Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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4

Am andern Vormittag ging Faber in das Haus der Baugesellschaft, wo er früher seine Bureauräume gehabt hatte. Er sprach mit einem der Direktoren und vergewisserte sich, daß er keine Hoffnung hegen durfte, bei der Firma angestellt zu werden. Die Leute arbeiteten zwar mit ausländischem Kapital, aber mit einer geringen Zahl von besoldeten Architekten, die auch nur wenig verdienten. An eine selbständige Unternehmung war bei der allgemeinen Kalamität nicht zu denken.

Dann suchte er einen ihm befreundet gewesenen Architekten auf, der ihn zu seiner Rückkehr herzlich beglückwünschte und dessen Mitteilungen nicht aussichtsvoller waren, der ihm aber einige nützliche Winke in bezug auf Personen von Einfluß gab, an die er sich wenden solle.

Dann trieb er sich bis zum späten Nachmittag in den Straßen herum, und nachdem er gleichsam immer engere Kreise gezogen, stand er vor dem Haus, worin seine, worin Martinas Wohnung war. Gegenüber befand sich eine Baumallee, er setzte sich auf eine Bank und schaute zu den Fenstern im obersten Stockwerk empor. Es war ein stattliches Gebäude aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ohne aufgeregte Verzierungen; die glatten Mauern waren grau gestrichen und Giebelansatz und Fensterteilungen wirkten wohltuend richtig.

Es war droben nichts zu sehen außer reinlichen Vorhängen und dem Spiegelglanz des abendlichen Himmels in den Glasscheiben. Die Dämmerung fiel, sein Blick wanderte unzählige Male empor und wieder gegen die Straße herab; da sah er einen Knaben, der an der Hand einer jungen Person über den Fahrweg auf das Haustor zuschritt und lebhaft mit seiner Führerin plauderte. Faber hielt sich mit verkrampften Fingern an der Bank fest, dann sprang er auf und hinüber. Die beiden waren im Haus verschwunden, mit blasser Miene blieb er am Tor stehen. Erst nach geraumer Zeit wagte er es, ihnen zu folgen und vernahm noch die helle Stimme des Kindes von hoch oben. Abermals wartete er, darauf schlich er Stufe um Stufe die vier Treppen hinan, und vor der Wohnung verharrte er lautlos wie ein Dieb und stützte sich lauschend auf das Geländer. Allmählich milderte sich die Erregung in seinen Zügen; das Zuschlagen einer Tür, ein befehlender Ruf erschreckten ihn, und er trat den Rückweg an.

Indessen war Fleming schon am Morgen in die Wohnung Klaras geeilt und hatte dieser und Anna Faber Bericht erstattet. Die zwei Frauen sahen ihn an, als zweifelten sie an seinem Verstand, und Anna Faber ließ sich jedes Wort wiederholen, das Eugen gesprochen. Es waren nicht so viele, daß sich Fleming nicht an jedes hätte erinnern können. Er werde sicher im Lauf des Vormittags kommen, meinte er, und fügte hinzu, daß ihm der Mut gefehlt habe, zu Martina zu gehen. Anna Faber wollte, daß man Martina telephonisch benachrichtigen solle; Klara hielt sie mit Mühe davon ab und sagte, entweder sei er bereits bei Martina, dann sei dieses Beginnen töricht und überflüssig, oder er habe sich dazu nicht entschlossen, dann sei es zwecklos und verfrüht, sie zu beunruhigen.

Fleming blieb bis zum Mittag bei den Frauen, und jedesmal, wenn die Flurglocke läutete, sprang Klara auf und stürzte hinaus. Anna Faber konnte sich ins Warten nicht ergeben; sie schlug vor, man solle durch die Polizei in Erfahrung bringen, in welchem Gasthof er wohne; kaum war ihr dies ausgeredet, so wollte sie selbst ausgehen, um in den Hotels am Bahnhof nach ihm zu suchen, und auf Flemings Bemerkung, daß sie ihn schwerlich antreffen werde, auch wenn ihre Nachforschungen Erfolg hätten, schluchzte sie und erging sich in wilden Anklagen der Weltzustände. Klara bedauerte, daß ihr Mann verreist sei; er sei gestern zu einem Freund in die Provinz gefahren, sagte sie. Fleming teilte ihr Bedauern nicht, denn Hergesell war ihm beinahe fremd, und er hielt ihn zur Hilfe schon deswegen für kaum geeignet, weil er auch Eugen fremd war.

