Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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20

Als Faber am andern Mittag die Treppe des Amtsgebäudes herunterging, klopfte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Er drehte sich um und sah einen seiner Gefährten von der Heimreise vor sich stehen, der ihm lächelnd die Hand bot. Es war dies ein junger Mann namens Baltesser, den Faber wegen seines überheblichen Wesens nie besonders hatte leiden mögen; die andern Kameraden hatten sogar einen Scherzreim auf ihn gemacht: Baltesser weiß es besser. Er war groß und schlank, doch salopp in der Haltung, hatte ein wohlgebildetes glattrasiertes Gesicht mit mißtrauisch blickenden, unverläßlichen Augen und eine jener trügerisch hohen Stirnen, die weniger auf geistige Vorzüge als auf Ehrgeiz und Eigensinn deuten.

Baltesser schien auf Faber gewartet zu haben. Das Gespräch wurde anfangs von beiden Seiten zurückhaltend geführt. Baltesser, dessen Witterung sehr fein war und der offenbar an Faber einen ungewöhnlichen Gemütszustand bemerkte, eine Art Verstörung fast, die der Absicht, mit der er sich trug, möglicherweise zustatten kommen konnte, tastete sich vorsichtig an Fabers Interesse heran.

Er hatte sich seit seiner Rückreise aus Asien mit erbitterter Leidenschaft in die Politik gestürzt und sich innerhalb kurzer Zeit zu einem der Wort- und Tatführer der radikalen jugendlichen Linkspartei aufgeschwungen, die ihr Vorbild im russischen Terror sahen. Faber hatte seinen Namen in den Zeitungen gelesen, meist neben dem eines gewissen Peter Arquint, eines Literaten, auch einige recht blutrünstige Reden, die er bei verschiedenen Gelegenheiten gehalten. Seine Sympathie für Baltesser war aber zu gering gewesen, als daß er sich in seinen Gedanken damit beschäftigt hätte.

Sie gingen ein Stück miteinander. Nicht ohne Geschicklichkeit, weil ebenso auf die vermutete Verdüsterung wie auf die von den meisten seiner Genossen sehr verschiedene Geistesrichtung Fabers berechnet, warf Baltesser sein Fangnetz aus. Faber hörte halb gelangweilt, halb verwundert zu, und er begleitete Baltesser, weil ihm anscheinend jeder Weg lieber war als der nach Hause.

Da fiel der Name der Fürstin. Baltesser sprach ihn mit unverhohlener Feindseligkeit aus. Er bezeichnete das Werk der Fürstin als ein rührseliges Theater größten Stils, bei welchem es darauf abgesehen sei, dem armen, leidenden Volk Sand in die Augen zu streuen und es über die wahren Ursachen seiner Not und Knechtschaft hinwegzutäuschen. Derlei Versuche der bürgerlich-kapitalistischen Welt, die Abgründe, an deren Rand sie ihr sündenvolles Treiben aufführe, mit einer versöhnlichen Tapete zu überdecken, seien so alt wie die Geschichte selbst. Dadurch sollten die Sehenden geblendet und die Blinden zum Lobgesang gebracht werden, und das werde leider auch erreicht, in diesem Fall mit ungeheuren Auslandsmitteln und frechem Humanitätstamtam. Phantasierten doch manche Leute, wahrscheinlich beteiligte Aktionäre, von einer neuen Religion, bei der die Fürstin eine Art Apostelamt übernommen habe; Religion; als ob es gerade das sei, was man sich wünsche; als ob die Köpfe nicht ohnehin verdummt genug wären. Jetzt sollten der Kinderstadt noch drei Quadratkilometer Land zur Verfügung gestellt werden, außerdem ein Zuschuß für Neubauten; dafür habe diese Regierung plötzlich Geld, die ruhig zusehe, wie in den vorstädtischen Mietshäusern Dutzende von Menschen in einem Loch kampierten, gar nicht von denen zu reden, die unterstandslos auf dem Straßenpflaster lägen.

