Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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15

»Um die Zeit, als Martina die Fürstin kennen lernte,« begann sie mit einem von Minute zu Minute ernster werdenden Gesicht und einem in den Gegenstand gleichsam sich hineinträumenden Blick, »durfte sie ja schon auf Ihre Rückkehr aus der Gefangenschaft hoffen. Viele kamen damals heim, Gatten, Väter, Söhne, Brüder; viele wurden sehnsüchtig erwartet. Auch für Martina waren die Monate und Jahre in Sehnsucht vergangen. Es war ihr allmählich recht schwer geworden, einen Tag an den andern zu binden; und die Abende und Nächte, die waren noch ärger. Alles war so lose und stückhaft; die Regelmäßigkeit im Wechsel so quälend. Jedes Tun erschien ihr unnütz. Sie hatte auch mit Sorgen zu kämpfen; Geldsorgen erst; Sorgen wegen Christophs Erziehung; Sorgen wegen der Unsicherheit ihrer Lage. Sie mochte sich an keinen Menschen anschließen; sie hatte nicht die Lebenskunst, das Konventionelle nicht, das dazu gehört. Ihre Leichtigkeit liegt ja wo anders. So sah sie sich von Woche zu Woche mehr vereinsamen. Bisweilen kam Doktor Fleming; aber was sollte sie mit ihm? Seine demütige Verehrung rührte sie, amüsierte sie auch, aber als Mann und Mensch flößte er ihr ein unbestimmtes Mitleid ein, und sie liebt es nicht, zu bemitleiden. Mit Klara konnte sie sich nicht verstehen; es war immer ein spöttisches Hinüber und Herüber, ohne daß sie einander was sagten. Mit Frau Anna ging es auch nicht; über die Gründe muß ich mich ja nicht äußern. Solange Doktor Faber lebte, hatte sie bei dem eine Zuflucht; sie hat mir oft von ihm erzählt; er scheint ein wunderbarer Mann gewesen zu sein, bei dessen Tod sie zum erstenmal in eine verzweifelte Gemütsstimmung geriet.

»Ich glaube, ich bin dessen fast sicher, daß in den Monaten zwischen Doktor Fabers Tod und der Begegnung mit der Fürstin entscheidende Veränderungen mit Martina stattgefunden haben. Darüber zu reden, ist allerdings kaum möglich. In das zarte Geäder hineingreifen? Verletzt mans doch beim bloßen Drandenken. Die Dinge zeigten sich anders, und auch von sich selber gewann sie ein neues Bild. Halten Sie sich nur einmal vor Augen, wie die Frauen leben; die tägliche Pflicht; der eingelernte öde Hausdienst; mechanischer Trott in Freud und Leid; und alle tieferen Verantwortungen mit Ausnahme von denen für die Kinder, die doch die wenigsten ernst nehmen, auf die Schultern des Mannes überbürdet; wie soll man da zu einer Wahrhaftigkeit des Daseins kommen? Sie schlafen ja eigentlich alle, sie sind auch gezwungen dazu, denn für ihr Wachsein gibts noch keinen Platz. Vielleicht ist Martina damals aufgewacht. Vielleicht gefiel sie sich in der bisherigen Rolle nicht mehr; in der Behaglichkeit einerseits, in der Unsicherheit anderseits nicht. Dasitzen, die Hände in den Schoß legen, sich traurig hinsehnen und warten: vielleicht ertrug sie das nicht länger. Jedenfalls fing es damit an. Es fing damit an, daß sie sich der Schwäche und Hilflosigkeit schämte. Und daß sie den Entschluß faßte, nicht müßig stehen zu bleiben und zu warten, sondern dem Erwarteten entgegen zu gehen, das heißt, etwas zu tun, was ihr dieses Gefühl gab. Denn bis jetzt war ihr zumut gewesen, als ob sie mit jedem verwarteten Jahr sich innerlich um ebensoviel von ihm entfernte. Das geschah ganz von selbst; schmerzlich; unvermeidlich.

