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7

Ich ging während dieses dritten Feiertages mit bösem Gewissen umher. Ich war durchaus nicht frei von Mitleid. Jetzt bereute ich aus Mitleid mit dem Jungen, der über seiner toten Mutter lag, meine Wunderkur, aber ich wußte doch, daß wir alle dieselbe Kur auch in der kommenden Nacht wiederholen würden, denn sie hatte gefruchtet, während alle anderen Mittel, Versprechungen, Drohungen ... nichts genützt hatten. Aber deshalb tat er mir doch leid. Mir tat meine Mutter leid, die ich mir unter Qualen, die auch mein Vater nicht zu lindern vermochte, langsam verlöschend, erblassend, leise vor sich hinstöhnend, vorstellte, mir tat mein armer Vater leid, der vielleicht sich eben jetzt mit seinen Getreuen, dem alten Lukas und der treuen Vally, über die beste Art beriet, mir das Unglück mitzuteilen.

Ich wäre aber kein gesunder, vom Leben noch ungebrochener Junge gewesen, wenn mir nicht auch der Gedanke gekommen wäre, daß alles vielleicht gut enden könnte. Aber dieses Gedankens schämte ich mich, ich errötete, daß ich mir die Sache so leicht machte – und dabei wartete ich, von Stunde zu Stunde, von meinen Kameraden mit boshafter und zugleich wohlwollender Aufmerksamkeit verfolgt, auf das Eintreffen der Nachricht, und sagte mir im stillen doch, sie würde heut nicht kommen, wie sie gestern nicht gekommen war.

Die Schnapsflasche war ausgetrunken, vom Schinken waren nur noch die Knochen da, welche wir dem großen Haushund vorwarfen, der sich mit diesem Riesenknochen bis weit ins Frühjahr hinein belustigte, ihn wie einen Schatz von einem Ort zum anderen tragend, ihn in der Erde verscharrend, das Versteck lange und oft vergeblich suchend, bis er es wieder gefunden hatte und, den Knochen zwischen den Pfoten, die Nüstern schwarz, feucht und lebhaft schnuppernd, sich an diesem Geschenk delektierte, das uns doch nichts gekostet hatte. Ihn, den Hund, so voller Lebenslust zu sehen, während die mir teuersten Menschen zu leiden hatten, brachte mir Bitterkeit, die ich schon einen Augenblick später bereute.

Ich konnte schließlich das Warten nicht länger ertragen und hätte noch ein zweitesmal telegraphiert, wenn mir der Präfekt diesmal das Geld nicht verweigert hätte. Ohne Erfolg versuchte ich eine Anleihe bei den zwei Goliaths, die stets mit Geld versehen waren. Vergebens sagte ich ihnen, mein Vater, der berühmte Augenarzt, sei Bürge für die zwei Kronen, vergebens erklärte ich mich auch mit einer einzigen Krone einverstanden, sie bleckten ihre schönen weißen Zähne, zuckten die Achseln und waren froh, mir eine Bitte abschlagen zu können. Sie, als die ältesten Bewohner des Heimes, waren eifersüchtig auf ihren Einfluß und auf ihren Ruhm in der Anstalt, und meine Wunderkur hatte sie mit Recht mißtrauisch gemacht.

Ich nahm es hin, und, stolz auf meine erste geglückte Kur, gönnte ich ihnen den billigen Triumph, mir diese kleine Summe abgeschlagen zu haben. Gegen Abend kam mir eine neue Hoffnung: ich hoffte auf eine kleine, aber sichere Sache, nämlich den Schulbeginn, der mich wenigstens während der Schulstunden von meinen Sorgen ablenken würde, denn die Ansprüche im Gymnasium von A. waren keineswegs geringer als in meiner Heimatstadt, und ich mußte mich sehr anstrengen, um zu folgen, und das wollte und mußte ich doch – und dann zum zweiten hatte ich doch noch einen Schimmer von Hoffnung, daß mit der gewöhnlichen Post, die während der Feiertage nicht ausgetragen wurde, eine Nachricht von meinem Vater kommen würde.

