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Die Familie meines Schülers bot mir gegen Ende des Sommersemesters an, ich solle mit ihnen auf ihr Gut in Ostgalizien reisen, und besonders der Vater meines Schülers, ein noch jugendlicher Kavallerieoberstleutnant versprach mir, sich etwas mühsam der deutschen Sprache bedienend, goldene Berge; Reitstunden, die Gesellschaft seiner Tochter, und täglich Hühner, Erdbeeren und Schlagsahne. Ich hatte fast das Gefühl, als ob es meiner Mutter nicht ganz unlieb sein würde, wenn ich sie in der nächsten Zeit etwas allein lassen würde. Sie bemitleidete mich in den wenigen guten Stunden, die sie zwischen ihren Übelkeiten hatte, strich mir über den Kopf, wobei sie sich mit ihrer kleinen, etwas untersetzten Gestalt hochrecken mußte, denn ich war damals schon ein wenig größer als sie. ›Armer Junge‹, sagte sie, ›nicht einmal Kerne!‹ Dieses Kerne bezog sich auf eine dumme Bemerkung, die ich als ganz kleiner Junge gemacht hatte. Sie hatte mir erzählt, es gäbe ganz arme Leute. ›Wie arm?‹ fragte ich. ›Sehr arm‹, sagte sie. ›Hatten sie nichts?‹ fragte ich. ›Nichts.‹ ›Auch Kirschen nicht?‹ – Es war die Zeit der ersten Kirschen, und ich hatte welche bekommen, zehn Stück. – ›Nein, auch Kirschen nicht.‹ ›Und auch keine Kirschenkerne?‹ Darauf hatte sie nur gelacht, und das Wort war geblieben.

Aber mein Vater fand meine Lage nicht so bemitleidenswert. ›Der Junge bleibt bei uns‹, sagte er zu meiner Mutter, als die Rede darauf kam. Er sprach mich nicht geradezu an. ›Wie sähe es vor der Welt aus, wenn wir ihn Freitisch essen ließen?‹ Meine Mutter, plötzlich blaß werdend, wandte ein, daß es doch kein demütigender Freitisch, wie er armen Studiosen bei wohltätigen Gönnern gewährt wird, sein könne, wenn ich mit dem Oberstleutnant aufs Land ginge und reiten lerne. ›So, glaubst du?‹ erwiderte mein Vater. ›So, reiten lernen, das glaubst du. Aber er bezieht doch Geld von dort. Er steht dort in Kost, wenn er die Einladung annimmt. Und er denkt selbst nicht daran, nicht wahr, mein Sohn?‹ Daß er sich jetzt direkt an mich wandte, erschien mir als ein Zeichen der von mir so innig ersehnten Versöhnung. Ich sah ihn still an. Wir waren einig.

Zwei oder drei Wochen nachher wurden die Jahreszeugnisse verteilt. Das meines Freundes war das drittbeste, meines enthielt einige vorzügliche Noten, einige kaum genügende, aber der Durchschnitt war befriedigend. Ich legte auch dieses Zeugnis meinem Vater in seiner Abwesenheit auf den Arbeitstisch. Am nächsten Tage dankte er, machte mich aber aufmerksam, daß es ihm nicht lieb sei, wenn ich, ohne ihn zu fragen, sein Ordinationszimmer beträte. Tief errötend und von Tränen nicht weit entfernt, versprach ich es. ›Ich wünsche dich nicht mehr zu kontrollieren‹, sagte er, der meine Verwirrung sicherlich begriff, ›du mußt für dich selbst verantwortlich werden. Morgen fährst du also mit Mama voraus nach Puschberg.‹ So hieß der Ort in Tirol, wo meine Mutter einen kleinen Besitz hatte. Der Bürgermeister der Stadt war der Vater unseres schönen treuen Stubenmädchens, das Vally genannt wurde, wenn meine Mutter zufrieden war, das aber unbarmherzig mit Walburgis angeredet wurde, wenn sie einen Teller zerschlagen hatte.