Den ganzen Nachmittag über saß Anna Faber mit aufgestützten Armen am Tisch. »Ist es möglich, kann er ein so schlechtes Gewissen haben, daß er Angst hat, ihr vor die Augen zu treten, ihr und mir?« wandte sie sich nach stundenlangem finstern Schweigen an Klara.

Klara, die mit Männerschritten auf- und abging, machte ein Gesicht, wie wenn man sie mit kaltem Wasser angespritzt hätte. »Meinst du vielleicht, er hat sich eine chinesische Frau gekauft?« fragte sie schnöde lachend; »wir wollen keine Romane ausdenken, Mutter, die Wirklichkeit läßt sich das nicht gefallen.«

Es war gegen neun Uhr abends, da kam er endlich. Anna Faber flog ihm mit einem Aufschrei an den Hals. Er mußte sich erst mit sanfter Gewalt von ihr lösen, verbarg aber seine Ergriffenheit nicht. Klara sagte mit ihrer humoristischen Baßstimme, sie finde, daß er sich sein Erscheinen in jeder Beziehung lang überlegt habe. Danach küßte sie ihn wie ein guter alter Kamerad und betrachtete ihn aufmerksam von oben bis unten.

Als Anna Faber sich soweit beruhigt hatte, um Fragen an ihn zu richten und er erklärt hatte, daß er schon zu Abend gegessen, wußte er, daß das gefürchtete Verhör nicht ausbleiben konnte. Er begnügte sich damit, die Achseln zu zucken, und Miene und Blick verrieten soviel Unruhe und verstörte Gedanken, daß Anna von ihren Versuchen einstweilen abstand. Er berichtete dies und das von der Überfahrt auf dem amerikanischen Schiff, auch von seinen Erlebnissen in den vorhergegangenen Monaten, doch waren es meist nur halbe Sätze, die er vorbrachte und die immer so klangen, als bereue er, sie angefangen zu haben. Er sagte, er habe das Reden verlernt. Die Mutter streichelte seine Hand; er entzog sie ihr langsam; sichtlich war ihm ihr dringlich forschender Blick unbequem. Nicht minder schien ihn die Schweigsamkeit der Schwester zu beirren; das hin- und herflackernde Auge deutete daraufhin.

Aber Klara hatte ihren Entschluß gefaßt. »Ich lasse euch jetzt ein wenig allein«, sagte sie, nickte Eugen zu und ging. Im Flur warf sie einen leichten Mantel um, setzte den Hut auf und verließ die Wohnung. Im Hauseingang stieß sie auf Fleming. »Eugen ist da,« rief sie ihm zu, »ich gehe zu Martina und bring sie her. Man muß es ihr sagen, im Telephon hat das keine Art.« Fleming billigte ihr Vorhaben und begleitete die Schnellschreitende bis zu Martinas Haus.

Eugen fragte seine Mutter: »Schlafen Klaras Kinder schon?«

Die Kinder seien bei Hergesells Eltern auf dem Land, erwiderte Anna; es seien prächtige Mädchen, eins blond, eins schwarz, ganz Fabersche Fraktur.

Wie sich Valentin entwickelt habe, Roderichs Sohn, erkundigte sich Eugen weiter.

Anna Fabers Gesicht wurde düster, und Eugen merkte, daß er eine Wunde angerührt. Er wollte von etwas anderm sprechen, aber Anna beugte den Kopf vor und fragte grabend: »Und wie es deinem eigenen Kind geht, willst du nicht wissen?«

Eugen schwieg und strengte sich an zu lächeln.

»Daß du dich auch vor deiner Mutter verschließt, nach Jahren des Wiedersehens, Jahren solchen Kummers, ist das Bitterste, was mir geschehen konnte!« brach Anna Faber aus.

»Gedulde dich, Mutter«, sagte Eugen mit besänftigender Geste; »man muß sich erst sammeln. Man muß erst sehen, wo man steht und ob man noch in eure Welt hineingehört.« Er stand auf und marschierte im Zimmer herum, betrachtete die Bilder, Vasen und Gläser. Anna folgte ihm unablässig mit den Blicken.