Den zwei großen Jungen paßte es nicht, daß ich mich etwas beruhigt hatte. Sie hänselten mich und versuchten, meinen auch hier schon bekannten Jähzorn dadurch zu wecken, daß sie mit dem Silbergelde und sogar mit Goldmünzen in der Tasche klimperten, das Geld dann in die flache Hand nahmen und es mir vor das Gesicht hielten, kss kss machend, wie sie es mit dem großen Wolfshund gemacht hatten, dem sie den Schinkenknochen lange vorgehalten hatten, bevor sie ihn hingeworfen hatten.

Dies regte mich zwar auf, doch es gelang mir noch ganz gut, mich zu beherrschen. Ich fühlte nur, wie ich blaß wurde, wie ich im Inneren zu zittern begann. Ich kehrte ihnen den Rücken und ging zu meinem Bett, das in der Nähe eines der großen Fenster sich befand, vor denen jetzt lange, schmutziggraue Drillichvorhänge herabgelassen waren. Ich holte den Rucksack vor, den sie mir noch gekauft hatte.

Ich schob sodann den Vorhang zur Seite und sah hinaus. Hinter dem Hause breitete sich die hüglige Schneelandschaft bis an den Horizont aus. Den Bergweg entlang kam, eine kleine rotleuchtende Laterne an der Deichsel, knarrend in der Nachtstille, ein Bauernfuhrwerk herab ... Vielleicht war es ein Bauer, der in den Ort fuhr, um für seine Frau oder sein Kind einen Arzt zu holen, denn die üblichen Feiertagsbesuche machte man nicht zu so später Stunde, und die Arbeitsfuhren begannen erst am nächsten Tag ... Ich war noch in diese Gedanken vertieft, als sich die beiden Jungen vor mich hinstellten und ihre Späße wiederholten. Der Subpräfekt, der gewöhnlich streng die Aufsicht hier führte, hatte uns an den Feiertagen mehr Freiheit gelassen. Sonst hätten wir ja auch die Wunderkur nicht ungestört durchführen können. Heute war deren Wiederholung viel gefahrloser, denn ich sah, daß der Bettnässer selbst die Photographie unter seinem Körper anbrachte und dann seine Hände den Kameraden zum Fesseln hinhielt, denen es aber viel weniger Spaß machte, sie ihm ungestört festzubinden, als wenn es gegen seinen Willen hätte sein können.

Meine Gegner ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Sie nannten mich einen Bettnässer und witzelten über den Rucksack, gaben mir abscheuliche Kosenamen, aber ich wußte ja, wer ich war und was sie waren, und lächelte sie schweigend an, freilich mit einem etwas gezwungenen Lächeln, denn ich konnte jetzt meine Zähne nicht mehr voneinanderbringen. Jetzt kam der ältere der beiden auf einen neuen Einfall. Er erinnerte sich des Rühmens, das ich von meinem Vater gemacht hatte, und setzte diesen herab. Hätte er es einfach mit Schimpfworten der üblichen Art getan, ich hätte mich wahrscheinlich großartig beherrscht, aber er tat es auf besonders alberne, abgründig blöde Weise, indem er zusammengesetzte Worte umdrehte und mich zwang (denn wer kann da widerstehen?), erst die Worte zurechtzusetzen und dann erst zu begreifen.

So sagte er, seinen dummen Mund zu einem glücklichen Lachen verziehend und sich von Herzen freuend, ›Dein Vater ist eine Salberquack!‹ Schon war ich dabei, mich auf ihn zu stürzen, aber ich wollte und mußte mich beherrschen, und so flüsterte ich durch die Zähne seinem Spießgesellen zu: ›Sag ihm, daß er das Maul hält!‹ Aber dieser war ja selbst aufs höchste belustigt, und auch die anderen Studenten standen in ihren Nachthemden, einige mit den Socken noch an den Füßen, voller Freude um uns herum. ›Sag ihm‹, wiederholte stumpfsinnig der ältere Goliath, ›sag ihm, sein Vater ist ein Schneiderbeutel!‹ Über diese Wortbildung brachen alle in Gelächter aus, und vielleicht hätte auch ich gelacht, wenn es sich nicht um meinen Vater gehandelt hätte. ›Nimm das zurück‹, schrie ich, ›nimm es sofort zurück! Mein Vater ist kein Beutelschneider!‹ Vielleicht war mir während meines Aufenthaltes daheim irgendwie zu Ohren gekommen – ein Kind hört ja manches, was es nicht soll –, daß mein Vater für seine unnachahmliche Kunst hohe Preise forderte, aber den zwei albernen Jungen war dies wahrscheinlich unbekannt, sie hatten es wie das Salberquack nur erfunden, um mich zu demütigen und aufzustacheln. ›Sag ich ja gar nicht! Kein Beutelschneider!‹ höhnte der große Kerl, ›nur eine Salberquack und ein Schneiderbeutel.‹ Soviel Dummheit und Gemeinheit konnte ich nicht ertragen, ich ließ mich von meinem Jähzorn fortreißen – und fühlte mich so trübe glückselig dabei wie nach den ersten vier Gläsern des polnischen Schnapses –, ich sprang mit aller Kraft gegen den großen Lümmel an, der dessen nicht gewärtig war. Seine Abwehrpüffe taten mir nicht weh, sie erhöhten nur meine Kraft.