Wir reisten ab. Ich voll Zittern und Zagen, daß meine arme, sehr geschwächte, leichenblasse Mutter den Transport, der über zwölf Stunden dauerte, nur unter furchtbaren Qualen überstehen würde. Zu meiner und Vallys größter Freude aber verschwanden die Übelkeiten sofort beim Besteigen des Zuges und kamen auch während der sechs Wochen in P. nicht ein einzigesmal wieder.

Diese Zeit gehört zu der schönsten meines Lebens. Ich machte mit meinem Vater unter Führung von Vallys Vater, der geprüfter Bergführer war, meine ersten Kraxelpartien. Wir kletterten, die Füße in Turnschuhen, durch einige Kamine, die einem Anfänger wie mir gerade noch möglich waren, und wir traversierten, angeseilt, mein Vater voran, ich in der Mitte und der Bürgermeister zum Schluß, einige Gletscherspalten. Die Schönheit der Natur kam mir damals noch nicht zum Bewußtsein. Es war eine Freude ganz anderer Art. Ungefähr zwei Stunden von hier, viel tiefer im Tal, gab es einen kleinen, eiskalten Bergsee, in dem man aber in diesem ungewöhnlich warmen Sommer baden konnte. Während der sechs Wochen erinnere ich mich nur zweier Regentage, zum Schluß, Anfang September, denke ich. Mir machte es nichts aus, auf dem Rade von Vallys großem Bruder zu dem Bergsee hinunterzusausen, unten mich in aller Eile auszukleiden, die schweißgetränkten Kleider auf den ebenfalls von Schweiß feuchten Sattel meines Rades (wäre es doch mein gewesen!) zu hängen und mich in das Wasser zu stürzen, wo ich ein paar Jungen schwimmen sah. Es war ein Seil gespannt, um die Grenze für Nichtschwimmer zu bezeichnen. Ich legte mich aufs Wasser, ruderte ein bißchen mit Armen und Beinen, ließ mich nicht zu hastigen Atemstößen hinreißen, die das Schwimmen erschweren und ohne es gelernt zu haben, schwamm ich, mit unnötigem Kraftaufwand, aber ohne Mühe, das erstemal über zehn Minuten lang, immer das Ufer entlang, im Schatten der bläulichen, mit zartem Moos bedeckten, steilen Felsen, welche gleich neben dem sandigen, sonnigen, flachen Badeplatz begannen und sich über die ganze Südseite des länglichen Sees erstreckten.

Meinem Vater wurde dies als besondere Ruhmestat vom Ortspfarrer, mit dem er befreundet war, zugetragen, als ich Ende August, Anfang September schon die Runde in dem kleinen See machen konnte. Es war ihm aber nicht recht.

Mit seinem schon etwas ausgefransten, von jahrelangem Gebrauch auch bei Regen und Wind grau gewordenen ›strohernen Hut‹ fächelte er sich die Hitze von seinem auch jetzt noch blassen und unbewegten Gesicht, als er mich in unserem kleinen Garten zu sich rief. Es stand ein Gewitter über dem Ort, die Berge waren ungewöhnlich nahe gerückt, die Schneefelder mit dem alten verharschten Schnee und dem Eis flimmerten grell unter einem dicken Gewölk, das die Sonne jetzt noch mit aller Kraft zu durchstoßen vermochte. Die Insekten surrten, plötzlich aber verstummten sie zugleich mit den Vögeln, der Haushund sperrte sein Maul auf und gähnte laut, die Sonne war fort, und aus den tiefer gelegenen Tälern stieg langsam ein schwerer Dunst auf. Aber es regnete noch nicht.

Mein Vater zog mich zu sich, er nahm mich, so wie er die augenkranken Kinder bei der Behandlung zu sich nahm, nämlich zwischen seine Knie, und sprach aus nächster Nähe mit sehr leiser Stimme auf mich ein, leise vielleicht deshalb, um meine Mutter nicht zu wecken, die jetzt sehr schwerfällig geworden war, sich kaum von der Stelle rührte, viel für sich hin weinte und ein ganz verändertes, plumpes Aussehen zeigte.

