und tat, als wäre ich noch ein Junge von zehn Jahren. Sie fand mich gewachsen und ›prachtvoll blühend‹ aussehend, dabei hatte ich in der letzten Zeit Mühe, meine Sockenhalter und Socken in die richtige Verbindung zu bringen, denn ich war derart abgemagert, daß die Halter an meinen spindeldürren Beinen nicht halten wollten. Immerhin war es besser, als wenn mich allzuviel Fett belästigt hätte, und das wollte wohl meine Mutter dadurch ausdrücken, daß sie mein Aussehen so lobte. Wir blieben nur kurze Zeit zusammen, denn ich sah wohl, daß meine Zärtlichkeit für meine Mutter nicht Vallys Beifall hatte, und daß andererseits meine Mutter ihre Abneigung gegen die frühere Dienstperson noch nicht ganz unterdrücken konnte. So traf es sich gerade recht, daß meine Mutter mich fragte, wie spät es sei. Soviel Ringe, Ketten und Broschen und Nadeln sie hatte, aus Uhren machte sie sich nichts, denn man sah sie nicht wie den anderen Schmuck. Ich besaß leider keine Uhr mehr. Aber das Kaffeehaus hatte eine, und da die Frage nach der Zeit mehr eine Verlegenheitsphrase gewesen war, schüttelten wir uns schnell die Hand und trennten uns.

Ich war recht glücklich trotzdem. Ich hatte meine Mutter wiedergesehen. Meine Frau trottete etwas schwerfällig neben mir her. ›In vier Wochen bist du – erlöst‹, scherzte ich, aber sie warf mir einen finsteren Blick zu, biß die Zähne zusammen und schwieg. Ich deutete es als Nachwehen der Begegnung mit meiner Mutter. ›Am Sonntag reisen wir, Silvester sind wir bei den ›Mannern‹, bei euch. Zum Glück ist bis jetzt alles gut gegangen. Vielleicht gibt uns der Vater die Erlaubnis, daß du die Villa bewohnst.‹ ›Eiskalt! Modrig! Dort will ich nicht einmal sterben‹, sagte sie böse. Ich schwieg und wickelte sie fester in ihren etwas dünnen Mantel ein. Sie hätte längst einen neuen gebraucht. – Ich konnte verstehen, daß sie an dieses Landhaus, in welchem sie infolge meiner Kälte so viel gelitten hatte, keine besonders gute Erinnerung hatte, während ich doch dort fast immer nur gute Tage erlebt hatte.


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