Es handelte sich, soviel Faber begriff, um eine großangelegte Demonstration, das, was Baltesser die Verkündigung des Volkswillens nannte. Ohne Zweifel wußte Baltesser, welche Rolle Martina Faber in der Kinderstadt und im Dienste der Fürstin spielte. Ohne Zweifel war dies der Grund, weshalb man sich seiner Person zu versichern wünschte; es mußte Eindruck machen, wenn er sich zu den Gegnern der Fürstin und ihrer Gemeinde schlug. Vielleicht konnte man dies um so eher hoffen, als man sich Nachrichten verschafft hatte, daß nach Fabers Heimkehr seine Ehe durch Zwistigkeiten getrübt war, die mit Martina Fabers Tätigkeit zusammenhingen.

Auch das begriff Faber. Wenn er es sich nicht völlig klar machte, so mußte er es wenigstens spüren. Was nach Politik nur schmeckte, war ihm von jeher ein Greuel gewesen. In früheren Jahren hatte er häufig mit Fleming darüber disputiert, der in Fabers Widerwillen einen unmännlichen Quietismus sah, bequeme und feige Abkehr von den Forderungen, die das öffentliche Wohl an den Einzelnen zu stellen berechtigt war. Hiegegen hatte Faber kein anderes Argument gehabt als eben: seinen Widerwillen. Einmal sagte er: »Mit schmutzigen Händen kann man nicht Reines machen. Politik ist Schmutz.« Fleming hatte den Kopf geschüttelt und erwidert: »Eine Leitartikelweisheit; außerdem falsch; jeder Gärtner hat schmutzige Hände; verachtest du deswegen seine Blumen? Nur wenn er dir Kehricht für Blumen aufschwatzen will, darfst du ihn verachten.«

Baltesser war ein zäher Anwalt seiner Sache. Gerade der wortkarge Hochmut, der seine Gesellschaft sonst unangenehm machte, verhalf ihm bei solchen Anlässen durch Wirkung des Gegensatzes zu Sieg. Jeder fühlte sich schon geschmeichelt, wenn er sich zu sprechen entschloß. Aber einen noch viel unwiderstehlicheren Werber lernte er in Arquint kennen; denn, apathisch und ziellos, wie er an diesem Tage war, hatte er sich in Baltessers Wohnung schleppen lassen, die im Norden der Stadt lag und an einen Speicher grenzte, der bisweilen als Versammlungslokal diente. Sie trafen Arquint vor der Tür; er trug eine Aktentasche voller Schriftstücke. Es war ein kleiner, sehniger, nervöser Mensch mit einem hohlwangigen Asketengesicht und einer stoßhaften, höhnischen, herausfordernden Art zu reden. Baltesser erschien neben ihm als Phlegmatiker. Er kam von einer Agitationsreise, und als er davon erzählte, spannte sich jeder Muskel in seinem Gesicht, und seine Wangen wurden gelb. Überall in dem unwirtlichen Raum lagen Broschüren in grellfarbigen Umschlägen und mit aufreizenden Titeln; an der Wand hing das Porträt von Karl Marx, mit Tannenzweigen umkränzt. Einmal öffnete sich die Tür und eine schwarzhaarige junge Person schaute herein; doch nach einem Blick auf Baltesser, der sie über die Schulter hinweg gleichgültig ansah, verschwand sie wieder.

Faber schaute bald den einen, bald den andern der jungen Männer forschend an. Seine Miene und seine Haltung ließen kein Urteil zu, welchen Eindruck sie auf ihn machten. Dies abwartende und undurchdringliche Benehmen trieb Peter Arquint mehr aus sich heraus, als wenn er Anteil oder Neugier gezeigt hätte. Als Baltesser die Aktion gegen die Kinderstadt erwähnte, lachte Arquint trocken und verbreitete sich in einer höchst seltsamen Weise über dieses von Menschenfreunden begründete und, wie er zugab, Menschenfreundlichkeit bekundende Unternehmen. Es sei nur nicht mehr an dem, daß Menschenfreundschaft dienen könne, sagte er, und in seine Augen kam ein prophetischer Glanz; was die gegenwärtige Zeit von allen andern unterscheide und ihr ein besonderes Schicksalszeichen aufdrücke, sei der Bankrott des Herzens, zu dem sie sich selbst erklärt habe und der allerorten erkennbar sei; daraus habe sie ihre Konsequenzen zu ziehen, daraus ihre Kraft, ihre Entschlossenheit, ihre Ideale zu schöpfen, nicht aber aus den erbärmlichen Überbleibseln einer vergangenen und abgewirtschafteten Welt. Freilich, das zu sehen und das starke Neue zu wollen, erfordere Bekennermut; mit Güte und Schonung und Leidenshilfe und Liebe und wie sonst die lügnerischen Arzneien gegen Europas hundertjährige Agonie sich nannten, sei es vorbei. Für Gebrechen gäbe es keine Heilung; sie pflanzten sich nur unter der Narbe fort, und die Schäden, die die Gesellschaft ihren Geknechteten und Geknebelten zugefügt, seien nicht auszumerzen, bevor diese Gesellschaft nicht selber vom Erdboden verschwinde.