»Da führte ihr das Schicksal die Fürstin in den Weg. Was das bedeutet, in solcher Bedrängnis eine Weisung zu finden, einen Halt! Die Fürstin, mit ihrer Gabe der Divination, erriet alles. Was Martina nicht fähig war zu sagen, dem verlieh sie Worte; die einfachsten, die zartesten. Der Konflikt war ihr nichts neues; edelveranlagte Frauen sah sie daran zugrunde gehen. Bei einem unvergeßlichen Gespräch, das ich später mit ihr hatte, erzählte sie mir, wie ergreifend es war, als Martina in ihrer Ungewöhntheit sich auszusprechen, ihrer Scheu davor und zugleich in dem Wunsch danach sich in lauter rätselhaften Andeutungen bewegte, wie sie schüchtern Frage auf Frage gestellt, allmählich zutraulich und auf einmal Feuer und Flamme wurde, auch wieder in ihrer stummen Weise, aber der erfahrenen Frau verständlich genug. Die Fürstin brauchte ihr nur zu sagen: komm zu mir, und Martina besann sich auch nicht einen Augenblick. Das Schwerste zu vollbringen, war ihr eben recht. Die Fürstin sagte zu mir: Sie gleicht einem Menschen, der seine Kräfte zwar noch niemals erprobt hat, aber sich gerade deshalb der härtesten Prüfung unterzieht. Und noch etwas anderes kam da hinzu.«

Fides zögerte ein wenig, ehe sie mit noch verhaltenerer Stimme als bisher fortfuhr: »Martina war ganz ohne religiöse Erziehung. Sie war aufgewachsen wie eine rechte Heidin; wie eben die meisten der Generation, die um 1900 herum geboren wurden. Noch dazu war ihr Vater in seiner Jugend ein heftiger Liberaler gewesen und hatte nie an etwas anderes geglaubt als an die Kunst. Künstler dürfen das, hat man mir gesagt. Kann sein. Aber in Martina war ein zielloses Verehrungsgefühl von jeher; Sie müssen es selbst wissen; es dürstete etwas in ihr nach höherer Gestalt, und wer hätte sie dabei liebreicher lenken können als die Fürstin, eine Frau, in der alles Ahnung und Demut ist und die selbst wieder getragen wird von Gleichgesinnten, von überallhin verstreuten Vorposten eines neuen Glaubens? Da durfte sich Martina einem Verlangen hingeben, das sie bisher unterdrückt hatte; und wäre der Aufblick nicht gewesen, das Vertrauen zu dem, was die Fürstin das unbekannte Herz unter den Sternen nennt, so wäre sie zusammengebrochen, denn die Last war groß für ihre Schultern. Wie oft ist sie abends heimgekommen, die Augen voller Entsetzen über die Bilder, die sie gesehen. Im Schlummer murmelte sie die Namen von Kindern und schluchzte ins Kissen hinein. In den ersten Wochen bin ich halbe Nächte lang an ihrem Bett gesessen; wenn sie vom Schlaf emporschreckte, bat sie mich, ich solle ihr ein Märchen von Andersen vorlesen; das beruhigte sie dann wieder; oder die Geschichte vom sichern Mann von Mörike, die mochte sie am liebsten; da konnte sie lachen. Aber das Grauen war doch kaum zu verscheuchen, dieses furchtbare Wissen um Hunger und Frost und Obdachlosigkeit und frühes Laster und frühes Verbrechen; es grub sich wie Runen in ihre Stirn. Haben Sie es nicht gesehen? Schließlich erwies sie sich als stärker, trotz allem, und wenn sie ihr Tagewerk anfing, strahlte sie von Stolz und von Zuversicht. Und nun war es auch nicht mehr dasselbe Warten auf Ihre Heimkehr. Es verwandelte sich nach und nach. Es wurde ein ganz anderes Warten. Davon müssen ja die Briefe Zeugnis geben, die sie Ihnen schrieb. Und die, die sie erhielt, hatten auch eine andere Wirkung als früher.«

Hier stockte Fides wieder, denn alles wurde nun nah und doppelseitig, was sie vorbringen mußte. Sie überlegte und suchte die Worte. Faber unterbrach sie kein einziges Mal, nicht mit einem Laut, nicht mit einer Gebärde. Er war blaß geworden; nicht ein Tropfen Blut schien unter der Haut zu fließen.