Nachdem er mir wegen des unvorsichtigen Schwimmens Vorwürfe gemacht hatte und besonders davon gesprochen hatte, daß man der ›braven Frau dort‹ – dort hinter den Blumenstöcken des Fensters unter dem tief hinabreichenden, mit großen Steinen beschwerten Schweizerdach, jede Aufregung in ihrem Zustand ersparen müßte, kam er auf etwas anderes zu sprechen. Ich hörte anfangs nur unaufmerksam hin, so war ich benommen von seiner Nähe. Von der Berührung seiner Knie, die mich, den großen starken Jungen, nur ganz zart umfaßten, denen man aber auf keine Weise sich entziehen konnte. Weshalb hätte ich mich auch entziehen sollen? War ich doch selig, daß er mich zu sich gerufen hatte, ich verstand ihn in seiner Sorge um meine Mutter, die jetzt nach fünfzehn Jahren wieder ein kleines Kind erwartete.

Daß ich auf Schwimmen, auf Kraxeln, auf Radfahren (Sausen!) etc. verzichtete, war kein Opfer zu nennen. So nahm er es sehr gleichgültig hin, daß ich ihm dies versprach. Ich merkte aber, daß er mich mit den Knien stärker an sich zog und zugleich seine hellen, grünlich blauen Augen besonders zwingend auf mich richtete, daß er noch etwas auf dem Herzen hatte. Aber er wagte es nicht zu sagen. Ich begriff allmählich, was es war.

Plötzlich hatte es zu regnen begonnen.

Ich hätte ihm leicht entkommen können. Der Regen fiel stärker und stärker, es begann in den Dachrinnen zu rieseln, und das Regenwasser brummte in ein Faß, das in der rechten Ecke des Hauses stand. Wir mußten unser Gespräch abbrechen. Er seufzte, wieder sah er auf seine Uhr, aber es war nur Verlegenheit, denn hier hatte seine Zeit wenig Wert, da er sie außer zu Bergtouren nur zu Gesprächen mit den Bauern und am Sonntag zu Schießübungen an den Zielscheiben der kleinen Gemeinde verwandte. Man munkelte davon, ihn zum Ehrenbürger des Dorfes zu machen. Offenbar waren aber mit der Verleihung dieser Würde ziemlich große Geldausgaben verbunden, und wie ich durch die getreue Vally erfuhr, gab es zwei Parteien in dem Gemeinderat des Ortes – die eine, vom Lehrer geführt, verwandte sich für Reparatur des Armenhauses, das aus einer verfallenen Hütte beim Steinbruch außerhalb des Ortes bestand, während der Pfarrer, der Führer der anderen Partei, das Geld für die Reparatur der Kirche verwenden wollte. Mein Vater spielte abwechselnd mit dem Lehrer und dem Pfarrer Tarock, wobei der Posthalter den dritten und der Großbauer Partl, der einzige der Gegend, den vierten machte. Die Honoratioren kamen meist in den späten Nachmittagstunden, und ihre Zeit war jetzt bald da. Ich wußte genau, daß es nichts Angenehmes war, das mich erwartete.