»Sie retten Kinder aus leiblichem Elend«, fuhr er fort, »und was, im besten Fall, harrt ihrer? das seelische. Oder sie heben sie geistig, nehmen wir an; mit welchem Erfolg? damit sie nachher die Finsternis unter den übrigen besser sehen. Tausend Kinder, zehntausend Kinder, meinetwegen hunderttausend; na, und die andern hundert Millionen? Sysiphus war ein Optimist gegen solche Leute. Es ist immer dasselbe; sie haben keine Ahnung vom Symptom. Sie hören die Glocken erst läuten, bis ihnen das Trommelfell platzt. Sie sind stolz auf die Trockenpräparate der paar geretteten sozialen Opfer, und an den Bergen von Leichen drücken sie sich, hast du was bemerkt? ich hab nichts bemerkt, scheinheilig vorbei. Lauter Christusse, lauter Erlöser! Euer Blut? ihr seht doch, wir vergießen Tränen; eure zerschundene Existenz? wir seufzen ja seit neunzehnhundertvierundzwanzig Jahren. Darf ich fragen«, wandte er sich plötzlich schroff an Faber, »welche Entschädigung man Ihnen gegeben oder angeboten hat für die sechs Jahre sibirischen Tod?«

Faber zuckte zusammen. Er schwieg.

»Den Bau eines Kinderasyls vielleicht?« höhnte Arquint; »damit Sie sich an dem Schauspiel erquicken können, wie man den schwindsüchtigen, skrophulosen, idiotischen, anämischen Nachwuchs des dankbaren Proletariats in die Mysterien der Bildung einweiht? Äußerst schlaue Spekulation, einen Mann vergessen zu machen, daß man ihm die Blüte seines Lebens, so mitten aus der Mitte heraus, zertreten hat, den ganzen Kern der Existenz. Oh, ihr Vergeßlichen! ihr seid so schuldig wie eure Mörder. Denn Mord war es doch. Fühlen Sie nicht, daß Sie ermordet worden sind?«

Faber verfärbte sich und stand auf. »Sie mögen nicht unrecht haben«, sagte er befangen.

Abermals war die Tür aufgegangen, und das schwarzhaarige Mädchen, als sie Arquint so laut sprechen hörte, trat herein, näherte sich Baltesser, der sich an den Tisch gesetzt hatte und einen Brief las, lehnte ihren Arm auf seine Schulter und schaute in den Brief. Baltesser beachtete ihre Gegenwart und ihr schüchternes Anschmiegen nicht; die tiefe Unterwürfigkeit, die sie ihm in Blick und Gebärde bezeigte, war ihm sichtlich zuwider. Faber sah, daß sie hochschwanger war.

Baltesser fragte ihn wie beiläufig, ob er nicht seinen Namen unter den Aufruf schreiben wolle, der gegen die Kinderstadt gerichtet war und als erstes Kampfsignal verbreitet werden sollte. Er erwiderte, er müsse sichs überlegen und nickte bloß, als Baltesser sagte, er werde sich den Bescheid bei ihm holen. Dann verabschiedete er sich. Auf der Treppe gewahrte er einen alten Mann und eine alte Frau, die sich scheu vor ihm zur Seite drückten. Sie waren ärmlich gekleidet und schienen schon seit einiger Zeit hier zu stehen. Plötzlich redete ihn die Frau zaghaft an. »Haben Sie sie gesehen?« fragte sie. Verwundert blieb Faber die Antwort schuldig. »Sie meint, ob Sie unsere Tochter oben getroffen haben«, erklärte der Mann; »sie wohnt nämlich bei Herrn Baltesser. Entschuldigen Sie, wenn wir gestört haben.« Es waren offensichtlich Juden. Düster versonnen ging Faber weiter.