»Es war eigentümlich mit den Briefen, die Martina von Ihnen bekam,« setzte sie ihre Erzählung fort; »an dem Tag, wo ein Brief eintraf, war sie in der freudigsten Aufregung. Zuerst betrachtete sie ihn lang, wagte ihn nicht zu öffnen, drückte ihn an die Brust, dann ging sie in ihr Zimmer, um ihn zu lesen. Am Abend kam sie dann gewöhnlich mit dem Brief zu mir. Soweit es möglich war, berichtete sie mir den Inhalt, zitierte Stellen daraus, las mir auch ganze Seiten vor und machte ihre drolligen oder ernsthaften Glossen dazu. Häufiger und häufiger wurde sie aber mitteninne von einer sonderbaren Nachdenklichkeit erfaßt. Dann saß sie da, den Brief in der Hand, schwieg und sann. Dann wieder richtete sie irgendeine Frage an mich, meist über etwas Gleichgültiges, dann drückte sie die Finger an die Wangen und dachte und dachte. Woran denkst du? frag ich; sie schüttelt den Kopf. Sie hatte gehört, daß nach Verlauf von sieben Jahren im menschlichen Körper ein neuer Zellenaufbau stattfindet; da fragte sie mich einmal im Scherz, ob es passieren könne, daß einem bei der Prozedur andere Augen wüchsen oder eine andere Nase, und fügte lachend hinzu: ich würde mich halbtot weinen, wenn Eugen mir sowas antäte. Eines Tages erzählte ich von einem Zurückgekehrten, einem jungen Fabrikanten, der vorher mit seiner Frau in der glücklichsten Ehe gelebt hatte; aber seit er wieder mit ihr beisammen war, hatte sich der Unfrieden eingenistet; jedes Gespräch wurde zum Zerwürfnis, jeder Blick zum Mißverständnis; dabei war nichts geschehen, keiner hatte sich etwas zuschulden kommen lassen, keiner konnte einen Vorwurf gegen den andern erheben. Martina kannte die Frau; sie wußte von dem unerquicklichen Zustand. Nachdem sie eine Weile vor sich hingeschaut hatte, sagte sie, die seien wie zwei Leute, die früher einmal einträchtig miteinander musiziert hätten, jetzt aber spiele jeder für sich; in verschiedener Tonart, verschiedenem Tempo und am Ende sogar verschiedene Stücke. Den ganzen Abend kam sie von dem Gleichnis nicht mehr los und dachte sich immer wieder neue Möglichkeiten aus. Vielleicht hat der Mann in all den Jahren das musikalische Gefühl eingebüßt und weiß es nicht, und die Frau will ihn aus Schonung darüber hinwegtäuschen, sagte sie; und dann: vielleicht hat er keine Freude mehr an der Musik und begleitet die Frau bloß, um ihr gefällig zu sein; oder sie hat solche Fortschritte gemacht, daß er nicht mehr gleichen Schritt mit ihr halten kann, und aus Trotz und Ärger spielt er erst recht falsch. Als ich einwandte, daß der Fall ja auch umgekehrt liegen könne, antwortete sie fast vergnügt: freilich kann es auch umgekehrt sein; das wäre ja weit besser, denn sie wird sich eher nach ihm richten als er nach ihr und sich lieber von ihm belehren lassen als er von ihr; das wollen wir nur hoffen, daß es umgekehrt ist. Das Schlimmste wäre aber, meinte sie zuletzt, wenn sie alle zwei miserabel spielen und jeder den andern beschimpft, weil er glaubt, der andere hat alles verlernt. Nachträglich errötete sie und wurde verlegen, weil sie gewahr wurde, daß die meisten Deutungen, die sie vorgebracht, zugunsten der Frau sprachen und weil ihr das als Unbescheidenheit von mir ausgelegt werden könnte; und von einer solchen Regung war doch wahrhaftig nichts in ihr. Was mich betrifft, so sah ich bei dem Anlaß die ganze Tiefe ihrer Unruhe, und wie sie bei jedem Schritt und mit jedem Gedanken mehr darin versank. Denn als der Zeitpunkt von Ihrer Heimkunft näher rückte, wurde sie von Tag zu Tag beklommener und grüblerischer. Als die Briefe ausblieben, war sie manchmal wie im Fieber. Sie holte die früheren Briefe hervor, und einzelne kannte sie schließlich auswendig, so oft las sie sie, so eindringlich beschäftigte sie sich mit ihnen. Jede Silbe wurde wichtig; noch hinter den Zeilen spähte sie nach verborgenem Sinn. Wenn Frau Faber mit einer Nachricht kam, zitterte sie wie Espenlaub, wenn Doktor Fleming erschien, um sich zu erkundigen, redete sie verwirrtes Zeug. Ein paarmal verbrachte sie die Nacht bei der Fürstin; nur die konnte sie in der letzten Zeit beschwichtigen. Es war die Unruhe in ihr, jawohl; aber die wars nicht allein; und die Spannung und Erwartung und Freude auch nicht allein. Es war noch was andres. Die Angst. Die Angst verschlang alle andern Gefühle; das wars.«