»Kannst du mir sagen, was es mit der Fürstin auf sich hat?« warf er in kühlklingendem Ton hin, während er scheinbar interessiert ein Elfenbeinfigürchen ansah. »Da fast in jedem Brief Martinas von ihr die Rede ist, sollte ich besser unterrichtet sein als ich es bin. Aber ich kann mir keine Vorstellung machen. Vielleicht verhilfst du mir dazu. Ist sie wirklich eine so ungewöhnliche Frau, wie Martina sie schildert, so etwas wie eine Heilige beinahe?«

Anna Faber zuckte die Achseln. »Eine Heilige, nicht übel«, erwiderte sie geringschätzig. »Möglich, daß sie eine Heilige ist. Um so schlimmer.«

»Wie meinst du das: um so schlimmer?«

»Du tust nicht gut daran, gerade mich nach der Fürstin zu fragen«, grollte Anna Faber. »Ich stehe mit meiner Ansicht so ziemlich allein. Zwar kenne ich die Frau persönlich nicht, ich gehe nur noch selten unter Menschen, und wie ich höre, ist sie auch nicht das, was man gesellig nennt; im Gegenteil, sie scheint sich ein wenig auf die geheimnisvolle Unnahbare hinauszuspielen und zeigt sich nur einigen Auserlesenen unter ihren Anhängern und Anhängerinnen. Martina bestreitet, daß es das bei ihr gibt, Anhängerschaft. Auch lehrt sie nichts und fordert nichts, sagt Martina, kein Gelübde oder dergleichen. Es gäbe also auch keine Schüler und Adepten. Nun, und was sonst? fragt man. Darauf wird geschwiegen, hochmütig geschwiegen, als wäre man nicht würdig, von der Dame zu reden.«

»Das bildest du dir sicher nur ein, Mutter«, sagte Eugen begütigend, und es war der Stimme anzumerken, wie begierig er war, mehr zu vernehmen.

Anna Faber fuhr in wachsender Erregung fort: »Was man mir von der Frau berichtet und was ich von ihrem Tun und Treiben erfahre, geht mir dermaßen wider die Natur, wie wenn einer vor mich hinträte und spräche: du und dein ganzes Leben und ganzes Wirken, das war nichts als Lüge und Grimasse. Da revoltiert mein Gefühl. Das wirst du begreifen.«

Eugen hatte sich in eine Ecke des Raums zurückgezogen, wo tiefer Schatten war, als wolle er sich unsichtbar machen. »Nein, das begreif ich nicht, Mutter,« erwiderte er mit leiser Ungeduld, »du mußt dich deutlicher erklären. Mit solchen Vergleichen kann ich nichts anfangen. Bleiben wir bei den Fakten. Ist es wahr, daß die Frau so und so vielen Existenzen eine vollständig neue Grundlage gegeben hat? Eine neue seelische oder sittliche, vielleicht sogar religiöse Grundlage; ich weiß es nicht genau, ich halte mich natürlich nur an Martinas Mitteilungen. Die sind ja einerseits sehr präzis. Präzision ist eine ihrer großen Tugenden, andrerseits aber unterliegt sie doch einer fortwährenden Beeinflussung, die ihr gar nicht bewußt werden läßt, wenn sie übertreibt oder färbt. Außenstehende sollen oft kaum wahrnehmen, daß mit den Betreffenden eine solche Veränderung vor sich gegangen ist, eine Umwälzung ihres ganzen Wesens und Charakters geradezu, und das ist es hauptsächlich, was mich interessiert, das kannst du dir wohl denken. Und darauf möcht ich von dir eine Antwort haben; denn beruht es auf Richtigkeit, so läßt es allerdings auf eine merkwürdige Macht schließen, die die Frau ausübt, eine Macht, die zu fürchten wäre und wogegen einige andere Umstände, wie daß sie auf ihre Stellung, auf die Vorzüge ihrer Geburt verzichtet hat, nicht ins Gewicht fallen. Das kann Berechnung sein, Schauspielerei, Exaltation, was du willst. Von Belang ist bloß das eine.«

Er hatte mit einer außerordentlich gesuchten Trockenheit gesprochen, und alle Sätze klangen, wie wenn er sie seit langer Zeit zurechtgelegt und auf ihre Verständlichkeit im stillen geprüft und wieder geprüft hätte. Anna Faber hatte kaum erwarten können, zum Wort zu gelangen. »Ich weiß es nicht«, rief sie aus und erhob sich, indem sie den Stuhl wegstieß. »Ich habe nicht nachgeforscht und kümmere mich nicht darum. Wahr oder nicht wahr, das Verwerfliche bleibt bestehn.«

