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5

Am nächsten Tage, nach dieser fast schlaflos verbrachten Nacht, ging ich in aller Frühe zu dem Präfekten. Es war der erste Weihnachtsfeiertag. Der Präfekt schlief noch. Es war kaum halb acht Uhr. Ich ließ ihn wecken, er kam im Schlafrock und in Pantoffeln, und seine haarigen dünnen Beine zeigten eine Gänsehaut, denn es fror stark. Ich befolgte genau mein Programm. Das erste war, daß ich ihn bat, vor der Frühmesse, der wir alle beiwohnen sollten, in die Stadt gehen zu dürfen. Er öffnete weit seinen Mund vor Staunen. Wie sollte er es begreifen, daß ich an einem Weihnachtsfeiertag morgens um halb acht Uhr Ausgang verlangte? Ich ließ ihn nicht erst zu Wort kommen, sondern sagte ihm, daß meine Mutter schwer krank sei – von der ›Erlösung‹ schwieg ich natürlich – und daß ich an meine Eltern telegraphieren wolle. ›Aber wozu?‹ fragte er. ›Willst du nicht lieber abwarten, bis sie dir Nachricht geben? Beruhige dich. Vielleicht ist es nicht so schlimm. Wenn du abreisen solltest, wird dich der Hausdiener zur Bahn bringen, dir die Fahrkarte besorgen und das Gepäck ins Coupé schaffen.‹ Ich begriff ihn nicht. Er sprach von solchen Fällen, als kämen sie jeden Tag vor. Ich schüttelte den Kopf. ›Bitte, lassen Sie mich telegraphieren!‹ flehte ich. Er nickte ziemlich gleichgültig, raffte den Schlafrock zusammen und wollte zu seiner Frau und ins warme Bett zurück. Ich hielt ihn fest. ›Was will er denn noch?!‹ Daß er mich jetzt er nannte, wie meine arme, vielleicht in dieser Minute schon erlöste Mutter, trieb mir die Tränen in die Augen, und ich heulte laut auf. ›Aber, aber‹ begütigte er mich. ›Schön, laufe zur Post. Aber zieh dich warm an. So kannst du nicht auf die Straße. Sollen vielleicht wir für dich telegraphieren?‹ ›Nein, nein‹, schluchzte ich hinter meinem Taschentuch. Er wollte gehen, ich ließ ihn aber noch nicht. ›Bitte Geld!‹ sagte ich. ›Natürlich, natürlich!‹ antwortete er – diesmal gebrauchte er das Lieblingswort meines lieben Vaters. War es nicht, als ob sie beide durch den Mund des alten knöchernen Präfekten zu mir sprachen und die Gelübde guthießen, die ich während der Nacht getan hatte? ›Laß mich nun endlich los!‹ herrschte der Präfekt mich an. ›Ich habe kein Geld bei mir. Wieviel soll es denn sein?‹ ›Eine Krone?‹ fragte ich schüchtern, denn ich hatte noch nie telegraphiert. ›Reicht das? Soll nicht auch Rückantwort dabei sein?‹ Er mußte mir, frierend in dem großen, grauen, von der gestrigen Feier noch unordentlichen Empfangszimmer, genau erklären, was ›Rückantwort‹ bedeute. Ich kam nun mit ihm, und seine Frau übergab mir das Geld, zwei Kronen. ›Geh jetzt noch einmal hinauf und ziehe dir deinen Winterrock an! Es weht eisig draußen. Die Post wird erst um acht geöffnet. Du hast Zeit. Aber nicht weinen. Es ist sicher nicht so schlimm. Wer ist denn krank?‹ ›Meine Mutter!‹ flüsterte ich ihr zu. Ich hatte mehr Vertrauen zu ihr als zu dem trockenen Schulmeister. ›Meine Mutter wird jetzt erlöst. Sie bekommt ein Kind!‹ ›Aber das ist doch ein Glück, das bringt doch Freude! Weshalb soll es denn schlimm ausgehen?‹ ›Ich weiß es‹, begann ich von neuem mit meinem scheußlichen Weinen und wandte mich ab, die zwei Kronen in meiner geschlossenen Faust. Sie wollte mich zu sich heranziehen, aber ich schüttelte sie ab und rannte ohne Mantel auf den Korridor, wo meine Mütze hing, und kam auf die Straße und erreichte bald das Postamt, das am Feiertag zu dieser Stunde in dem kleinen Ort noch nicht geöffnet war.

