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5

Ich saß wieder in der linken Ecke des Wagens, mein Vater in der rechten, so, wie wir gekommen waren. Es war nun ganz dunkel draußen. Wir froren beide und rückten mit den Knien etwas zusammen. Vor uns, den Rücken von Schneeflocken bestreut, die im Licht der Wagenlaternen hell schimmerten, saß der Kutscher, von Zeit zu Zeit setzte er sich auf und schob die zwei Pferdedecken, die er um die Beine gewickelt hatte, unter seinem Sitz zusammen, um sich vor dem Frost zu schützen. Sobald er die Zügel etwas locker ließ, begannen die Pferde zu schießen. Sie wollten heim, sie wußten, daß es in den Stall ging. ›Nicht treiben, Franz!‹ rief mein Vater.

Ich war noch in einer Art Rausch. Mich sollten die Unheilbaren nicht abstoßen. Sie lockten mich. Ich hatte einen starken Willen in mir. Ich glaubte, ich könne es mit aller Welt aufnehmen. Jetzt wollte ich meinem Vater vor allem meine bedrängte Lage in der Schule bekennen und so mein Gewissen erleichtern. Ich gab mir Zeit bis zu dem Dorf, das wir bald erreichen mußten. Jetzt kamen wir durch. Es lag ganz verlassen da. Mein Vater merkte, daß ich etwas sagen wollte. Er kam mir zuvor. ›Es ist besser‹, sagte er, ›wenn wir die Plätze tauschen. Auf dem Hinweg sind wir schon so gesessen wie jetzt. Ich bin etwas schwerer als du‹ – trotz der Dunkelheit sah ich, wie bei seinem Lächeln sich die weißen Zahnreihen unter dem dichten Barte zeigten, der jetzt ganz schwarz schien –, ›ich bin viel schwerer als du, dadurch liegt der Wagen schief, die Federn leiden, das rechte Rad nützt sich ab, der kostbare Gummibelag, natürlich. Ist es dir recht?‹

Bevor wir wieder richtig dasaßen, kamen schon die ersten Laternen der Straßen der Stadt an den Fenstern des Wagens vorbei. Wir hatten aber noch eine Viertelstunde zu fahren, vielleicht sogar länger, denn es schien, daß der Kutscher absichtlich die Pferde zurückhielt. Er fuhr aus Trotz zu langsam. Mein Vater sah ungeduldig nach der Uhr, aber er beherrschte sich, er trieb den Kutscher nicht zur Eile an, obwohl er, müde nach seinem Arbeitstage und nüchtern seit Mittag, sich heimsehnen mußte, mehr als ich.

Seitdem ich mich an seine Stelle im Wagen gesetzt hatte, war meine Freude und mein Wagemut noch stärker geworden. Deshalb änderte ich meinen Entschluß. Wozu ihm mein Unglück gestehen, bevor es endgültig war?

Für den nächsten Tag – den nächsten Schultag, also Montag war eine wichtige Arbeit in zwei Hauptfächern, Latein und Mathematik, angesetzt. Wenn ich sie besonders gut bestand, konnte sie meine weniger guten, früheren Leistungen ausgleichen. Jetzt hoffte ich aus ganzem Herzen. Ich schwieg.

An Hoffnung hat es mir eigentlich nie ganz gefehlt.

Ich hatte geglaubt, mein Vater würde am nächsten Tage noch einmal in die ›geschlossene Anstalt‹ fahren. Aber es war nicht der Fall. Es kamen drei oder vier Professorenfamilien zu Besuch, die ›hohe Fakultät‹, wie er es ironisch meiner Mutter gegenüber nannte und die meist in den unteren Räumen empfangen wurde. Ich wurde nur auf einen Augenblick hinuntergerufen und konnte die Gesellschaft bald verlassen.

Ich tröstete mich damit, daß ich mich noch gründlicher als sonst auf die zwei Hauptarbeiten vorbereitete, und kam montags siegesgewiß in die Schule. Mein Freund war in eine Streiterei verwickelt, er hatte ›auf großes Ehrenwort‹ von einem reichen Knaben – er haßte und beneidete damals die reichen Kinder– zwei Kronen geliehen und konnte oder wollte sie heute, am Verfallstag, nicht zurückzahlen. Ich, mit meinen ganzen Gedanken schon bei der wichtigen Schularbeit, überlegte nicht lange und gab ihm, ohne daß er ausdrücklich darum gebeten hatte, das Geld. Die anderen Jungen sahen es mit scheelen Augen an. Vielleicht weideten sie sich zu gern an der Verlegenheit meines Freundes. Ich bemerkte, daß sie auch über mich tuschelten, daß sie meinen ›Durchfall‹ voraussahen. Mein Jähzorn wallte auf. Aber ich mußte mich beherrschen. Zwar hing kein verlorenes Schuljahr von dem Semesterzeugnis ab, denn man hatte jedenfalls noch die Sommermonate vor sich, um im zweiten Semester alles wiedergutzumachen, aber ich fürchtete vor allem, daß mein Vater von den Unterschriftsfälschungen erfahren würde, und meine Mutter hatte mir noch heute morgen ans Herz gelegt, mir nur ja alle Mühe zu geben.

Bei solchen Gelegenheiten sprach sie viel, lachte und seufzte zugleich, während mein Vater mit seinen einsilbigen Reden viel stärker wirkte. War es doch mein Vater, auf den ich so stolz war. Man hatte mich in der Klasse ganz gern, ich sollte es später merken – aber mein Stolz war der Klasse verhaßt, und auch jetzt tat man alles, um mich zu drücken. Der beste Schüler der Klasse hatte das Recht, die Hefte für die Schularbeit zu verteilen. Er ging durch die Bankreihen und verteilte die Hefte, die alphabetisch geordnet waren. Einige Hefte konnten nicht verteilt werden, weil die Schüler krank waren. Aber auch mein Heft behielt er zurück. Ich war in meinen Gedanken bereits beim Thema, das eben auf der Schultafel mit Kreide aufgeschrieben wurde, und erst dann, als schon die Federn kritzelten, merkte ich, daß der Vorzugsschüler – dies sein Titel – mein Heft wieder auf das Katheder zurückgetragen hatte.