Da ihn in der Nacht der Schlaf floh, stand er vom Bett auf, setzte sich an den Tisch, nahm Papier und Bleistift und schrieb das Folgende:

»Fides oder Martina, ich weiß nicht, an wen von euch beiden ich dieses schreibe. Oft verschmelzt ihr in meinem Bewußtsein zu einer Person; dann wieder scheidet ihr euch weit, und ich kann keine fassen. Die Stumme und die Redende; sie halten einander bei den Händen. Die Stumme hat zuviel von mir verlangt; wie hätte ich sie verstehen sollen, da ich doch des Zuspruchs bedürftig war und selber so lang zur Stummheit verurteilt. Die andere hat mich öffnen können; sie hat nicht die Mühe gescheut, mit den verrosteten Schlüsseln die verrosteten Schlösser aufzusperren, wie mein armer Vater sich ausdrückte. Vielleicht war ich ihr gegenüber zu unbedenklich in Geständnissen. Es ist nicht gut, wenn die Menschen alles voneinander wissen, nicht gut, in allen Abgründen herumzuleuchten. Manches hab ich bereut, zum Beispiel, was ich ihr von gewissen Entbehrungen mitteilte. Ich sagte mir nachher: es ist unmöglich, daß eine Frau wie sie, trotz allem, was sie erlebt hat, es ohne Widerstreben anhören kann, vom Verstehen zu schweigen. Ihre Erziehung, die soziale Schicht, aus der sie stammt, schließlich die verfeinerte Richtung ihrer Persönlichkeit, das alles hindert sie an vorurteilsloser Auffassung. Und was die Geschmackswirkung anlangt, ist zwischen einem heiligen Antonius mit seinen Visionen und einem brünstigen Tier der Unterschied nicht groß. Jedenfalls mußte sie den Eindruck haben, daß ich da drüben allmählich außer Rand und Band geraten bin. Ach ja; machen wir uns nichts vor; der Wahnsinn hatte begonnen, Krankheit, Verworrenheit. So wars, ich leugn es nicht. Sehnsucht: ein zartes Wort. Aber meine Sehnsucht hatte keinen Geist und keine Seele mehr; sie zersprengte den geplagten Körper; sie war schwarz geworden wie Silber, wenn es in nasser Erde liegt.

»Erinnerst du dich, Martina, daß wir einmal vor vielen Jahren Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorf zusammen lasen, und daß du bei der schönen Stelle am Schluß, wo der Sali das Vreneli aufs Schiff trägt und sie dann miteinander sterben, zu mir mit feurigen Blicken sagtest: das ist das Richtige; so muß es sein; entweder – oder; erinnerst du dich? Alle beide haben wir, das darf ich getrost behaupten, das Entweder – Oder festgehalten. Wir konnten nicht vorlieb nehmen, weder du noch ich; wir konnten uns nicht mit dem Surrogat begnügen, weder du noch ich. Wir hatten ja in wirklicher Vereinigung gelebt. Damals, als ich von dir wegging, wußt ich noch nicht, was das bedeutet; ich war ein unreifer Mensch, hatte nichts in mir geordnet, hatte keine Ahnung davon, wie die Mehrzahl der Menschen sich in dem Punkt behilft und aus der Not eine Tugend macht; wußte nicht, daß es unter tausend Fällen von Liebe und Ehe, glücklicher Liebe und glücklicher Ehe, kaum einen gibt, bei dem die wirkliche Vereinigung stattfindet. Inzwischen habe ich viel darüber gedacht und viel gehört. Was ist Erfahrung? Die Dinge in sich hineinnehmen und sich von ihnen erfüllen lassen. Es gab Stunden, wo ich mir die Gesichter aller Menschen, mit denen ich je zu tun gehabt, gleichgültigen und nahen Menschen, Zug für Zug vor Augen stellen konnte, mit einer Deutlichkeit und Genauigkeit, die sie nie gehabt, während sie mir gegenwärtig waren; da kam ich auf Geheimnisse, von denen sie selber nicht einmal etwas wußten. Das nenn ich Erfahrung. Wir hatten im Lager einen merkwürdigen Mann; gut, daß ich seiner gedenke, gut, daß ich wenigstens seinen Namen hinschreibe, Alexander Wehn, hier weiß niemand mehr von ihm, sogar von seinem Tod nicht. Kurz nach meiner Flucht hat ihn der Typhus weggerafft. Er hat die Menschheit nicht gerade geliebt, war ein Zyniker durch und durch, aber mit was für Einblicken und Einsichten. Wehn war Mediziner, seiner Neigung nach Psychiater. Gar manche Nacht sind wir in den endlosen Barackenwintern beisammengesessen und haben geplaudert; fast stets über ein und dasselbe Thema. Er hat mir erklärt, wie es kommt, daß die meisten Männer und Frauen in ihrer Unwissenheit und Achtlosigkeit fortwährend die Natur beleidigen; jeder geht im körperlichen Zusammenleben seinen Weg für sich; jeder nimmt seine Lust für sich; so verkümmert und verdorrt der eine allmählich am andern und durch den andern.