Ich empfand eine seltsame, tief durchdringende Wonne, wenn ich mich mit allen Fasern verteidigte gegen beide, es durchzuckte mich wie ein heißer Strom von oben nach unten, als ich ihm mit meiner geballten Faust von der Seite gegen die Zähne schlagen konnte. Meine Faust allein wäre wohl nicht stark genug gewesen, die ungewöhnliche Wirkung zu erzielen, hätte ich mich nicht zugleich mit dem ganzen Körper gegen ihn geworfen.

Er wich sofort aufschreiend zurück, taumelte, die Hand vor den Mund gepreßt, gegen den Vorhang, und man hörte in der Stille eine Fensterscheibe klirren. Er sank hier nieder, konnte sich aber, da ihn ja der Vorhang zum Glück geschützt hatte, keine Kopfwunde geholt haben.

Wir bekamen natürlich alle Angst, daß der Subpräfekt etwas von dem Lärm gemerkt haben könnte. Ein Teil von uns Jungen schoben schnell die Glasscherben fort, ein anderer verkroch sich noch schneller in die Betten.

Der Bettnässer war von seinem Lager aus dem Kampf glückselig lächelnd gefolgt. War gestern er das Opfer gewesen, so waren es heute die zwei Goliathe und ich.

Aber ich dachte, daß nun alles in Ordnung sei, als sich der Goliath mühselig erhob, seine große häßliche Hand vor seinen Mund hielt und eine Menge rötlicher Flüssigkeit in die Hand spie. Mir gefiel der Ausdruck seines Gesichtes nicht. Er kam mir nach, stumm deutete er auf den Inhalt seiner Hand, und mit Schrecken sah ich, daß unter dem roten Zeug etwas Blankes, Weißes, Dünnes durchschimmerte, ein Zahn. Das hatte ich nicht gewollt.

Ich sank auf dem Rande des nächsten Bettes zusammen, von dem mich der rechtmäßige Besitzer fortzustoßen versuchte, dann aber kam mir in meiner Verzweiflung ein Gedanke. ›Gib ihn her!‹ murmelte ich dem großen Jungen zu. Furchtsam machte Goliath I seinem Vetter ein Zeichen, und dieser brachte mir, zwischen Zeigefinger und Daumen gepreßt, den Zahn, einen wunderbar weißen, schönen Eckzahn, blank und mit kleinen Fäserchen am spitzen Ende. ›Mach den Mund auf!‹ befahl ich. Er riß den Mund gehorsam auf, ich sah das Blut quellen aus einer kleinen Wunde, deren Ränder zackig waren. Ich dachte in diesem Augenblick weder an Vater noch an Mutter, sondern an meine Verantwortung, meine Pflicht als Arzt. Hatte mich meine Wunderkur von gestern so kühn gemacht? Ich wußte von jetzt an, was das Selbstvertrauen eines Arztes vermag, denn alle folgten mir blind! ›Dein Messer!‹ rief ich dem Goliath I zu. Er gab es mir. Ich nahm den Zahn und lief hinaus in den gemeinsamen Waschraum. Ich wusch den Zahn sorgfältig ab und bemühte mich, das kleine Stückchen Fleisch mit dem Messer zu entfernen, vorsichtig den Zahn auf das Seifennäpfchen legend, bevor ich das Messer öffnete. Sobald der Zahn ganz sauber war, kehrte ich in das totenstille Dormitor zurück. ›Mund auf!‹ kommandierte ich trocken. Er riß den Mund weit auf. Aus seinen dummen Augen brachen Tränen. Das war die Strafe für seinen Salberquack, daß er sich jetzt einem solchen anvertrauen mußte. Ich führte den an allen Gliedern zitternden Burschen unter die Zimmerlampe und versuchte den Zahn wieder einzufügen. Aber dies war viel schwieriger, als ich gedacht hatte. Obwohl das Unternehmen sehr schmerzhaft war, hielt der arme Kerl mäuschenstill. Er hätte zubeißen können, aber ich wußte, er tat es nicht, denn er verstand, daß ich ihm helfen wollte.

