Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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24

Es war neun Uhr vorüber, als er, geraden Wegs von der Kinderstadt kommend, an Flemings Wohnungstür läutete. Fleming war zu Hause; in Pantoffeln schlurfte er den Flur entlang, öffnete vorsichtig, aber da er Fabers ansichtig wurde, verging die argwöhnische Neugier, die er stets beim Türaufmachen zeigte, und er begrüßte den Freund mit unartikuliertem Murmeln, das aber ein Ausdruck von Zufriedenheit war.

»Spät«, sagte er, hinter Faber in die stickige Stube tretend, die einen unordentlicheren Anblick als je darbot; »du bist grundsätzlich spät, mein Lieber. Aber ich dachte mir eben vorhin: heut wird er noch kommen. Eine Ahnung hat mirs verraten. Aber wie gelangt der Mensch zu Ahnungen? durch Sorge. Ganz einfach. Alle Propheten waren Sorgenmänner, und nur deshalb waren sie Propheten. Setz dich. Setz dich.«

»Laß nur«, erwiderte Faber. »Ich geh gleich wieder. Das heißt, ich gehe, um vielleicht zurückzukommen. Das hängt von dir ab. Nämlich, ich wollte dich fragen, ob ich einige Zeit bei dir logieren kann. Die Sache ist die, daß ich ... ich bitte dich, erschrick nicht und schau mich nicht so bestürzt an ..., ich kann jetzt bei mir zu Hause nicht bleiben. Es sind Gründe, die ... Ich werde dir gelegentlich alles sagen. Nur jetzt nicht. Ich bin jetzt nicht fähig dazu. Hab also Geduld. In ein Hotel möchte ich nicht gehen; ich weiß erstens nicht, wie lang es dauern wird; es kann länger dauern, als es dir bequem ist, unter Umständen; und dann ist es nicht verlockend, so ein Hotel, abgesehen davon, daß es teuer ist. Eine andere Unterkunft läßt sich aber im Augenblick schwer ausfindig machen, und ich will noch heute Nacht weg. Mein guter alter Fleming, beunruhige dich nicht. Es ist nichts Schlimmes, ich versichere es dir; eine Laune; oder nicht eine Laune, eine vorübergehende Notwendigkeit. Wenn es dir Beschwernis macht, so betrachte die Bitte natürlich als ungeschehen. Im andern Fall werd ich dir wenig Mühe verursachen. Ein Lager für die Nacht, eine Schüssel zum Waschen. Kannst du mir das gewähren?«

»Aber, mein Gott, Eugen, selbstverständlich«, stammelte Fleming, der die Brille auf die Stirn geschoben hatte und vor lauter Erstaunen sie wieder auf die Nase zu rücken vergaß; »da brauchts doch gar nicht so viel Worte. Hier nebenan, siehst du, die zwei Bücherstöße räumen wir weg; den Kohleneimer stellen wir in die Küche; die Matratze nehm ich einstweilen aus meinem Bett, und morgen leih ich mir ein Bett aus. Im zweiten Stock unten wohnt eine alte Dame, die ist mir immer gefällig; äußerst gefällig, ja. Aber... schön, schön, mein Guter, ich sehe schon, du willst nicht, daß ich frage. Du perrhorreszierst das, ich weiß, ich weiß. Also komm nur. Komm nur. Und beeil dich nicht zu sehr. Ich werde schon warten.« Er wußte in seiner Verwirrung nicht genau, was er redete; auch tastete er mit den Händen planlos bald da-, bald dorthin, bald nach einem Buch, bald nach einem Gegenstand in der Tasche, bald nach der Stuhllehne. Faber hatte schon die Klinke gefaßt und erwiderte: »Dank dir, Fleming. Auf dich baut man nicht vergebens, wenn man Hilfe nötig hat. Dank dir recht schön.«

Er war bereits im Flur draußen, da eilte ihm Fleming nach und rief: »Ja, was ich sagen wollte, Eugen ...« Faber drehte sich um; Fleming sah ihn an, senkte verlegen die Augen und brachte stotternd hervor, weil ihm offenbar nichts anderes einfiel: »Ich wollte dich nur erinnern, daß du mir den Cardano mitbringst, den Astrologen; vergiß es nicht, sei so gut.«

Nach Hause gekommen, ging Faber in sein Arbeitszimmer, machte Licht und zog aus einem Winkel das Holzköfferchen hervor, das er von der großen Reise mitgebracht. Der Schlüssel hing an einer Schnur am Henkel. Er sperrte den Koffer auf und legte seine Zeichenhefte, einzelne Blätter, ein Paket mit Briefen, die er einer verschlossen gewesenen Lade entnahm, und das Reißzeug hinein. Da fiel sein Blick auf den Brief, den er an Martina und Fides geschrieben und mitten in einem Satz abgebrochen hatte. Ohne ihn noch einmal zu überlesen, zerriß er ihn in kleine Stücke, warf diese in den Ofen, zündete ein Streichholz an, setzte das Häuflein Papier in Brand und schaute zu, bis es Asche geworden war. Hierauf ging er über den Korridor in sein Schlafzimmer, holte dort Wäsche und einen Anzug und verstaute alles ziemlich sorgfältig in dem Koffer. Er schloß ihn sodann zu, hob ihn in der Hand, um zu prüfen, ob er sich leicht tragen lasse, stellte ihn auf den Boden und schaute sich im Zimmer um. »Richtig, der Cardano«, sagte er plötzlich mit einem wunderlich erstickten Kichern, und öffnete die Tür, die zum Wohnzimmer führte, denn das Buch lag noch dort auf dem Schreibtisch. Das nächste Zimmer war finster; durch die Türritzen des Wohnzimmers schimmerte Licht. Er stand eine Weile im Dunkeln und überlegte. Da er aber keinerlei Geräusch oder Stimme vernahm, machte er die Tür auf. Betroffen verharrte er auf der Schwelle.