Das Wort elektrisierte Faber. Mit stürmischer Bewegung packte er Fides am Handgelenk und rief: »Ja, bei Gott, ja! Die Angst; nicht wahr? die Angst!«

Er kennt sie, diese Angst; seine Augen sagen es, er muß es nicht aussprechen. Sie ist ihm auf der Brust gelegen wie ein Zentner Sand. Sie hat seine Gedanken finster und das Brot bitter gemacht. Woraus entstanden? Aus einem Nichts, einem Fetzen Einbildung, einem Traumgespenst, das sich darin geübt hatte, Argwohn und Entbehrung zu Gift zusammenzumischen. Keine harmlose Stunde und Beschäftigung mehr; daneben kriecht die Angst; aus jedem Gesicht grinst sie, aus jedem Schall wispert sie. Etwas hat sich verändert dort drüben, tausende von Meilen weit; aber was? Von all dem bohrenden Denken bleibt nur die Drohung übrig wie eine Kugel mit glühenden Stacheln. Auch er hat Martinas Briefe unzählige Male gelesen; auch er hat sie beinah alle auswendig hersagen können. Er hat die geschehene Wandlung gerochen an ihnen; die Schriftzüge haben ihm mehr verraten als die Worte; er hat es nicht zu denken und nicht zu fassen vermocht, und mit keiner Geisteskraft war dem abzuhelfen; es fraß wie Wunde im Fleisch.

Doch er, solange er in der Fremde irrend wie Odysseus fast, er durfte die Angst hegen, bei ihm war sie natürlich, natürliche Krankheit geradezu, hervorgerufen durch die Gewaltsamkeit seines Schicksals. Was hingegen schuf ihr die Angst? Er, ohne Hilfsquellen, ohne Menschen, ohne Freunde, ohne den heimatlichen Laut, ohne Weib und Kind, ausgesetzt, gefesselt und sich vergessen wähnend, hatte die Angst zum Nachbar und Schlafgenossen; sie aber, Martina, mit allen Wurzeln in der freundlichen Welt geblieben, wovor hatte sie Angst? »Sagen Sie es mir, Fides,« bat er mit hohl aneinandergelegten Händen, »sagen Sie es mir, wovor hatte sie Angst?«