»Es ist so furchtbar schwer; die Sprache reicht nicht hin. Es gibt kein Liebesglück und folglich auch im allgemeinen kein Glück ohne tiefe und beständige Wachsamkeit des Leibes und der Seele. Das war das Resultat unserer Diskurse. Gleichgeteilte gleichzeitige Empfindung; wo die nicht ist, bis in die letzte Nervenfaser und bis ins Zentrum des Herzens, da fängt schon das Absterben an. Wie die Männer nicht gelernt haben, die Frauen zu führen, und wie Mädchen in der Ehe altern, ohne Frauen zu werden, davon die Ursachen aufzuzählen, kann ich ja unterlassen, sie sind so zahlreich wie die Lügen und Larven, die uns umgeben, spür ichs doch täglich, stündlich jetzt; weil das also so ist, deswegen hat sich in unserer Kulturregion nach und nach ein unheilbarer Liebesdefekt eingenistet. So sagte Wehn, und er bewies mir aus vielen Fällen, die er beobachtet hatte, wie infolge dieses Liebesdefektes unsere Welt voll und übervoll ist von unbefriedigten Seelen, Geschlechter hindurch, Jahrhunderte hindurch. Es ist wie eine progressive Vergiftung, sagte Wehn, und was für Bezeichnungen die Ärzte auch dafür wählen, Neurasthenie, oder Degeneration, oder Hysterie, oder was immer, die Wurzel liegt in dem einen. Diese unbefriedigten Seelen nagen aneinander, quälen einander, hassen und mißtrauen einander; sie fühlen sich schuldig, sie wissen nicht recht wessen, und nähren eine verhaltene Rachsucht, sie wissen nicht recht, warum. Ein Teil von ihnen geht an seiner Schwäche zugrunde, an Müdigkeit, an Hoffnungslosigkeit, an Enttäuschung und an Versteinerung; der andere Teil tritt aus allem Gesetz heraus und greift zur Rebellion. »Ist es die Wahrheit? Damals zweifelte ich an dem vernichtenden Bild. Es stimmte mir alles ein wenig zu sehr, deshalb zweifelte ich. Man hätte tiefere Kenntnis haben müssen als ich, in mehr Lebensgebiete eingedrungen sein müssen, um sagen zu können: es ist wahr. Doch seit ich zurückgekehrt bin, spür ich in dem Bezug ein verhängnisvolles Nachgeben, und mir ist, als brodelte Schlimmes in meinem Gemüte. Daß wir in unserer jungen Ehe ohne Fehl und Trug in der wirklichen Vereinigung gelebt, Martina, in immer sich erneuernder, war ein gar seltenes Spiel der Natur; wir Arglosen ermaßen es nicht und würdigten es nicht; vielleicht weil wir, halbe Kinder noch, einander gefaßt hielten und uns in den Gleichton stimmen konnten, ich ohne Übernommenes vorher, du in der Gnade, die dir gegeben ist. Später dann und fern von dir hob sichs wieder wie Gottesgeschenk aus dem übrigen Leben heraus; ich zitterte beständig drum wie einer, der ahnungslos einen Barren Goldes besessen hat, und die Tag- und Nacht- und Traumnot macht langsam Zahlmünze daraus. Denn wußt ich's einmal, so wars Münze und schon nicht mehr das Ganze, das Unschuldige, das Herrliche, was vom Schoß der Erde ist. Und als du mich wieder aufnahmst in jener Nacht; ich hab es zu Fides gesagt: als ob man von einem Turm heruntergestürzt wäre, genau so. Unsere Körper gaben einander keine Antwort mehr. Ich war auf einmal in meinen Augen zum Krüppel geworden. Und da ist das Gift in mir wirksam geworden. Jeder Sinn hat sich verdunkelt, Aug und Gefühl; es stiebt mit mir wohin, und ich will nicht folgen, aber ich muß. Ich gehe auf der Straße, und es packt mich der Haß gegen die unbekannten Menschen, die mir begegnen; jedes einzelne an ihnen erregt meinen Haß, ihre Füße beim Gehen, ihre Finger beim Greifen; das Gelächter von dem und der Blick von dem, die Kleinen und die Großen, die Alten wie die Jungen, Arme und Reiche, gleich verhaßt sind sie mir; ich bin mit bösen Gedanken hinter ihnen her; wie ein Wolf bin ich hinter ihnen her; mir graut vor ihnen; ich seh sie nackt, die scheußlichen Leiber, die fetten Wänste, die schlottrichte gelbe Haut, die häßlichen Spuren ihrer Ausschweifungen, die Verwüstungen des Alkohols, die Narben der Syphilis, von der neun Zehntel unter ihnen verseucht sind. Da schaut mir einer unverschämt ins Gesicht; ein Herrchen ists, ein beliebiger Geck; Gott weiß, wem er gerade den Hof gemacht hat, er sieht gar so selbstzufrieden aus. Es kitzelt mich, wenn ich mir vorstelle, daß ich ihn nehmen darf und hinter mir herschleifen; hab ich ihn dann in Gewahrsam, so will ich ihm zusetzen bis ihm alles vor den Augen tanzt; was für Einrichtungen sind das dahier? wozu haben Sie, Verehrtester, die Menschenwelt durch Ihre Geburt besudelt? Warum kichern Sie bei hellichtem Tag auf der Gasse? sehen Sie nicht, Sie Dieb und Fettsack, Fresser und Wüstling, was Sie angerichtet haben? Sie wissen von nichts? Darum sind Sie mir nicht weniger verantwortlich, mir nicht weniger schuldig. Und ich berausche mich an dem Gedanken, ihn zu martern, ihn unter meinen Füßen zu zertreten.