»Das Verwerfliche? wieso denn, Mutter?«

»Ja, das Verwerfliche. Die Abkehr von den schönen, stolzen lichten Dingen, für die ich und meinesgleichen einst ihre Opfer gebracht haben. Die Welt ist finster geworden, Sohn. Der Geist hat abgedankt und ist ins Grab gestiegen. Nun treiben die Gespenster ihren greulichen Unfug. Frömmelei und Wirklichkeitsflucht sind am Werk, um frech zu zerstören, was wir mit unserer Herzenskraft mühselig aufgebaut haben. Jammervoll hat die Zeit in den Seelen der Menschen gehaust, wer leugnets? Aber früher lebten wir auch nicht im Garten Eden, und wenn man verzweifeln wollte, gabs doch ein paar aufrechte Streiter, mit denen man Sturm lief gegen den Feind. Wo sind sie? Es ist keiner mehr da. Die Schwärze hat sie verschluckt, und wer das Wort Freiheit in den Mund nimmt, läuft Gefahr, gesteinigt zu werden. Ich sollte mich wehren. Ich kanns nicht mehr. Ich bin müde, ich bin alt, ich muß zusehn, wie meine Saat zerstampft wird.« Mit kurzen starken Schritten ging sie umher und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Freilich, Mutter, wir sitzen alle auf zerbrochenen Säulen«, kam die kühle Stimme aus dem Schatten; »wider das Allgemeine bäumst du dich vergeblich. Auch tust du unrecht, den einzelnen Menschen für das Scheitern deiner Lebenspläne verantwortlich zu machen. Hat Martina sich gegen dich über die Fürstin geäußert?«

»Daran erinnere ich mich nicht«, versetzte Anna Faber. »Ich glaube, wir hatten einmal einen kurzen Wortwechsel. Ich hatte mich verpflichtet gefühlt, sie zu warnen. Ich weiß nicht mehr, wie das Gespräch entstand und wie es verlief. Es war damals, als Fides zu ihr ins Haus kam. Ich warnte sie vor gewissen sektiererischen und geheimbündlerischen Umtrieben und vor gewissen Persönlichkeiten, deren einziges Bestreben es ist, junge Menschen in ihren Bannkreis zu ziehen und geistig zu ertöten.«

»Nun, und was sagte Martina?«

»Ich weiß nicht mehr, was sie sagte. Mich dünkt, sie sagte überhaupt nichts. Sie sah mich lächelnd an. Sie ist ja so seltsam unempfindlich gegen Argumente. Wenn sie einen Weg geht, blickt sie nicht nach rechts und nicht nach links. Und das blieb niemand verborgen, daß sie dieser Frau mit Haut und Haar verfallen war und noch verfallen ist. Wir haben es mit Schrecken erlebt, und konnten nichts dagegen tun. Wie du dich damit abfinden wirst, ist deine Sache. Jedenfalls steht dir eine schwere Aufgabe bevor, das verrät mir mein Instinkt. Auf Kampf mach dich gefaßt. Solltest du mich brauchen, so ruf mich.«

»Danke, Mutter,« sagte die kühle Stimme, »ich hoffe nicht, daß ich dich brauche.«

Er trat aus der Ecke hervor und murmelte verächtlich: »Kämpfen? Nein. Kämpfen will ich nicht. Um so etwas kämpft man nicht, da wäre man schon besiegt.«

Um eine Antwort zu verhindern, drehte er den Kopf und fragte: »Wo ist Klara?«

Die Mutter, noch mit ihren Empfindungen ringend, sah ihn verwirrt an, da schritt er zur Türe, öffnete sie und rief: »Klara!« Seine Stimme hatte einen Ausdruck von Angst. Er ging in den Flur hinaus und rief: »Klara!« Ein Mädchen kam aus der Küche und starrte ihn verwundert an. Er kehrte ins Zimmer zurück und sagte zu seiner Mutter: »Klara muß fortgegangen sein. Wohin ist sie gegangen?«

Anna Faber trat mit zärtlicher Bewegung auf ihn zu, jedoch er wich zur Seite und wandte sich wie ein Fliehender zur Tür des nächsten Zimmers; er ging auch hinein, und als ihm die Mutter folgte, ging er in ein zweites, dahinter liegendes Zimmer und sagte: »Wenn ihr mir eine Falle gelegt habt, werdet ihr mirs entgelten.« Anna Faber machte Licht, damit er wenigstens sehen könne; auf seinen Zügen malten sich Furcht und Bestürzung, der Blick flehte gleichsam: verbirg mich. Da hörten beide das Öffnen der Korridortüre, und sie hörten Klaras Stimme und hörten noch eine Stimme. Eugen blieb stehen, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu zittern; da trat schon Martina herein, lächelnd, bang und heiter lächelnd, schlank, viel schlanker und größer als sie in seiner Erinnerung war. Sie hatte einen weißen Strohhut mit Rosen auf dem aschblonden Haupt, und mit ihrem unsäglich anmutigen Schritt kam sie auf ihn zu.


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