Fides senkte den Kopf und gab lange keine Antwort. Plötzlich erhob sie sich, rückte ihren Stuhl näher an seinen und legte ihre Hand auf seinen Arm. Ihr Blick leuchtete von Herzlichkeit, ihre Wangen röteten sich vor Eifer; ihr ganzes Wesen belebte sich, wurde zutrauend, schwesterlich-zutrauend, und sie sagte: »Nun hören Sie mich an, Eugen Faber. Hören Sie ruhig zu, und seien Sie nicht ungeduldig. Das will alles ordentlich überlegt sein, was ich Ihnen jetzt sagen will, und ich muß aufpassen, daß ichs schön der Reihe nach vorbringe, damit keine Konfusion entsteht. Fangen wir mal mit dem Anfang an. Was für ein wunderbares Los ist Ihnen zuteil geworden, Ihnen und Martina? In früher Jugend habt ihr einander gefunden, jeder den einzigen Menschen, mit dem er einzig imstande war, zu leben. Wie selten ist das, wie ungeheuer selten! Ihr seid wie Geschwister gewesen, und dabei Gatten, und immer zugleich Gefährten; ihr auf der einen Seite und die ganze übrige Welt auf der andern. Nie habt ihr sie gebraucht, die Welt, nie hat sie euch angerührt und belästigt. Ein verzaubertes Leben habt ihr geführt, wie im Märchen; ein richtig verzaubertes Leben. Aber wie lange sollte es so bleiben? wie lange habt ihr gedacht, daß es so bleibt? Ewig? Habt ihr geglaubt, ewig? Eines Tages hätte es ein Ende gehabt, auf irgend eine Weise; eines Tages wäre die Welt vor euch hingetreten, und ihr hättet euch entscheiden müssen, ihr hättet was ablassen müssen von euerm geborgenen Glück. Sie erlaubt es nicht, das man sich gänzlich vor ihr versteckt, vor ihrer furchtbaren Wirklichkeit, und sie hat recht. Es gibt einen Punkt, wo das Glück zu Hochmut und Herzenskälte wird. Jeder muß seinen Anteil auf sich nehmen; es dürfen nicht zwei sich absondern und sagen: Wir hören nichts, wir wissen nichts, wir sind uns selber genug und haben mit euch da draußen nichts zu schaffen. Zum Schluß würden sie dann entdecken, daß jeder die Seele des andern aufgezehrt hat. Meinen Sie nicht auch, daß es so gekommen wäre? Sie zweifeln. Ich nicht. Ich meine, es war besser, daß ihr so jäh voneinandergerissen worden seid. Wie nun Martina auf einmal so alleine dastand, fehlte ihr der Halt. Als wenn man von einem jungen Baum die Stütze wegnimmt; beim ersten Windstoß knickte er um. Was war sie denn bis dahin gewesen? Ein liebendes Weib; eine geliebte Frau. Plötzlich war der nicht mehr da, für den sie es war, durch den sie es war. Was übrig blieb, war zu wenig, um das Leben zu füllen; oder sagen wir; das Jahr. Sie wissen ja, das Jahr besteht aus dreihundertfünfundsechzig Tagen. Sie konnte nicht ausschließlich Mutter sein. Darauf war sie innerlich nicht eingerichtet; ihre eigene Person galt ihr auch was; das Problem war für sie, wie sie mit sich selber auskommen und hausen würde. Als sie nun keinen Boden mehr unter den Füßen und kein Dach mehr überm Kopf hatte, bildlich gesprochen natürlich, was sollte sie da beginnen? Ich sagte es ja schon? sie wollte nicht mehr dasitzen und die Hände in den Schoß legen; sie fand es einfach nicht anständig, vollkommen von der Gnade eines andern Menschen zu existieren, von seiner Erfahrung, von seinen Kenntnissen, seiner Arbeit, seinem Geist, von seinem Zurückkommen oder Nichtzurückkommen, auch wenn man diesen Andern über alles liebt, oder gerade weil man ihn liebt. Was konnte sie also Klügeres, Mutigeres tun, als was sie getan hat? Ich gebe zu, der Weg war ein bißchen hart, und ging zuweilen über ihre Kräfte. Aber dann die Freude über das erreichte Ziel; die tägliche herrliche Freude über das Bezwungene! und wie sie sich achten lernte und sich nichts schuldig blieb, und aus einem nesthütenden Weibchen ein tätiger Mensch wurde: das war doch was; glauben Sie nicht; daß es der Mühe wert war? Da aber entstand schon die Sorge: was wird Eugen sagen? wie wird Eugen es aufnehmen? mit was für Augen wird er mich betrachten? Jedes andere Frauenzimmer an ihrer Stelle hätte sich selbstverständlich hingesetzt und hätte geschrieben: mein lieber Eugen, so und so; so und so war mir zumut; das und das ist vorgefallen, das und das hab ich gemacht; die Martina, die du verlassen hast, ist nicht mehr dieselbe Martina, zu der du heimkehrst; aus den und den Gründen. Das hätten neunundneunzig unter hundert getan; sie aber ist leider die hundertste, die das nicht kann; darüber zu philosophieren, hat keinen Zweck; es ist eben