Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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5

Sie umarmte ihn zart; sie küßte ihn zart; sie zog ihn unter das Licht und sah ihn an und lachte. Ihre Augen waren feucht, und mit verlegener Miene stammelte sie ein paar Worte. »Alles ist für dich bereit,« sagte sie, »komm nur heim, komm nur mit mir nach Hause.« Sie wandte sich zu Anna Faber und zu Klara, deren stumm-gerührtes Dastehn ihre Verlegenheit steigerte und fragte mit ihrer glockenhellen Stimme, die ein wenig zitterte, und dem leichten Anklang von Dialekt, den ihre Sprache hatte: »Nicht wahr, jetzt ist es höchste Zeit, daß er endlich nach Hause geht, jetzt ist er lange genug in der Welt herumgestreunt, das findet ihr doch auch?«

Sie wartete die Antwort nicht ab und wollte gewiß auch keine haben; sie schob den Arm unter seinen, und abermals lachend, als wäre die Komik der Situation unwiderstehlich für sie, doch mit einem seltsamen Flimmern in den Augen, entriß sie ihn seinem verstörten Schauen und seiner unnatürlichen Gefrorenheit. Ehe er noch wußte wie, waren sie draußen und auf der Straße. Und sie lachte; dabei beugte sie sich vor, um ihm ins Gesicht zu sehen, forschend, mit welcher Miene er das Lachen aufnahm, ob er es wiedererkannte, ob er sich noch wie ehedem dazu verhielt, ratlos und überlegen. Sie ging sehr schnell; bisweilen nur hielt sie inne und sammelte Atem. Es gab nichts Beschwingteres als ihren Gang; das hübsche Soubretten-Näschen hoch in der Luft, mit dem linken Arm sich dicht an ihn schmiegend, fing sie an zu plaudern, und es konnte nicht anders erwartet werden, daß sie von Christoph sprach, von seinem Charakter, seinem Leben und seinen Taten.

Der Knabe mußte nach ihrer Schilderung ein ungewöhnlich originelles Wesen sein; oder war es Absicht, daß sie nur solche Züge berichtete, die ihr erlaubten, ihre Worte in heiterem Fluß zu halten? Doch vielleicht nicht; sie schien zu voll davon, und das Vergnügen an der Darstellung war aufrichtig. Ein Einsamgeher aus anarchischer Veranlagung; tief im Zwiespalt mit der Welt, meist aber recht zufrieden mit sich selber. Doch der Zwiespalt trieb zu Leistungen; er war ein Weltverbesserer, der mit der Zerstörung alles dessen begann, was ihm in die Hände geriet, um nachher erklären zu können, daß es schlecht gemacht sei. Stillen Studien ergeben, hatte er zugleich eine närrische Prahlsucht an sich, und nicht bloß den greifbaren und sichtbaren Dingen hatte er beständig was am Zeug zu flicken, auch dem lieben Gott war er in einer listigen Manier aufsässig. Ja, er war einer von den Selbstgerechten dieser Erde, ein malkontenter Winkelphilosoph, aber trotzdem kein Hocker, weit gefehlt; sein Hang zu halsbrecherischen Kletterübungen machte ihn zum Schrecken der Lehrer und Aufsichtspersonen, außerdem hatte er eine unappetitliche Vorliebe für allerlei Gewürm und niedriges Getier, Engerlinge, Tausendfüßer, Spinnen und Schnecken, von denen er zum Grauen seiner Mutter und seiner Betreuerin Fides schmutzbedeckt und übelriechend ganze Ladungen nach Hause brachte.

Man ertappte ihn in einem entlegenen Schuppen, wo er Theater spielte, er allein; und er allein war Prinz und Zauberer, General und gute Fee und das Orchester noch dazu. Er wacht mitten in der Nacht auf; die Haare hängen ihm wirr ins Gesicht; er erhebt sich, macht Licht, nimmt eine Schere und schneidet sich erbost die Locken ab. Er bildet sich ein, er könne fliegen, steigt eines Tages auf das Hausdach und wirbelt zum Entsetzen der Passanten mit den Armen durch die Atmosphäre. Er will Regenwürmer dressieren und nach Schildbürgerart das Mondlicht in eine Arzneiflasche gießen. Er ärgert sich wütend über Menschen, die bestimmte Redensarten im Mund führen und gibt allem Hausgerät, Stühlen, Tischen, Uhren, Öfen, Truhen kauderwelsche Namen eigener Erfindung.