Ich wußte, es war Absicht – ich kochte vor Wut, stand auf, ohne zu fragen, und ging mit laut klappenden Schritten zum Katheder und holte mir mein Heft.

Mein Zorn muß mir bei der Arbeit besondere Kräfte gegeben haben. Was mir bis jetzt nie gelungen war, sollte mir jetzt gelingen. Ich war als der erste fertig mit meiner Arbeit und gab sie lächelnd ab, und es sollte sich später zeigen, daß sie mit nur zwei anderen Arbeiten zusammen vollkommen fehlerfrei war. Aber mein Glück war dies nicht.

Während ich müßig dasaß und schon meine Gedanken auf die nächste Stunde, die Mathematikstunde, zusammenfaßte, kam mir plötzlich in Erinnerung, daß ich gestern mit meinem Vater nicht nach der Anstalt gefahren war, daß ich also nie das Goldstück wiederfinden würde, das dort im Schnee niedergefallen war. Heute hatte es getaut. Und das wichtigste, ich hatte den Betrag auch in Silberkronen nicht mehr vollzählig, um das Goldstück zu ersetzen für den Fall, daß mein Vater Rechenschaft von mir verlangte. Rechenschaft war etwas, das er immer lobte. Während ich diesen Gedanken nachhing und sich mir das Herz mit einer drängenden, schmerzhaften Schwere anfüllte, flog mir schon das Mathematikheft auf die Pulttafel. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß die Lateinstunde beendet war und der Lateinprofessor seinen Platz dem Mathematikprofessor eingeräumt hatte. Auch die Mathematikaufgaben wurden an der Tafel aufgeschrieben.

Ich setzte mich ordentlich hin, versuchte die erste Aufgabe klar zu begreifen und rechnete. Als ich mit der Aufgabe fast zu Ende war, sah ich, daß sie ein vollständig unsinniges Resultat gab. Ich fing noch einmal an. Aber ich konnte nichts besseres finden. Ich war zwar noch nicht am Ende, sah aber, daß der gleiche Unsinn herauskäme. Ich nahm also die zweite Aufgabe her, die ich sehr langsam löste, so, daß ich knapp mit ihr fertig war, als die besten Mathematiker schon ihr Heft stolz zuschlugen und sich überlegen lächelnd im Kreise umsahen, genau so, wie ich es bei der lateinischen Aufgabe gemacht hatte.

Jetzt hatte ich die Wahl, die erste Aufgabe nochmals zu versuchen oder die dritte vorzunehmen. Ich fing zum drittenmal mit der ersten Aufgabe an. Während ich aber noch rechnete, überflog es mich in meiner fieberhaften Unruhe heiß und kalt, ich hörte eine Uhr dreiviertel schlagen, mich überkam ein drängendes, furchtbar aufregendes Gefühl, mit Mühe faßte ich mich ... Ich ließ die Aufgabe sein, tief atmend lehnte ich mich zurück, die Stirn von kaltem Schweiß bedeckt. Ich konnte die erste Aufgabe nicht lösen. Es war immer die gleiche unsinnige Ergebniszahl, ich sah es, es lohnte nicht, sie zu Ende zu bringen, ich strich alle die Versuche durch. Die dritte Aufgabe war zwar schwierig, überschritt aber scheinbar meine Kräfte nicht. Ich brachte sie mit knapper Not zu Ende. Als wir in der Zehnuhrpause die Resultate verglichen, stellte sich heraus, daß sowohl die zweite als die dritte Aufgabe von mir falsch gelöst waren, die erste aber, an deren Resultat ich nicht hatte glauben wollen in meiner wahnsinnigen Ungeduld, war richtig gewesen.

Ich kam verzweifelt zu Hause an. Meine Mutter verstand mich nicht. Ich deutete etwas von den Unterschriften an. Sie begann zu weinen. Sie beschwor mich, die Sache wiedergutzumachen. Als ob dies von mir abhinge! Aber es war noch nicht alle Aussicht verloren. Die lateinische Aufgabe war gut, das wußte ich. Wenn der Mathematiker ein Einsehen hatte, konnte noch alles gut enden.

Ich dachte aber schweren Herzens auch an das Geld, das mir fehlte. Diese zwei Kronen von Perikles zurückzuverlangen, wäre gegen die Ehre gewesen. Meine Mutter? Sie war böse und schlug mir mit den Stricknadeln, die sie gerade in der Hand hatte, auf den Kopf. ›Schon wieder Geld? Sieh doch erst zu, daß du durchkommst in der Schule.‹ Sie verstand nicht, was es für mich bedeutete. Ich erzählte ihr alles. ›Dein Freund muß dir eben das Geld zurückgeben.‹ Ich schwieg. ›Aber du bist ja auch zu unvernünftig‹ sagte sie, ›deshalb pussel ich dich doch ab.‹

Ich wandte mich ab. Sie küßte mich warm. Ich hätte lieber geweint.