Ich überlegte, ob ich den zweiten Weg, den ich für heute vorhatte, den in die Gnadenkapelle, eine kleine Kirche hinter dem Rathaus, noch vor dem Absenden des Telegramms erledigen könnte, aber ich hatte nicht die Fassung und Geduld dazu. Ich marschierte in meiner Angst vor dem Postamt hin und her und spürte vor lauter Angst und Herzklopfen nicht das geringste von Kälte und Wind. Endlich wurde das Amt geöffnet, ich ließ mir ein Formular geben, das ich natürlich verpatzte, schließlich kam der Beamte aus seinem Verschlag heraus, setzte sich in dem menschenleeren Amtsraume neben mich, und wir brachten endlich einen sehr guten Text zusammen. Das Telegramm sollte, wie ich sehr dringend bat, unverzüglich befördert werden, und der Beamte gab mir sein Wort, daß es in weniger als zwei Stunden bei meinen Eltern (oder jetzt bloß noch bei meinem Vater?) angekommen sein würde. ›Und gegen Mittag werden Sie die Antwort haben.‹ ›Nicht Sie, Du bitte‹, antwortete ich, denn man sprach mich zu dieser Zeit noch nicht mit Sie an. Nachher lief ich zu der Gnadenkapelle.

Hier erst, in der eisigen Luft des stillen Kirchenraumes, spürte ich den Frost. Die Kapelle war verlassen. An der linken Wand, gleich neben dem Weihwasserkesselchen, waren die Exvotos angebracht, sowohl Herzen und Nachbildungen aus Gips, die den geheilten Gliedern entsprachen, als auch Krücken, die an der Wand aufgehängt waren und sich im leisen Luftzug sachte bewegten. Dann gab es Exvoto-Steine mit eingravierten Inschriften, Kupfertäfelchen, sogar emaillierte Porzellanschilder mit kurzen Mitteilungen, meist nur mit den Anfangsbuchstaben des Bittstellers gezeichnet. Ich hatte nichts dergleichen. Alles, was ich hatte, war ein Mathematikheft, das ich in aller Eile mitgenommen und zwischen der Matrosenbluse und dem Hemd unten am Bund der Bluse befestigt hatte und das daher ganz warm war. Ich riß das letzte Blatt heraus und überlegte, was ich daraufschreiben sollte. Unter den Exvotos waren auch manche, die Gott dankten für eine glückliche Heilung. Eines berichtete, die Gnade der Mutter Gottes voll Freude rühmend, sogar von einer lebensgefährlichen Operation, mehrere vom wiedergeschenkten, durch die Gnade der wundertätigen Mutter Gottes wiedererhaltenen Augenlicht. Ich gedachte mit Stolz meines Vaters und seiner Operationen, und in meinem Inneren schwor ich mir, daß ich später als Arzt alles Menschenmögliche aufbieten würde, den Menschen zu helfen und sie von den Sorgen um ihre Gesundheit zu befreien, gleichzeitig aber wollte ich doch, an der Hilfe der irdischen Ärzte verzweifelnd, mich geradezu an die Himmelsmacht wenden ... In solchen Kümmernissen wurde ich des Widerspruchs nicht gewahr, ich biß mir die Lippen wund, um den wirksamsten Text zu finden. Hier konnte mir kein gutmütiger Telegraphenbeamter helfen, die richtigen Worte, wenn man sich an Gott wandte, zu finden. Ich mußte es von selbst tun.

Nun verlangte ich etwas, nämlich, daß meine Mutter nicht erlöst würde, wie Vally geschrieben hatte, sondern wieder gesund und ihres Lebens froh werde – und dafür wollte ich etwas hingeben, oder opfern, nämlich meine Rückkehr zu meiner Familie. Denn es war von Anfang an selbstverständlich für mich, daß ich nicht lange im Knabenheim bleiben sollte. Es war doch nur eine vorübergehende Maßnahme gewesen, weil meine Mutter sich vor mir schämte. Meine Mutter –! Vor mir! Ich weinte wieder, aber ich weinte nur äußerlich, innerlich war ich wach und klar und suchte weiter nach dem wirkungsvollsten Gelübde. Ich fand es aber nicht. Ich fand es einfach nicht. Endlich, als ich das Papier schon zerknüllt hatte und in meiner Verzweiflung schon am Ausgange der Gnadenkapelle war, kehrte ich noch einmal um. Ich prüfte die linke untere Ecke der Wand, die jetzt bei aufgehender Sonne immer deutlicher zu sehen war, und auf einer kleinen rechteckigen Marmorplatte las ich, in verstaubten Goldbuchstaben, die aber die Sonne, mit deutlichem Glanz durchdringend, hervorhob, ein kleines Exvoto aus dem Anfang des Jahrhunderts, das ohne Unterschrift war und nur aus drei Worten bestand: Schütze meine Kinder! Ich änderte diese Inschrift natürlich um. Es waren drei Worte. Schütze meine Mutter! Dann brachte ich diesen Zettel zusammengefaltet in der Ecke hinter dem Täfelchen an, da sich hier kein freier Nagel befand, an dem ich den Zettel hätte aufhängen können. Der Goldglanz auf dem Marmortäfelchen war wieder verschwunden, draußen hatte ein mäßig starker Schneefall begonnen, ich kam halb erfroren und mit nassen Kleidern und Schuhen daheim an. Aber das alles berührte mich nicht. Ich erwartete jeden Augenblick die Antwort meines Vaters.


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