Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

Es war weit über Mitternacht, als Faber erwachte. Er schaute eine Weile blicklos, dann drehte er den Kopf zu Fleming hinüber und faßte ihn scharf ins Auge. Mehrere Sekunden sahen sie einander stumm an, endlich sagte Faber: »Du mußt mir von Vaters Tod erzählen. Ich weiß fast nichts. Die kurze Nachricht, Monate nachher, mehr nicht. Er ist sechsundfünfzig Jahre alt geworden. Wenig für einen Mann mit einer solchen Natur. Ich dachte immer, er müßte neunzig werden. Man ist nie darauf gefaßt, daß einem der Vater stirbt. Vater ist wie etwas Ewiges.«

»Er hatte bei aller Widerstandskraft einen sehr zarten Organismus«, sagte Fleming.

»Er war nie krank, soweit ich mich erinnere«, fuhr Faber fort; »merkwürdig, daß so viele Männer mit sechsundfünfzig sterben. Es scheint eine Epoche in der physischen Existenz zu sein. Woran ist er gestorben? hat er um seinen Tod vorher gewußt? hat er leiden müssen?«

Fleming antwortete: »Es war eine Herzmuskelentartung mit urämischen Erscheinungen. Ich glaube nicht, daß er sich über seinen Zustand getäuscht hat. Er hatte die Gabe, den eigenen Körper zu sehen, und bis zum letzten Augenblick war er vollkommen gelassen. Am Abend vor seinem Tod saß ich länger als eine Stunde an seinem Bett, und wir unterhielten uns von allem möglichen. Er sagte, wenn du eines Tages zurückkämst, würdest du Mühe haben, mit den verrosteten Schlüsseln alle die verrosteten Schlösser aufzusperren. Was er damit meinte, war mir nicht ganz klar.«

»So? hat er das gesagt?« warf Faber ein und erhob lebhaft den Kopf; »das scheint mir doch ohne weiteres klar.«

»Ja, ja, vielleicht meinte er unsere Welt im Ganzen«, gab Fleming zu; »in der Beziehung war er schrecklich pessimistisch geworden. So sagte er zum Beispiel, sein Leben weise einen einzigen großen Grundirrtum auf: er habe alle Menschen von vornherein mit einem Pluszeichen versehen statt mit einem Minuszeichen. Es war ja seine Art, sich immer ein wenig, wie soll ichs nennen, ein wenig umschreibend auszudrücken. Aber das ist ziemlich sicher, daß ihm das Leben keinen Spaß mehr machte und daß er eine sonderbare Empfindlichkeit gegen gewisse Personen hatte. Kurz bevor er krank wurde, war einmal ein junger Advokat bei ihm, ein Doktor Emmerich, ich weiß nicht, ob du ihn kennst. Er hat früher viel in euerm Haus verkehrt; in den letzten Jahren hatte er seine Hände in allerlei dunklen Angelegenheiten, ist auch sehr schnell reich geworden. Während des Gesprächs mit ihm beobachtete ich, wie dein Vater auffallend blaß wurde; plötzlich verließ er das Zimmer. Draußen mußte er sich erbrechen, vor Ekel erbrechen. Er gestand mir, das passiere ihm oft seit einiger Zeit, manche Leute und was sie redeten, flößten ihm solch unüberwindlichen Ekel ein. Er ist auch immer ernster geworden. Lächeln sah man ihn eigentlich nur noch, wenn Martina kam. Wenn die ins Zimmer trat, leuchtete sein Gesicht. Manchmal brachte sie den Christoph mit; dann war er ganz aufgebunden und vergaß seine Krankheit.«

»Nun, du hast jedenfalls was zu erzählen«, sagte Faber, und seine Mundwinkel zuckten. »Das mit den verrosteten Schlüsseln gibt einem stark zu denken. Und wie gehts der Mutter? wie lebt sie? Vaters Hinterlassenschaft kann ja nicht groß gewesen sein. Daß sie zu Klara gezogen ist, hat sie mir geschrieben. Behagt ihr das? kann sie sich in einem fremden Haushalt zurechtfinden? Klara scheint sich ja rasch zur Ehe entschlossen zu haben; der Wildfang ist also zahm geworden? Und ihr Mann, was für eine Sorte Mensch ist das, dieser Hermann Hergesell?«

»Ich verkehre nicht mit ihm«, antwortete Fleming zögernd. »Er ist der einzige Sohn eines unserer reichsten Industriellen, Maschinenfabrik Hergesell, den Namen wirst du wohl kennen. Er hat keinen Brotberuf, betätigt sich aber politisch, im Sinn der Gegenrevolution. Ich weiß nicht, wie sich Klara dazu verhält; daß sie zahm geworden ist, dürfte stimmen. Sie hat zwei Kinder, denen sie sich ausschließlich widmet und die deine Mutter natürlich nach Kräften verhätschelt. Im übrigen ist Anna Faber nicht mehr, was sie war. Auch sie hat ihren Tribut an die Zeit bezahlt wie wir alle.«