Auf dem Sofa saß Martina; vor ihr, den Kopf in ihren Schoß vergraben, lag Fides auf den Knien. Martina blickte ernst vor sich hin; sie hatte mit beiden Händen Fides Kopf umspannt, als hätte sie ihr ein Versprechen gegeben oder ein Gelübde getan und sie wären beide darauf in dieses Schweigen verfallen, das, wie es schien, eine lange Zeit schon währte.

Als die Tür sich öffnete, erhob sich Fides jäh. Auch Martina erhob sich, aber gleichsam bedächtig. Sie blickte Faber lächelnd an, mit dem lieblichen Zucken um den Mund; dann nahm sie Fides bei der Hand und sagte mit fester, klarer Stimme: »Da ihr euch gern habt, Eugen, und ich es nun weiß, so sollt ihr euch nicht abquälen, so müßt ihr einander haben. Nimm sie Eugen, nimm sie zu dir, nimm sie mit dir.«

»Martina!« lief Fides, und es klang wie ein Aufschrei aus maßlos bedrängtem Gemüt; »so nicht, Martina! so demütige mich nicht, so verwirf mich nicht. Das kann ich nicht ertragen; lieber züchtige mich!«

»Ich dich züchtigen, Fides? Ich dich verwerfen?« fragte Martina befremdet mit melodisch herabgleitender Stimme; wo denkst du hin? Aber warum denn nicht logisch handeln? Warum nicht tun, was man tun muß?«

Sie wollte das Zimmer verlassen; ein Schauder hatte die Schultern überflogen. Faber hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Einen Augenblick noch, Martina«, sagte er ruhig; »und auch Sie, Fides, schenken Sie mir einen Augenblick Gehör. Ich habe drüben meinen Koffer gepackt. Ich wäre, ohne Abschied zu nehmen, fortgegangen, hätte mich nicht ein Zufall hier ins Zimmer geführt. Es steht nun so: ich will aus dem Hause. Ich kann Fides nicht mit mir nehmen. Fides mitnehmen! Würde Fides denn mit mir gehen? dich, Martina, allein lassen? mit dem Kind allein lassen? Nie würde sie das tun. Und kann ich bei dir, Martina, bleiben, und Fides soll durch meine Schuld verstoßen sein? Absurder Gedanke. Ihr beiden aber dürft euch nicht voneinander trennen. Solange wenigstens nicht, bis die eine weiß, daß die Flamme erloschen ist, die sie unschuldig entzündet und die aus mir einen neuen Menschen gemacht hat, und die andere das Feuer wieder nähren will, von dessen Wärme drei Leben abhängen. Als ich am ersten Abend hier bei dir saß, Martina, hast du mir das Glas entgegengehoben und mir zugerufen: auf die Zukunft, Eugen. Erinnerst du dich? Ich rufe dir jetzt das gleiche zu und sage dir: ich werde warten, geduldig auf diese Zukunft warten, und wenn es zwanzig Jahre dauern soll, bis aus ihr eine Gegenwart wird. Adieu, gute Nacht, Fides. Adieu, gute Nacht, Martina. Es ist doch ein wenig sonderbar, das alles. Neulich hab ich Christoph ein Märchen vorgelesen; von einem Spielmann, der sich nachts heimlich aus dem Stadttor schleicht, nachdem er mit seinem törichten Spielen allerlei Unheil angerichtet hat. Christoph werd ich ja bisweilen sehen. Er wird mich besuchen. Also nochmals: gute Nacht und lebt wohl!«

Er ging. Nach einer Weile hörte man die Flurtür ins Schloß fallen.

Martina, die so wie Fides regungslos dagestanden war, reckte den Kopf ein wenig vor. Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Sie strich mit beiden Händen die Haare aus den Schläfen nach hinten; es war eine willenlose, traumhafte Bewegung. Ihre Augen waren unnatürlich weit geöffnet; die blassen Lippen wichen voneinander und ließen die Zähne durchschimmern. Plötzlich lief sie in größter Hast, so daß ihr Rock um die Schenkel flog, in den Flur hinaus. Dort riß sie die Tür zur Stiege auf und lauschte die Stiege hinunter. Hierauf rannte sie mit derselben stürmischen Hast in Christophs Stube, stürzte ans Bett des Knaben, hob den Schlummernden mit leidenschaftlicher Gebärde zu sich empor und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Dann lief sie aus der finstern Stube abermals in den Flur, abermals zur finstern Stiege, lauschte abermals hinab, kehrte dann mit unvermindertem Ungestüm in das Zimmer zurück, wo Fides noch immer ohne Wort und Zeichen, mit tiefversunkenen Blicken stand, warf sich ihr an die Brust und rief mit einem Ton zwischen Schmerz und Jubel, kindlichem Schmerz und strahlendem geheimnisvollem Jubel: »Fides, wach auf! Fides, wach auf! Weißt du es denn? Hast dus gehört? Er ist fort, der Liebste! der Aller-Allerliebste ist von mir fortgegangen ...«

Und sie küßte Fides und lachte und schluchzte dabei. Es war wie Verrücktheit.

Fides sah sie mit schwerem Blick verwundert an und senkte das Haupt.

Ende

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