Sie waren schon vor der Wohnung angelangt, als Martina immer noch erzählte. Sie öffnete; sie führte ihn hinein; zuerst in Christophs Schlafzimmer. Sie drehte die Nachtlampe auf und zog Faber an das Bett. Sie amüsierte sich still, immer mit dem bangen Flimmern in den Augen, während sie auf die energisch geballten Fäustchen zeigte, die auf der Decke lagen. Faber war betroffen; seine Lippen bebten. Er beugte sich nieder und küßte den Knaben auf die feuchte Stirn. Der schlug die Augen auf, schloß sie aber sogleich wieder und legte sich mit unwilligem Knurren auf die Seite. Faber ging ins Nebenzimmer. Die große Lampe brannte überm Tisch. Er setzte sich. Martina war ihm gefolgt, und jetzt erst schien sie sich bewußt zu werden, daß er noch nicht eine einzige Silbe gesprochen hatte. Da verbreitete sich Blässe über ihre Wangen, und sie richtete den Blick dringlich prüfend auf ihn. Aber die innere Spannung und Anspannung, die das Erbleichen verursachen mochten, vergingen wieder, und sie sagte lebhaft: »Nun wollen wir ein Glas Wein auf deine Wiederkehr trinken, willst du? Ich hab eine Flasche alten Bordeau, die war für diese Stunde bestimmt. Willst du?«

Sie verließ das Zimmer und brachte nach kurzer Zeit die entkorkte Flasche und zwei Gläser. Sie schenkte die Gläser voll und erhob ihres. Sich gegen ihn neigend und das Glas mit dem oberen Rand an seines stoßend, sagte sie mit lieblichem Lächeln, indes ihre Augen sich niedersenkten: »Die Zukunft, Eugen.«

»Ja, Martina, die Zukunft«, antwortete er, und beide tranken.

»Jetzt hab ich doch deine Stimme gehört«, sagte Martina lachend, setzte sich nahe zu ihm und ergriff seine Hand. Die überließ er ihr gern und betrachtete dabei ihre, betrachtete sie mit eigentümlichem Ernst, als wäre zu ergründen, ob es die Hand noch sei, die er einmal so gut gekannt. Dann schweiften seine Augen durch das Zimmer und blieben an einer Stelle zwischen den Türen haften. Dort war früher Martinas Bild gehangen, das er vor vielen Jahren in Pastell gemalt. »Wo ist das Bild hingekommen?« fragte er; »warum hast du es weggenommen?« Sie errötete. »Es ist schon lange, daß ich es heruntergenommen habe,« erwiderte sie, »ich weiß gar nicht mehr aus welchem Grund. Oder doch; Christoph mochte es nicht leiden; er weinte einmal darüber und sagte, so grün und so gelb sei mein Gesicht nicht.« Sie lehnte ihre Wange wie abbittend an seine Schulter, und unter dem Stoff vibrierte seine Haut von ihrem leisen Lachen, diesem seltsamen, halb spöttischen, halb innigen Lachen, das eine unhemmbare Lebensäußerung war, Abwehr, Flucht, Verstecken. Als sei er davon verletzt, fragte er, ob sie denn noch immer alles so belustigend auf der Welt finde. Sie blickte mit gefalteter Stirn zu ihm empor, senkte aber den Blick gleich wieder und schüttelte nachdenklich den Kopf. Da läutete das Telephon draußen. Eugen war erstaunt, denn es war nahe an Mitternacht. Martina eilte hinaus, er hörte sie hastig und mit einer ihm verändert dünkenden, klangloseren Stimme in den Apparat sprechen; es handelte sich um eine Verabredung für eine sehr frühe Morgenstunde und wichtige Entscheidung; Faber stützte den Kopf auf den Arm. Als sie wieder hereinkam, suchte ihre Miene die Störung vergessen zu machen, aber sie setzte sich auf einen andern Stuhl, weiter von Eugen entfernt. Sie forderte ihn auf, zu trinken, und er nippte gehorsam vom Wein, und Martina wollte nun von seinem vergangenen Leben vieles wissen, was sie in seinen Briefen nicht erfahren hatte, jedoch die spärlichen Antworten, die er gab, taten ihr kein Genüge.