Mein Unglück häufte sich. Sollte mir die Medaille, die ich von dem Jungen in der Anstalt erhalten hatte, kein Glück bringen? Sollte es meinem Willen unmöglich sein, den Vater Fatum, wie wir es nannten, zu beugen? Meine Lateinarbeit war für einen schlechten Schüler zu fehlerfrei gewesen. Man traute sie mir nicht zu. Obwohl ich mir niemals Schwindeleien zuschulden kommen ließ – über das allgemein übliche Maß hinaus, meine ich –, ließ mich der Professor kommen, mich und noch einige Knaben, deren Arbeiten zwischen genügend und ungenügend gewesen waren, und in einem Übermaß der Gerechtigkeit schlug er uns vor, nach der Schule dazubleiben und eine Extraarbeit zu machen, die entscheidend sein sollte. Wir sagten alle ja, ich sehr schweren Herzens. Mit Recht. Meine neue Arbeit war noch schlechter als die der anderen. Mein böser Wille schien offenbar, und die Professorenkonferenz beschloß, mir eine Lehre zu geben und mich durchfallen zu lassen. Ich wußte es und wollte es doch nicht glauben.

Um jeden Schüler, dem ein solches Schicksal drohte, bildete sich eine Art ehrfürchtiger oder mitleidsvoller Kreis. Man achtet das Unglück im voraus. Jetzt merkte ich, daß das Unglück nicht mehr zu vermeiden war. Hätte ich wenigstens das Geld vollzählig gehabt!

Ja, hätte ich es vollzählig gehabt, so wäre ich dabei doch durchgefallen und hätte meinem berühmten Vater Schande gemacht. Schande? Vielleicht aber auch Ehre. Ich war so verzweifelt oder in einer so aufgewühlten Stimmung seit dem Besuche in der geschlossenen Anstalt, von dem ich träumte und der mich viel tiefer aufgerührt hatte als die Begegnung mit den ›Pilgerim‹, und vor allem von dem aufrührenden, herrlich schrecklichen Erlebnis in der Mathematikstunde –, daß ich etwas tat, was ich selbst später nicht mehr begriff.

Vor allem hörte ich mit dem Arbeiten für die Schule ganz auf. Ich holte mir einen ganzen Arm von Büchern aus der Bibliothek meines Vaters – es kann ihm unmöglich verborgen geblieben sein und hockte bis spät in die Nacht über diesen Büchern und Atlanten, bis ich endlich in dem Wust die Bücher über Geisteskrankheiten gefunden hatte. Ich hatte gar nicht gewußt, wie die Krankheiten hießen, die in ›geschlossenen Anstalten‹ behandelt wurden. Ein solches Buch konnte ich als halbwüchsiger Junge nicht verstehen, ebensowenig wie die Bücher über Augenheilkunde.

Aber ich konnte die Abbildungen begreifen, die Bilder der Irren, ihre Augen zum Beispiel, und sie machten mir – in Verbindung mit meinen entfesselten körperlichen Leidenschaften – den unauslöschlichsten Eindruck, und zwar war alles dabei, Schaudern, vollkommenes, schauerlich süßes Verlassensein von Kraft und Wille, und gleich darauf ein Willensaufschwung voll Freude und Unbekümmertheit, wie er meiner blühenden Gesundheit und meinen jungen Jahren entsprach. – Mich würden die Unheilbaren, deren wunderbare, schauerliche Gesichter und Gestalten ich schwarz auf weiß vor mir sah, nicht abstoßen wie meinen Vater, denn in meinem Größenwahn war ich überzeugt, daß ich die Medizin – oder besser die Operation – finden würde, sie zu heilen.

Das Bild des Jungen mit grauen Haaren (war es überhaupt ein Mensch in meinem Alter gewesen?) kam mir nicht von der Seele. Ich schleppte immer mehr Bücher herbei, ich legte sie unter mein Kopfkissen statt des Portemonnaies, um gleich morgens etwas lesen zu können. Ich schrieb nichts mehr ab. Ich konnte manche Absätze auswendig, ohne Mühe, aber auch ohne Verständnis mit der ganzen Wildheit des Rausches und in seiner ziellosen Kraft, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Es hatte seinen Grund, weshalb meine Börse mir nicht mehr am Herzen lag oder in einem ganz anderen Sinne als bisher. Ich habe später nie ganz verstanden, was mich damals getrieben hat, dennoch muß es aus meinem innersten Wesen gekommen sein. Statt den mir von meinem Vater zu treuen Händen anvertrauten Betrag zu ersetzen, was mir ein leichtes gewesen wäre, setzte ich alles daran, ihn bis zum letzten Rest zu verschwenden. Und ich war noch stolz darauf und berauschte mich an der Vergeudung.

Mein Freund kam an einem dieser Tage nach der Schule zu mir. Er hatte die zwei Kronen aufgebracht. Er wollte sie mir in die Hand drücken. Es regnete. Er war klein, ich war groß. Ich hatte eine Lodenpelerine, ich hängte mich in seinen Arm ein, legte die Lodenpelerine um uns beide, und jetzt gingen wir los. Ich glaube nicht, daß wir viel gesprochen haben. Sicherlich nichts von unseren Zukunftsplänen und nichts von der Schule, die damals uns beiden verhaßt war. Wir sollten dann auch die einzigen sein, die in diesem Wintersemester durchfielen. Das Geld nahm ich nicht.