Aber während ich meinem Vater auf dem Weg durch das Bauerngärtlein vorausging ins Haus und dann leise über die Holztreppe auf den ›Umgang‹, der sich als holzgedeckter Vorbau um das ganze Haus herumzog, faßte ich mir ein Herz, und als wir uns auf zwei geschnitzte Holzstühle gesetzt hatten, begann ich selbst, meinem Vater den Vorschlag zu machen, den er mir nicht zu machen wagte. Oder kannte er mich so genau, daß er wußte, er mußte nur die peinliche Lage meiner Mutter, die sich vor dem halb erwachsenen Sohn mit ihrem Kinderbekommen schämte, andeuten, um mich selbst zu dem schweren Schritt zu bewegen? Er schien alles vorauszuwissen. ›Du kannst es dir ja noch überlegen‹, sagte er, ohne daß wir Genaues gesprochen hatten. ›Nein, Papa, ich bin entschlossen.‹ ›Und von wann an denkst du?‹ fragte er. ›Von Weihnachten an?‹ fragte ich. Aber mit unseren Fragen verstanden wir uns beide nicht. ›Sprich klar‹, sagte er sehr trocken, ›in unserem Haus kannst du eben schwer bleiben. Natürlich, ich zwinge dich nicht. Nie, das weißt du?‹ ›Also gut‹, sagte ich, ihm vorauskommend, ›ich werde bei dem Oberstleutnant anfragen, sobald wir zurück sind, ob sie mich aufnehmen können bis ... bis eben alles in Ordnung ist ...‹ ›Nein, mein guter Junge‹, sagte mein Vater, ›es ist nicht möglich, daß du vom Oberstleutnant in Quartier und Kost genommen wirst. Ich habe dies doch schon einmal betont. Es würde ein schlechtes Licht auf uns alle werfen, es könnte mir auch in meiner Praxis schaden. Ich erwarte in diesem Semester meine außerordentliche Professur oder wenigstens einen Lehrauftrag.‹ ›Und was soll ich dann tun?‹ fragte ich leise und begann zu zittern. ›Aber gar nichts!‹, lachte mein Vater, beherrschte sich aber sofort, um meine schlafende Mutter nicht durch dieses laute Lachen, in das ich in meiner Angst eingestimmt hatte, zu wecken. ›Gar nichts, guter Junge!‹ wiederholte er drohend, denn ich hatte mein Lachen nicht so schnell abbrechen können, obwohl mir das Weinen näher lag. Jetzt wurde es still. Von unten kam das Quirlen des Wassers im Regenfaß deutlich herauf. Es regnete stark, die nahen Wiesen begannen betäubend zu duften, Grillen setzten allenthalben ein, und ein Vogel im Gebüsch unter unseren Füßen begann zart, aber eindringlich und ohne Aufhören zu flöten. Wie bei der Verteidigung meiner Mutter gelegentlich der gefälschten Unterschrift, ersparte mir mein stürmisches Wesen eine qualvolle Überlegung, die doch nicht anders ausfallen konnte, als sie bei sofortigem starken Entschluß ausfiel. ›Ich muß also fort?‹ fragte ich. ›Nicht so laut‹, sagte mein Vater und hielt mir seine Hand vor den Mund. ›Sie schläft.‹ ›Also gut‹, sagte ich. ›Gut?‹ fragte er, ›hast du es dir überlegt?‹ Ich nickte. ›Und du sagst ihr, daß du selbst den Entschluß gefaßt hast.‹ ›Hab ich denn nicht?‹ fragte ich. ›Mache es ihr leichter! Man muß es den Schwachen leicht machen.‹ ›Gern‹, sagte ich, die Tränen unterdrückend, ›sehr gern.‹ ›Du kannst von hier dorthin fahren‹, sagte er, ›natürlich!‹ ›Wohin?‹ fragte ich. ›Nach A., in ein Heim. Vally wird packen. Dir alles nachsenden.‹ ›Ich soll gar nicht mehr nach Hause zurück?‹ schrie ich. Nun war es zu spät, mir die Hand vor den Mund zu halten. Meine Mutter war erwacht, sie stöhnte, und man hörte die altmodische Bettstatt knarren, so warf sie sich hin und her. ›Geh jetzt hin und sage es ihr!‹ sagte er. Unten im Bauerngarten hörte man den Pfarrer über die Kiesel gehen und dann an der Tür sich räuspern und den Regenschirm klatschend zusammenschlagen. ›Werdet ihr mir schreiben?‹ fragte ich noch in aller Eile, ›und meinen Freund soll ich nicht mehr wiedersehen?‹ ›Wir schreiben dir täglich.‹ ›Und mein Zimmer werdet ihr nicht umräumen? Ich habe einen Capricepölster auf meinem Bett.‹ ›Es bleibt alles, wie es ist. Das versprechen wir dir. Geh jetzt zur Mutter, ich muß leider in die große Stube, Hochwürden wartet.‹

Meine Mutter fühlte sich so elend, daß sie gar nicht hinhörte, als ich ihr meinen schweren Entschluß mitteilte.


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