Endlich wagte ich etwas anderes. Da ich gesehen hatte, daß man sich bei der schlechten Beleuchtung auf die Sicht nicht verlassen konnte, um so mehr, als es fest aus der Rißwunde weiterblutete, rechnete ich auf das Tastgefühl und tat gut daran.

Ich tastete die Stelle vorher gut ab, nahm dann den Zahn zwischen den Zeigefinger und Daumen der rechten Hand, die gewölbte Lippenseite nach vorn, die Zungenseite nach rückwärts, hielt mit dem linken Zeigefinger die Wundränder auseinander, drückte den Zahn in die Wunde und merkte sofort, daß der Zahn sich widerstandslos, sehr tief in die kleine Knochenöffnung einfügte. Als ich den Jungen dann den Mund noch einmal aufmachen ließ, sah ich, daß der Zahn wieder schön geradestand. Nun handelte es sich darum, daß er einige Stunden so blieb, damit er einwachsen könne.

Auch da hatte ich einen Einfall. ›Das Messer!‹ rief ich. Ich hatte es im Waschraum liegen gelassen. An der plötzlichen käseartigen Blässe des armen Goliath merkte ich, er fürchtete eine zweite, noch schrecklichere Operation. ›Nein, beruhige dich!‹ sagte ich – mit welchem Gefühl sprach ich dieses Trosteswort aus, das die Präfektin vor kurzem für mich angewandt hatte! – ›beruhige dich. Es geschieht dir nichts mehr.‹ Er versuchte zu lächeln. Er hätte alles über sich ergehen lassen, wenn ihm der Zahn und seine männliche Schönheit erhalten blieben. Inzwischen war das Messer gebracht worden. ›Hole den Stöpsel aus meiner Schnapsflasche‹, ordnete ich an, und als er gebracht worden war, schnitzelte ich mit dem Messer in den liegenden Zylinder des Korkens eine kleine Rille und führte den Stöpsel in den Mund des Jungen. ›Courage! Beiß fest darauf!‹ sagte ich, und er biß. ›Kannst du daneben ausspucken?‹ Er konnte es. ›Gut!‹ sagte ich. ›Wickelt ihm das Gesicht fest ein, so daß er den Mund nachts nicht öffnen kann. Und ein paar Stunden gefastet!‹

Es war spät geworden. Durch das zerbrochene Fenster kam die kühle Nachtluft. Der Subpräfekt mußte uns vergessen haben. Wir waren sogar gezwungen, selbst das Licht auszulöschen.

Alle hielten sich ruhig. Draußen hörte man ein Bauerngefährt knirschend den Bergweg wieder hinauffahren. Die meisten waren eingeschlafen. Einige wenige flüsterten sich etwas zu und lachten.

Kluge, alles voraussehende Geister hatten ein Nachtgeschirr gefunden, das einzige, das es hier gab und das dem Bettnässer früher hatte dienen sollen – als ob man mit Nachtgeschirren einen Bettnässer heilen könnte! Jetzt tat es seine Dienste, indem es dem Goliath als Spucknapf diente. Alle paar Minuten hörte man den armen Teufel leise aufseufzend sich im Bett aufsetzen, das Geschirr heraufholen und hineinspeien.

Alle diese unappetitlichen Dinge, Speien, Nachtgeschirr, hatten seit gestern und heute ihren bisherigen Sinn für mich verloren. Ich glaubte, ich würde einmal Arzt werden. Aber ich dachte nicht daran, diese gefährlichen Versuche hier fortzusetzen. Ich vertraute doch im Grunde auf meinen Vater, ich dachte an meine geliebte Mutter und die Zukunft.


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