Er machte eine Pause, dann verfinsterte sich sein Gesicht. »Warum willst du das alles von mir wissen?« fuhr er fort; »du wirst sie ja sehen. Warum fragst du nach deiner Mutter und deiner Schwester? Du wirst sie ja sehen. Nach allen fragst du, nur nach Martina nicht; warum?«

Er erhob sich, nahm die Brille ab, wischte mit der Hand über die Augen und suchte gepreßt nach Worten. »Warum bist du bei mir und nicht bei ihr?« fragte er streng; »was hat das zu bedeuten? was ist geschehen zwischen euch? Weißt du denn auch, wie Martina gelebt hat in all den Jahren? wie tapfer sie sich durchgeschlagen hat samt dem Kind? Es ging knapp und immer knapper, und sie war doch gewöhnt, ein bißchen Schönheit und Luxus um sich zu haben. Weihnachten vor zwei Jahren teilte sie mir in ihrer leichten Art mit, sie habe das Opalgehänge versetzen müssen, das du ihr geschenkt hattest. Sie lachte darüber, aber es war ihr nicht zum Lachen ums Herz. Und dann kam plötzlich dieser Glücksfall mit dem Verkauf der Marmorgruppe. Das wird sie dir ja geschrieben haben. Es war das letzte Werk ihres Vaters, und kein Mensch hatte geglaubt, daß es je einen Anwärter finden würde. Aber wir hatten die große Hausse und den großen Geldüberfluß, die Leute wollten ihren papierenen Reichtum in handgreifliches Gut verwandeln, und so erschien der Kapitalist, eben jener Advokat Emmerich, von dem ich dir erzählt habe, der das Wiedmannsche Opus für eine erhebliche Summe erstand. Damit war dann Martina geholfen, und ausgiebig geholfen. Das wirst du ja alles wissen.«

»Ja, das weiß ich«, sagte Faber.

»Und das andere, das mit der Fürstin, weißt du natürlich auch ...«

»Ja, das weiß ich auch«, murmelte Faber mit tief gesenktem Kopf.

»Wenn ich richtig schätze, ist es anderthalb Jahre her, daß sie die Fürstin kennt«, fuhr Fleming mit etwas beklommener Stimme fort; »sie hat sich allerdings während dieser Zeit verändert, das ist nicht zu leugnen. Die Beziehung nimmt sie vollständig in Anspruch, besser gesagt der Dienst, die übernommene Pflicht. Außerdem die Fürstin selbst. Sie übt natürlich auf Martina einen großen Einfluß aus, einen ungeheuren Einfluß ...«

»Ich denke auch«, sagte Faber dumpf.

»Trotzdem, wenn man meinen sollte, daß sie dabei ihre Heiterkeit eingebüßt hat, so irrt man sich gewaltig. Und wenn wer kommen sollte und behaupten, daß sie dir nur mit einem Hauch die Treue nicht bewahrt hätte, was sag ich, die Treue! die innerste lauterste Seele, dem würd ich die Lästerzunge aus dem Maul reißen, das kannst du mir glauben. Du hättest sie nur sehen müssen, wenn ein Brief von dir kam oder überhaupt ein Lebenszeichen. Was ist also mit dir? was geht vor mit dir, mein lieber alter Eugen?«

Er hatte sich so in Hitze geredet, daß er mit der Hand an den Hals griff, weil ihm der Atem ausblieb. Faber war indessen ebenfalls aufgestanden und schaute mit verzogener Stirn vor sich zu Boden. »Du bist ein treuer Freund, Fleming,« murmelte er nach einem schier endlosen Schweigen widerwillig bewegt, »und du hast mit allem recht, was du sagst. Aber antworten kann ich dir nicht. Ja, du hast recht,« wiederholte er noch leiser und drückte die Schultern ein wenig zusammen, »aber siehst du, da gibt es Dinge, die sich nicht erklären lassen, auch wenn man noch so gern sprechen möchte.«

»Der Teufel hol diese Dinge!« schrie Fleming und lief mit zappelnden Armbewegungen auf und ab. »Entweder bist du total verrückt oder du bist derselbe Mensch nicht mehr, und sie haben irgendwas Entsetzliches mit dir angestellt, die Schurken.«

Faber ließ ihn noch eine Weile toben, dann tippte er ihn am Ärmel; als Fleming stille hielt, legte er ihm beide Hände auf die Schultern und schaute ihn mit seinen schönen großen Tieraugen ruhig an. »Kannst du dir einen Begriff davon machen, wie lang ein Jahr dauert, wenn man einsam ist?« fragte er mit umwölktem Lächeln. »Stell dirs vor: ein einziges Jahr. Und dann verfünffache das Furchtbare. Jeder Traum, den man träumt, ist ein Wahrgesicht, und die Worte, die einem von außerhalb zukommen, haben eine Bedeutung, eine unheimliche Doppeltheit und Durchsichtigkeit, vor denen keine Illusion mehr standhält.« Er verstummte einen Moment, dann fuhr er mit veränderter Stimme fort: »Schweig, Fleming. Schlag keinen Lärm und zerbrich dir nicht den Kopf. Ich gehe jetzt wieder in meine Gasthofstube und schlaf erst mal ordentlich aus.«


 << zurück weiter >>