Ich weiß nicht, ob er die Wahrheit sagte. Ich log. Ich erzählte, ich hätte eine große Erbschaft von meinem Vater gemacht, dann besann ich mich und sagte, ich meine natürlich den Großvater väterlicherseits. Ich hätte in einer Kiste von Kleidern und Büchern wichtige Rezepte zur Heilung von Geisteskranken, von ›Verrückten‹ gefunden und dann am Grunde des Koffers ein Stahlkästchen mit Goldstücken, lauter Zehnkronenstücken. Auf sein Erstaunen – ich merkte, wie er sich aufrichtete, denn wir trugen ja beide die Pelerine – blieb ich stehen, hängte ihm allein den Wetterkragen über, kramte in meinen Taschen, tat, als hätte ich die Goldstücke vergessen, weidete mich an seinem überlegenen Lächeln und zum Schluß, als wir beide wieder unter dem Wetterdach der Pelerine weitergingen, mit Absicht in die Regenlachen platschend, sagte ich beiläufig, ›ach nein, ich habe doch zufällig ein paar mitgenommen, so eine kleine Handvoll.‹ Er starrte mich entgeistert an. ›Echt!‹ sagte ich und prüfte ein Goldstück zwischen den Zähnen, wie ich es bei dem Irren gesehen hatte. ›Ich werde euch übrigens ein Fest geben‹, sagte ich. ›Wir, du und ich, werden ein paar Jungen einladen. Was kaufen wir wohl am besten?‹ Wir einigten uns auf Seidenkissenbonbons, die in großen gläsernen Gefäßen verkauft wurden, auf süßsaure Gurken, als meine Leibspeisen, und auf türkische Zigaretten – er hatte jetzt ›gelernt‹ zu rauchen – und als Getränk nach Belieben Madeira, den ich von zu Hause kannte, aber nie getrunken hatte, und Kümmelschnaps, von dem er durch seinen Vater Rühmliches gehört hatte.

Am gleichen Abend machten wir in Eile die Einkäufe und schleppten sie im Schutz der Pelerine in seine Wohnung. Das Fest sollte natürlich bei ihm stattfinden, und er sollte auch als der Gastgeber gelten. Er strahlte vor Stolz, strahlte mich mit seinen Schielaugen – die ich aber jetzt schön fand – an und versprach, sich um alles zu kümmern. Vor allem sollten alle Durchfallenden eingeladen werden. Wir hatten nicht daran gedacht, daß wir die einzigen sein würden. Aber es sollte auch der Vorzugsschüler nicht vergessen werden, was wir beide ›radikal komisch‹ fanden. ›Und was wünschst du dir?‹ fragte ich. Denn in meiner Verzweiflung – das war doch das herrschende Gefühl bei allem Übermut und trotz meinem lauten Gelächter – wollte ich ihm und meinem Vater von dem letzten Rest des Geldes ›bleibende‹ Geschenke machen. Er lehnte ab. Aber ich hatte in früheren Gesprächen gehört, daß er sich für Philosophie interessierte, ich ging mit ihm zu einer Buchhandlung, ließ ihn draußen warten und fragte stolz, welches das teuerste Buch über Philosophie sei. Man sah mich erstaunt an, brachte ein Buch, gebraucht, das daher verhältnismäßig billig war.

Ich fühlte mich sehr müde werden. Ich ließ es einpacken und trug es ihm an. Er nahm es ohne Freude. Auch er war kleinlaut geworden.

Die Zeugnisverteilung war auf das Ende der Woche angesetzt, und heute war Mittwoch. Ich ging zu unserem Haus zurück.

Am nächsten Tage wurden die Einladungen ausgeteilt, wir hatten die schlechtesten Schüler berücksichtigt neben den besten. Wer durchfallen sollte, stand noch nicht fest.

Irgend etwas sagte mir, ich sollte nicht warten, bis die Zeugnisse verteilt waren. Es blieben mir immer noch vier Goldstücke und etwas Silbergeld. Der Geburtstag meines Vaters stand bald bevor.

Ich ging in das vornehmste Modewarengeschäft und verlangte Krawatten für Herren, beste Qualität. Der Verkäufer erkannte sofort, daß ich nichts von der Ware verstand, und bot mir einen ›Satz‹ echt englischer Krawatten an, die, statt wie die gewöhnlichen Krawatten drei, reichlich vier Ellen Seide in sich hatten. Ein Satz waren sechs Stück, immer das gleiche Muster, aber in verschiedenen Farben, eine greller als die andere, wahrscheinlich waren sie unverkäuflich, zu auffallend, zu teuer. Hier gab ich die letzten Goldstücke aus.

Ich versteckte die Krawatten daheim neben dem Lehrbuch der Geisteskrankheiten in meinem besten Versteck, nämlich in dem Ofen, der zu dieser Zeit nicht mehr geheizt wurde, da mein Vater stets mit Kohlen sparte und über jeden Kübel Kohle Buch führte.

Am nächsten Tage fand das Fest statt. Die Stimmung wurde bald trübe. Den meisten wurde schlecht von den Zigaretten und dem Madeira. Einige nahmen Bonbons und sogar auch Gurken nach Hause mit.

In der Nacht vor der Zeugnisverteilung schlief ich tief. Mein Vater ahnte nichts. Meine Mutter hatte mir endgültig angeboten, die zwei Kronen zu schenken, die mir gefehlt hatten. Was sollte ich tun? Nun hatte ich, den Blick abwendend, dafür gedankt. ›Und wie ist es mit der Schule? Kommst du durch?‹ ›Mach dir keine Sorgen!‹ sagte ich.

Die Sache ging schneller und fürchterlicher vor sich, als ich gefürchtet hatte. Mein Zeugnis wies nicht ein, sondern drei Ungenügend auf. Ob man sehr gerecht vorgegangen war, weiß ich nicht. Auf die dritte schlechte Note hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht war es eine Strafe. Mein Vater empfing mich wie zum Hohn sehr freundlich. ›Nun, zeig das Zeugnis her, es wird nicht so schlimm sein.‹ Als er aber die Rubriken durchflogen hatte – er konnte mit einem einzigen Blick alles erfassen –, wurde er blaß und biß sich in die Lippen. Ich wartete zitternd auf ein Wort des Zornes, auf einen Schlag. Nichts kam. Er sah mich an, und ich konnte mir jetzt vorstellen, wie er die Pilgerim ansah und wie er die Unheilbaren ansah und wie er sagen konnte ›als ob man sie alle heilen müßte!‹ und ›die Unheilbaren stoßen mich ab‹. Aber ich war sein Sohn. So schwieg auch ich. Es war im Wartezimmer, bei der stehengebliebenen Uhr. Er öffnete vorsichtig die Tür des Uhrkastens und setzte das Pendel in Bewegung. Dann ließ er die Zeiger nachkommen. Es war dreiviertel elf. Die Uhr hatte auf punkt Sechs gestanden. Sie schlug alle halben und vollen Stunden. Nun ließ er die Zeiger nur soweit vorrücken, bis die Uhr geschlagen hatte. Es war dies notwendig, wenn man das Werk nicht in Unordnung bringen wollte. Ich verstand ihn.