so. Sie konnte also nur hoffen, daß ihr Eugen es spüren würde, es wie durch Fernwirkung erfahren würde; im übrigen mußte sie sich damit begnügen, in ihrer Kinderfibelmanier die Geschehnisse zu berichten. Nun, Sie haben es ja gespürt; aber nicht so, wie Martina sichs wünschte. Die Geister korrespondieren nicht so, wie Martina sichs dachte. Weiß Gott, in welchem Wahn Sie sich hineingekrampft hatten. Wie ichs begreife! Hätt es denn anders sein können? Die Verzweiflung, daß Jahr um Jahr hinging; der Diebstahl an Ihrem Leben; der ohnmächtige Kampf dagegen. In Ihrer Vorstellung war Martina die Verlassene, die Hilfs- und Schutzbedürftige, und wenn sie es nicht war, mußte sie Ihnen fast für verloren gelten. Sie wollten es buchstäblich bezeugt haben, daß Sie ihr notwendig waren, daß sie ohne den Gatten nichts anfangen konnte, und davon enthielten die Briefe immer weniger und weniger, so daß Ihnen in der entsetzlichen Abgeschiedenheit das Verschwiegene zum Schreckbild wurde. Wie gut ich das verstehe! Aber reden wir von Martina. Reden wir davon, was sie sich wünschte, was sie von Ihnen erwartete. Das denkbar Primitivste doch: angenommen werden als das, was sie war; sich erst in das neue Leben mit Ihnen hineinfinden; erst gebilligt werden, erst gutgeheißen weiden, damit sie nicht das Gefühl hatte, daß sie den liebsten Menschen betrog, daß er sozusagen zwei Martinas vor sich hatte, eine, die er kannte, und eine heimliche, von der er noch nichts wußte. Es sollte so sein, daß alles wieder anfing; daß sie erobern durfte, sich wieder gewinnen lassen durfte. Nur nicht mit der Erinnerung anfangen, mit der Vergangenheit nicht mehr zahlen müssen; zuviel Ungutes lag dazwischen, zuviel Qual, zuviel öde Zeit. Da entstand nun die Angst; Angst, daß es anders käme; kein Werben, kein Einander-Entdecken und Einandersuchen; bloß Zugreifen, bloß die Forderung; bloß den Anspruch; als ob sich gar nichts mit ihr ereignet hätte; als ob man die sechs Jahre vergessen und ausstreichen müßte; als ob das möglich wäre; als ob man genau an der Stelle mitsammen weiterleben könnte, wo man aufgehört, beim letzten Tag und der letzten Stunde. Daß es so werden könnte, ertrug sie nicht zu denken, und sie erhielt ja auch kein Zeichen von Ihnen, das sie darüber beruhigt hätte. Dann kamen Sie endlich. Und was geschah? Sie irrten in der Stadt herum. Klara brachte die Nachricht, Sie seien bei ihr. In welchem Zustand da Martina war, versuch ich nicht zu beschreiben. Als sie fortging, dachte ich, wenn sie nur nicht auf der Straße zusammenbricht. Sie haben wohl schwerlich etwas davon bemerkt, als Sie sie sahen; so heiter. Und die Tage nachher. Alle bösen Ahnungen wurden wahr. Seien Sie mir nicht gram, Eugen Faber, es war doch so, es ist doch so: ein verstörter und verstockter Mensch ist in dies Haus gekommen, einer der nicht sah, nicht hörte, nicht fühlte und bloß wollte. Was aber wollte er? Was einmal gewesen war. Sein Recht wollte er. Recht, das hieß hier soviel wie Gewalt. Anspruch? Ist Anspruch was anderes als Vergewaltigung? Gibts einen Liebesanspruch? Nein. Gehört einem ein Mensch? Nein. Besitzt man ihn anders, als indem man sich ihn verdient, indem man ihm dient, jeden Tag von neuem? Nein. Darüber wird es wohl keine Meinungsverschiedenheit zwischen uns geben. Nun wissen Sie alles, denk ich, und wenn ich zu deutlich gewesen bin, und vielleicht auch ein wenig zu stürmisch, so verzeihen Sie mir.«

Sie schwieg, wandte das Gesicht ab und atmete tief. Faber getraute sich nicht, sich zu rühren. Seine Augen waren wie erloschen; der Hals war ganz zwischen die Schultern gezogen; mit den Zähnen nagte er unablässig an der Unterlippe, zuletzt so heftig, daß er sie blutig biß. So saßen sie geraume Weile stumm nebeneinander. Plötzlich ergriff Faber, ehe sie sich dessen versehen konnte, Fides beide Hände und preßte seine Lippen erst auf die eine, dann auf die andere. Und auf jeder ihrer Hände blieb ein kleiner Blutflecken zurück. Die Bewegung war so jäh gewesen, der Ausdruck, den sein Gesicht dabei hatte, so ehrfürchtig-ernst, daß Fides sich nicht zu sträuben wagte; doch erblaßte sie merklich, zog die Hände erschrocken zurück und sagte: »Jetzt ists aber genug des Redens.«

Damit erhob sie sich, nickte ihm zu und verließ schnell das Zimmer.

Es war ein Viertel nach drei Uhr.


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