»O Fides!

»Ists das, was nach all der Bitternis das Wiederkommen aus mir gemacht hat? das? einen heimlichen, hämischen Brandstifter? Einen, der den eigenen Herd in Trümmer schlägt und vielleicht den eigenen Sohn mit seinen Wurzeln aus dem Boden reißt, weil er selber keine Wurzel mehr hat –? Rebellen sind leichtbewegliche Leute, haben nichts übrig für die Seßhaften; Schlupfwinkel brauchen sie, fliegende Quartiere. Viele solche sind da; seit ich ihren Geruch angenommen habe, riechen sie mich schon von weitem, ziehn ihre Kreise um mich her, und es scheint, Eugen Faber ist ihnen sicher ...« An dieser Stelle brach er ab, blieb eine Weile verloren sitzen und verschloß hierauf die Blätter sorgfältig in einer Lade. Als er vom Tisch aufstand, griff er sich mit einem dumpfen Laut an die Brust. Das Herzklopfen meldete sich wieder, das ihn einige Wochen lang verschont hatte.

Am andern Morgen kam Martina von der Reise, zwei Tage früher als sie geglaubt und geschrieben hatte. Sie hatte keine Depesche vorausgeschickt, weil sie sich bei solchen Anlässen zu wenig wichtig nahm und auch, weil sie kleine Überraschungen liebte.


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