Als er bei elf Uhr angelangt war, pochte er an die Tür, hinter der unser Lukas wartete. Dieser kam sofort herein, verschlafen und nach Alkohol riechend, das Gesicht aufgeschwemmt, die Augen glitzernd. Aber wie immer er war, wie gern wäre ich an seiner Stelle gewesen! ›Lieber Lukas!‹ sagte mein Vater. Wie gern hätte ich mich mit Lieber anreden lassen. Aber zu mir nichts. ›Rufen Sie meine Frau!‹ Meine Mutter kam. Sie wußte von nichts. Sie war rot, und ihre aufgerissenen Augen verschlangen mich, und ihre Hände zitterten. ›Beruhige dich‹, sagte mein Vater mit einer Zärtlichkeit, die er schon lange nicht mehr ihr gegenüber gehabt hatte, ›ich störe dich doch nicht?‹ Meine Mutter schüttelte den Kopf. ›Hier!‹ sagte mein Vater und gab ihr das Zeugnis. ›Soll er hinausgehen?‹ fragte meine Mutter, die dabei Lukas im Auge hatte, der sich an dem Schauspiel weidete. Mein Vater verstand nicht recht. ›Nein‹, sagte er, ›wenn du gestattest, möchte ich, daß er (ich) dableibt.‹ ›Wie du willst‹, flüsterte meine Mutter und setzte sich. Die aus rot in himmelblau changierenden Falten ihres Seidenkleides raschelten, als sie sich in einem Plüschfauteuil zusammenkauerte. Sie war recht blaß.

›Frierst du?‹ fragte mein Vater mit ungewöhnlich tiefer, zarter Stimme, ganz anders als sonst. ›Nein, nein‹, sagte meine Mutter, gab sich einen Ruck und setzte sich auf. Im Wartezimmer brannte ein helles Feuer im Ofen. Es war über Nacht wieder kalt geworden. Wenn aber oben bei mir auch Feuer angezündet wurde, war ich verloren. Aber im Wartezimmer mußte es mit Rücksicht auf die wartenden Patienten immer ganz besonders warm sein. Es war nicht unbedingt sicher, daß man in dem Kinderzimmer heizen würde. Jetzt hatte ich mich schon mit dem Unglück des Schulzeugnisses abgefunden und betete zu Gott – an den ich aus tiefstem Herzen glaubte, obwohl kein Wunder geschehen war, ja sogar, weil kein Wunder geschehen war, denn ich verdiente es nicht –, ich betete zu Jesus Christus, meinem Erlöser, und zu seiner makellosen Mutter, daß in meinem Zimmer nicht geheizt würde und uns wenigstens dies erspart bliebe. ›Wir‹ sage ich ausdrücklich. Denn ich empfand uns alle, meinen Vater, der aufrecht hinter der Lehne des Fauteuils stand und der meine Mutter mit seinen Haupthaaren leise streifte – meine Mutter in ihrem starren Seidenkleide, das inzwischen nach rot changiert hatte –, und mich, der in die Ecke gequetscht, aber doch aufrecht dastand, als eine Einheit, als unser ›Haus‹, als die Familie, die eben eines ist und allen wohl tut, mag kommen, was will.

Meine Mutter wollte das Zeugnis gar nicht lesen. Ich wußte warum. ›Ist es sehr schlecht‹, fragte sie zögernd, meinen Vater von unten ansehend. Sie schämte sich, sie wurde langsam rot, rot wie das Seidenkleid. Sie fächelte sich mit dem Zeugnis, sie versuchte zu lächeln.

Mein Vater dachte, der Diener, der sein Diener war und mit dem immer häusliche Streitigkeiten wegen seiner Trunksucht etc. stattfanden und der immer noch mit hochrotem Kopf unter uns stand, störe sie. ›Was wollen Sie denn hier?‹ sagte er zu ihm. ›Von Ihnen will ich nichts‹, antwortete der Diener grob. Er war der einzige, der sich etwas erlauben durfte. Er ging ab und schloß laut die Tür. Mein Vater sah meine Mutter sehr ernst an. Sie mußte das Zeugnis lesen. ›Er ist also doch durchgefallen!‹ sagte sie einfach. Ich hätte sie küssen und umarmen können für dieses zur Kenntnis nehmen – und doch war es mein Vater, den ich liebte. Mein Vater, in dem war ich. Ich gehörte ihm einfach, wie man sich selbst gehört, nur noch tiefer, noch zwingender – und jeden Tag von neuem! Man kann es nicht erklären. Es haben ihn aber viele so geliebt.