Weil sie ihn so wenig mitteilfroh sah, nahm sie nach einer Weile selber das Wort und berichtete von sich selber. Aber zum zweitenmal schrillte die Telephonglocke; sie erhob sich ohne jedes Zeichen von Ärger oder Ungeduld und nannte am Apparat eine Adresse, die man offenbar von ihr verlangt hatte. Sie bat ihn fast demütig um Verzeihung, als sie wieder ins Zimmer trat, und fuhr zu erzählen fort. Nicht in logischer Folge; das war nicht ihre Art. Sie sprang von einem zum andern über, von Begebenheiten zu Personen, von einem bedrängten Zustand zu einer komischen Begegnung; sie schilderte einen bestimmten Tag, die Hast und Unruhe, Fülle der Menschen und Fülle der Geschäfte; dann wieder eine Stunde der Sammlung, ein Gespräch mit dem Kind, einen Ausflug bei Regenwetter, ein Zusammensein mit Anna Faber, Erlebnisse mit früheren Freunden und mit neuen, weit zurückliegende und aus jüngster Zeit; die rühmenswert diskrete und erheiternd onkelhafte Bemühung Jakob Flemings; alles in buntem Durcheinander, unverbindlich und leicht, wie wenn das Bittere längst seinen Geschmack verloren hatte und das Schicksalsvolle ein Gemüt wie das ihre nicht groß belasten könne. Dazwischen eilte sie ins Nebenzimmer, um Schokolade zu holen, die sie Eugen anbot, ging zu einem Strauß Orchideen, der auf einem Rundtischchen in der Ecke stand und sog mit andächtig hingegebener Miene den Duft ein, trat an Eugens Seite und strich ihm mit zärtlicher Hand über das Haar.

Sie mußte wohl das dunkle Staunen in seinen Augen merken und wie mit dem Vorschreiten der Nacht sich immer tiefere Schatten über seine Züge breiteten. Es war das Staunen eines Menschen, der die Dinge genau so verlaufen sieht, wie er sie in beklemmend-hypochondrischer Ahnung lange vorher gefürchtet hat, das Staunen vor dem Wahrwerden, vor der Übereinstimmung von Bild und Wirklichkeit, Wissen und Schauen. Aber auch in Martinas Augen war, abgesehen von tiefer Müdigkeit, ein solches Staunen, ein bedauerndes, schmerzliches und gleichsam jasagendes Staunen, aus Befremden und Traurigkeit gemischt, und all ihr Lachen und Lächeln vermochte nicht die Unbefangenheit vorzutäuschen, mit der sie sich zu geben herzlich bemüht war. Endlich sagte sie mit einem Blick auf die Armbanduhr, man müsse jetzt schlafen gehn. Faber wurde sehr bleich und sah sie erwartungsvoll an. Auf ihre gefalteten Hände niederschauend, fügte sie in kindlich eifrigem Ton hinzu, als ob sie alles sorgend vorausbedacht, was zu seinem Wohlbefinden dienen könne, sie habe das frühere Gastzimmer schon vor Wochen für ihn herrichten lassen. Er nickte und lächelte anscheinend dankbar, und sie gingen zusammen den Flur entlang bis zur Türe jenes Zimmers. Hier schlug Martina die Arme um ihn und küßte ihn und sagte ganz leise gute Nacht und ging. Als aber Eugen drinnen in dem Zimmer war, stand er erst eine Weile wie betäubt, dann legte er sich mit dem Oberkörper auf das Bett und grub das Gesicht in das Kissen.


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