Meine Mutter merkte, wie ich ihr mit meinem Dankgefühl zustrebte, und sie tat, was sie konnte. ›Er muß von jetzt an anders werden‹, sagte sie. Ihr liebes er statt du wäre Balsam auf alle Wunden gewesen, bei einem anderen Gatten als bei meinem Vater. Vielleicht empfand er jetzt etwas wie Eifersucht. Denn er wurde scharf. ›Er? Wie meinst du das?‹ ›Ach, lieber Maxi‹, sagte sie schmeichelnd zu ihm, aufstehend und ihn um den Hals fassend und dann seine schäbige, glanzlose, gewendete Krawatte zurechtrückend, ›er wird sich bessern. Er muß fleißiger lernen, und im schlimmsten Fall wird er eben Nachhilfestunden bekommen.‹ ›So, Nachhilfestunden?‹ fragte mein Vater kalt, ›dann bezahlst du sie von deinem Nadelgeld?‹ ›Nein, das habe ich nicht gesagt. Meine Eltern schicken mir das Nadelgeld ausschließlich für meine Toiletten – um dich nicht zu belasten‹, fügte sie begütigend hinzu. ›Viel Dank! Viel Dank!‹ sagte mein Vater hart. ›Ich nehme keine Geschenke an.‹ ›Also was willst du wieder?‹ fragte meine Mutter sehr erregt, vergessend, daß ich im Zimmer war. Auch er vergaß meine Anwesenheit – oder war es vielmehr klare Absicht? – und sagte, sich von uns, meiner Mutter und mir, entfernend: ›Wäre deine Mitgift ordnungsgemäß ausgezahlt worden, dann könnte ich auf solche Gnadengeschenke verzichten. Korrekt nennt man es nicht.‹ ›Ich dachte, du liebst, du liebst ...‹ setzte meine Mutter an, bemerkte aber plötzlich, daß ich da war und sagte, auf die Tür zum Ordinationszimmer weisend, ›Junge, geh hinein und warte, bis man dich ruft.‹ Ich ging. Die Tür schloß sich hinter mir.

In diesem Zimmer, das ich ganz genau kannte, waren mir schon in meiner frühesten Kindheit die Tafeln an der Wand mit immer kleiner werdenden Buchstaben aufgefallen. Ich konnte nicht verstehen, weshalb man sie immer kleiner machte, und als ich das ABC gelernt hatte, war es mein erstes, sie zu lesen. Sie ergaben aber keinen Sinn. Ich hatte mir nach langem Nachdenken eingeredet, es seien die Anfangsbuchstaben eines Gebetes, das die Augenkranken und Blinden entweder selbst zu lesen hätten oder das ihnen mein Vater vorlas. Und selbst jetzt, wo ich schon soviel Bücher durchgeblättert hatte, vielleicht fünfundzwanzig in den letzten Wochen, hing ich immer noch dieser Meinung nach.

Jetzt war für mich der Augenblick da, die Worte zu diesem Gebete zu finden, und ich zerbrach mir den Kopf über die Worte. Aber ich hatte kaum die erste Zeile mit Worten ausgefüllt und versucht, mir über die Zahl 6/6, die unter der Zeile stand, klar zu werden, als mich mein Vater hineinrief. ›Warum hast du dich deiner Mutter nicht anvertraut?‹ fragte er, nicht sanft, aber auch nicht streng. Ich wurde rot und schwieg. Mein Vater stieß mich zart an den Ellbogen, als rücke er mich zurecht. ›Rede doch! Wie kommt das alles?‹ Ich schwieg, noch verstörter. Nach einer langen Weile sagte mein Vater zu meiner Mutter: ›Ich finde es im höchsten Grade rücksichtslos, daß die Schule uns nicht vorher benachrichtigt, und du denkst das doch auch? Zustände! Zustände! Sind denn keine Konferenzbriefe gekommen? Sie müssen doch gekommen sein, natürlich! Nicht?‹ Ich hatte mich hinter dem Fauteuil meiner Mutter versteckt. Jetzt mußte ich handeln, und ohne klar zu überlegen, kam ich hinter meiner Schutzmauer hervor und schützte meine Mutter, die jetzt changiert hatte, denn sie war kreidebleich geworden, und ihr lieber Kopf hing über die Lehne des Fauteuils. ›Ja, sie sind gekommen!‹ ›Wer hat dich gefragt‹, sagte mein Vater, ließ mich aber weiterreden. ›Drei sind gekommen.‹

›Drei‹, flüsterte mein Vater meiner Mutter zu, ›und ich erfahre nichts davon?‹ Er beugte sich über meine Mutter, die zusammengesunken in dem Lehnstuhl dasaß und in den knisternden Falten des Kleides wühlte und ihre Finger in das winzig gesäumte Täschchen an der Seite hineinzwängte.

Ich trat natürlich zwischen meine Mutter und ihn und sagte: ›Ja, drei, November, Dezember und Januar.‹

›Aber waren sie denn nicht zu unterschreiben?‹ fragte er.

›Ich habe sie selbst unterschrieben‹, sagte ich leise.

›Wie, du hast sie unterschrieben? Mußte denn nicht ich sie unterschreiben?‹

›Ich habe deinen Namen nachgemacht.‹

›Wie konntest du meine Schrift nachahmen?‹ fragte mein Vater verblüfft.

›Ich habe es so lange versucht, bis ich es konnte.‹

›Und wie hast du dir die Briefe verschafft?‹

›Ich habe sie mir eben verschafft‹, sagte ich trotzig. ›Alle drei.‹

›Er hat sie gefälscht, aber ich kann es nicht glauben‹, sagte mein Vater tonlos. ›Weine nicht‹, wandte er sich an meine Mutter, ›nein, ich glaube es noch nicht. Er lügt nicht, der Junge. Oder doch?‹ (Jetzt entsann er sich des herausgerissenen Blattes, von dem ich behauptet hatte, ich hätte es gekauft.) ›Möglicherweise aber lügt er doch, das heißt, er sagt jetzt die Wahrheit‹, mein Vater verhaspelte sich. Meine Mutter mußte lächeln. Meinem Vater passierte es sonst nie, daß er stotterte. Und doch hatte er als junger Mensch gestottert und es sich nur mit äußerster Willensanstrengung abgewöhnt. Dieses Lächeln unter Tränen verschönte meine Mutter so sehr, daß mein Vater gerührt wurde.

Er faßte mich rauh, aber doch guten Willens an der Schulter, und vielleicht hätte alles noch gut enden können, wenn nicht der unselige Lukas gekommen wäre. Ohne anzuklopfen, hatte er sich, sein bläulich rotes Gesicht voll Rachsucht und niederträchtiger Freude, stramm wie ein Soldat vor meinen Vater hingestellt und hatte den Reim vor sich hin gebrummt: ›Herr Dozent, 's brennt!‹ ›Was, es brennt? Wo denn?‹ riefen meine Eltern wie aus einem Munde.

Tatsächlich verbreitete sich ein brenzlicher Geruch in der Wohnung. Meine Mutter war aufgesprungen, sie sah entsetzt meinen Vater und mich an. ›Kommt es von hier unten? Kommt es von oben?‹ fragte sie.

›Oben! Droben!‹ sagte Lukas.

Im gleichen Augenblick kam unsere Vally leichenblaß herunter, die weiße Schürze geschwärzt, die Hände naß und sehr rot und die hübschen, schwarzen Kirschenaugen tränend von Rauch. ›Was gibt es‹, fragte mein Vater ruhig. Das Mädchen hustete. Sie war mir sehr zugetan, vielleicht hatte sie etwas wie Liebe für mich. Sie wollte mit meiner Mutter sprechen, aber mein Vater ließ es nicht zu. ›Nun, soll ich Ihnen Worte machen?‹ herrschte er das Mädchen an, in seinem Zorn eine unrichtige Wendung gebrauchend. Sie zog still die Lippen zusammen, sie ließ sich nur von meiner Mutter und mir etwas befehlen. Ich tat es übrigens nie. ›So?‹ sagte mein Vater abschließend, ›es gibt also Geheimnisse vor mir in meinem Haus?‹

Der Brandgeruch hatte sich verzogen.

Sehr gespannt, zitternd vor Erregung – denn meine Schuld hatte ihn furchtbar getroffen, wenn er es auch nie zugegeben hätte –, ging er die samtbelegte Treppe zu unserem Privatleben hinauf, und hier, in meinem Zimmer, kam der Schluß. Meine Mutter hatte angesichts der Kälte aufgetragen, im Wohnzimmer zu heizen. Das Stubenmädchen, in ihrer unsinnigen Liebe für mich, in ihrem Mitleid für den ihrer Ansicht nach zu hart behandelten Sohn des Hauses, hatte auch in meinem Zimmer geheizt, das heißt, sie hatte ein paar rote Kohlen, ›Glut‹, eingelegt und war, um auf verbotenem Werk nicht ertappt zu werden, wieder schnell davongelaufen. Die Glut hatte das Lehrbuch der Geisteskrankheiten erfaßt und ebenso den ›Satz‹ kostbarer Krawatten. Jetzt lag alles durcheinander auf dem durchnäßten Teppich und schwelte noch. ›Ist das nicht mein Buch?‹ stellte mein Vater fest. ›Das hast du aus der Bibliothek gestohlen.‹ ›Nein, gestohlen nicht‹, verteidigte mich meine Mutter, ›mein Junge stiehlt nicht.‹›Ja, er ist ja auch aus eurem erlauchten Geschlecht‹, sagte mein Vater böse. ›Und das hier‹, er stieß nach dem dicken Satz bunter Krawatten mit seinem Fuß, ›gehört das dir? Hat man ihm vielleicht das gegeben? Hast du das auch gestohlen?‹ ›Nein‹, sagte ich. ›Du lügst‹, sagte mein Vater und stieß mich mit der geballten Faust in den Rücken. Es war die erste körperliche Züchtigung, die er mir zuteil werden ließ, und sie tat ihm sogleich leid. Ich weinte bittere Tränen. ›Heule nicht‹, sagte er milder, ›beruhige dich! Sage die Wahrheit! Wo sind die Krawatten her? Wie konntest du dich an fremdem Eigentum vergreifen? Sind sie noch gut? Kann man sie zurückgeben? Von welcher Firma sind sie? Lukas!‹ rief er, ›kommen Sie! Nein, bleiben Sie, ich rufe Sie später. Wie konntest du? Hätten wir‹ – er versöhnte sich wieder mit meiner Mutter, während sich eine tiefe Kluft leise zwischen mir und ihm auftat auf viele Jahre – ›hätten wir dir nicht eine neue Krawatte geschenkt, wenn du darum gebeten hättest? Sohn‹, sagte er, fast zischend, zwischen den Zähnen hindurch, ›wir haben das nicht um dich verdient. Wir wollen aber Lukas nichts sagen. Ziehe dich schnell an, Mantel, Handschuhe und Hut, ich komme mit dir, du, bitte, auch‹, sagte er zu meiner Mutter und versuchte ein krampfhaftes Lächeln, das mir ins Herz schnitt und das den schwersten Augenblick meiner Jugend besiegelte, ›wir gehen alle drei in das Geschäft und machen den Schaden gut. Dann kann ihm nichts geschehen. Diebstahl wird nicht verfolgt, wenn der Schaden gutgemacht wurde vor der Anzeige‹. ›Papa, es ist alles bezahlt.‹ ›Bezahlt? Sechs Krawatten, kostbare, schwere?‹ Er hatte mit seinen scharfen Augen die Qualität sofort erfaßt. ›Sie sind für dich. Alle sind für dich. Ich wollte sie dir zum Geburtstag schenken. Ich habe sie im Ofen versteckt. Sie sind zufällig angebrannt, aber sie sind absolut alle bezahlt‹. ›Nein, du hast sie gestohlen‹, sagte mein Vater, plötzlich gerührt, ›es ist ja nicht zu glauben, worauf solch ein Bengel im Übergangsalter kommt. ›Du hast immer nur gewendete Krawatten, nicht wahr‹, sagte ich, um ihn zu versöhnen, denn ich wußte, ich würde nicht glücklich werden ohne ihn – und da dachte ich, daß dir solche Krawatten Freude machen würden, ich habe die besten ausgesucht‹. ›Ausgesucht!‹ rief mein Vater, halb entsetzt, aber auch halb erfreut, denn es machte tiefen Eindruck auf ihn, daß ich seinetwegen gestohlen hatte, lausgesucht, sucht ein Dutzend bester Krawatten aus ...‹ ›Nur sechs ...‹ ›Nur sechs!‹ lachte er, alle seine schönen Zähne zeigend. Meine Mutter und das Stubenmädchen und selbst der mürrische Lukas an der Tür lachten mit. ›Nur sechs! Nur sechs! Und geht fort und vergißt zu bezahlen. Na ja, die Leute wissen doch, er ist mein Sohn. Sie kennen meinen Namen und wissen, daß man uns nur die Rechnung zu schicken braucht. Sie wird bezahlt. Hast du sie vielleicht schon bekommen?‹ fragte er meine Mutter. ›Es soll vorgekommen sein‹, setzte er geradezu lustig und ausgelassen fort, ›daß auch meine Frau Gemahlin in teuren Geschäften sich die besten Sachen aussucht, immer ein Dutzend, nein, ein halbes, und dann kommen die Rechnungen ... Es ist doch so? Junge! Tu's nie wieder.‹ Ich sah ihn an. Ich liebte ihn abgöttisch. Ich kann es nicht anders nennen. Aber gerade weil ich ihn liebte, mußte ich ihn treffen, ich mußte ihn auf die Probe stellen, ich mußte ihm wehe tun, ich weiß nicht, wie es erklären, aber ich weiß, ich mußte tun, was ich tat. ›Nein, Papa‹, sagte ich, ›du verstehst mich nicht, ich habe alles hier bezahlt. Du weißt doch, wie ...‹ Er wußte es nicht. Er sah ratlos meine Mutter an. Wie selten war er ratlos, wie tief bezauberte er da mein Herz! ›Ich weiß auch nichts‹, sagte meine Mutter. ›Er hat mir nichts gesagt.‹ Er setzte sich auf mein Kinderstühlchen, das bedenklich knackte unter seinem Gewicht. ›Mach Schluß‹, sagte er resigniert. ›Sag alles, verschweige nichts, ich muß fort, ich habe zu operieren.‹ Er blickte auf die Uhr. Es war erst viertel zwölf. Um dreiviertel elf hatte ich das Zeugnis gebracht.

›Ich habe diese Sachen von meinem Gelde gekauft. Du hast mir siebenmal ein Goldstück gegeben. Die Krawatten allein haben einundvierzig Kronen gekostet. Sie sind vier Ellen breit. Sonst nimmt man nur drei.‹

›So! Vier! Vier! Und der Rest?‹ fragte er. ›Ich habe Gurken gekauft ...‹ Warum kam mir dieses alberne ›Gurken gekauft‹ auf die Lippen? Mein Vater tat jetzt etwas, das ich nie an ihm gesehen hatte und was er wohl tat, wenn ihn Unheilbare abstießen. Sein Gesicht wurde sehr höflich und glatt, es war unheimlich in seinem weißen eisigen Glanz. Er ließ mich noch lange plappern, er hörte aber nicht zu, er war ganz anderswo mit seinen Gedanken, und jetzt muß es gewesen sein, daß er entschied über mich.

Meine Mutter ahnte es. Sie unterbrach mich und sagte zu ihm, die unseligen Krawatten mit dem Fuße fortstoßend, damit sie ihm endlich aus den Augen kämen. ›Habe ich dich nicht immer gewarnt, dem Jungen soviel Geld in die Hand zu geben?‹ ›Es ist wahr‹, sagte mein Vater, die Krawatten mit dem Fuße wieder zu sich herziehend, ›du hast recht gehabt, und ich habe unrecht gehabt. Es ist gut. Bitte, komm mit mir‹, sagte er zu meiner Mutter und legte ihr seine schöne, weiße Hand mit den mandelförmigen Nägeln auf die Schultern, ›und ihr‹ – er meinte das Stubenmädchen und mich – ›bringt den Mist hier in Ordnung.‹

Es war derselbe Blick, mit dem er das halbverbrannte Buch und den Satz Krawatten umfaßte, den er gehabt hatte, als er auf dem Teppich die schmutzigen Fußspuren der ›Pilgerim‹ entdeckt hatte. – Wie war das weit ... Ich verglich mich nicht mit den Pilgerim. Ich war noch jung. Ich lächelte scheu das schöne schlanke Mädchen an, und gemeinsam mit ihr machte ich mich daran, alles in Ordnung zu bringen.

Als ich neben dem Mädchen auf dem Boden vor dem Ofen kniete und mich der seltsame Geruch ihrer Glieder aus so großer Nähe umfing, wie nie früher, wandten sich meine Eltern von der Schwelle der Tür noch einmal nach mir um. Ich war so – trostbedürftig, daß ich glaubte, meine Mutter würde mir, wie sie es in der Gewohnheit hatte, ›ein kleines Pflaster auf die große Wunde‹ geben, mir wäre alles recht gewesen, selbst das Wörtchen er und sonst nichts. Aber sie war nur zurückgekommen, weil sie meinen Vater nicht allein lassen konnte und wollte. Mein Vater also war es, der mir noch etwas sagen wollte. Ich wußte, es wühlte in ihm, seine Knie hinter dem abgeschabten Stoff seines Beinkleides zitterten, und er stützte sich auf den Arm meiner Mutter, was er sonst nicht oft tat. Und aus drei Schritt Distanz, genau wie bei den Pilgern, sah er mich an mit seinen kalt flammenden, hellen Augen und sagte: ›Natürlich! Aber habe ich dich nicht immer wie meinen einzigen Sohn gehalten, als mein einziges Kind?‹

Ich schwieg und bückte mich neben der errötenden Magd auf den Boden.


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