Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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8

Faber schritt in seinem Schlafzimmer hin und her, nahm ein Buch zur Hand, legte es weg und schritt wieder hin und her. Er öffnete die Tür zum Flur und horchte hinaus, dann öffnete er das Fenster und blickte auf die abendlichen Straßen hinab. Die Alleebäume gegenüber rauschten im Regen, die feuchte Luft trug das ferne Pfeifen von Lokomotiven her. Als habe er einen waghalsigen Entschluß gefaßt, verließ er rasch den Platz am Fenster, durchschritt Wohnzimmer und Flur und betrat Martinas Schlafzimmer. Er machte Licht und schaute sich um.

Er kannte alle Gegenstände hier, doch schien es als habe er sie in der langen Zeit vergessen und wolle die Wirklichkeit mit der Erinnerung vergleichen. In einem großen Ovalrahmen über dem Bett hing die Photographie von Martinas Vater; ein ernst, fast mürrisch blickender Mann mit einem weißen Knebelbart, der dem Gesicht etwas Vornehmes verlieh. Auf den untern Rand des Bildes hatte er mit Monumentalschrift den Vers aus den Metamorphosen des Ovid geschrieben: Et documenta damus qua simus origine nati. Einst hatte sich Faber darüber mokiert; ein zu bitteres Wort über dem Lager von Liebenden, hatte er gefunden.

Auf einem mit blauem Cretonne bespannten Lehnstuhl lag das blaue Stoffkleid, das sie gestern getragen. Er strich mit den Fingerspitzen darüber hin und beugte sich ein wenig vor, um den Geruch einzuatmen, der noch von ihrem Körper haftengeblieben sein mußte. Halb unter dem Bett stand ein Paar weiße Lederschuhe; der eine war zugeknöpft, der andere nicht; die Verschiedenheit wunderte ihn. Er ging zum Toilettentisch und musterte die Dinge, die auf der Glasplatte lagen: die Puderbüchse mit der Emailmalerei; das längliche Nadelbüchschen aus Schildkrot; den elfenbeingefaßten Handspiegel mit dem kunstvoll ziselierten Griff; die Parfümkaraffen auf silbernem Ständer; in ein Seidenpolster gesteckt die Gemme mit Martinas Kopf in Profil, die ein junger römischer Freund vor neun Jahren verfertigt hatte; jetzt war er tot.

Alles kannte er genau; es war nichts Neues da; alles besah er genau. Dann schaute er sich wieder im Zimmer um und machte, wie um sich eines zudringlichen Gedankens zu erwehren, eine wegschiebende Geste. Da ging die Tür auf, und Fides trat ein. Sie hatte das Zimmer herzurichten. Überrascht blieb sie stehen. »Ich wollte etwas suchen,« murmelte Faber, ungeschickt zur Lüge, und ging mit erkennbarer Feindseligkeit an ihr vorbei. Fides sagte: »Ich dachte, Sie seien ausgegangen.« Er schüttelte den Kopf und erwiderte, er wolle auf Martina warten. Martina werde spät nach Hause kommen, entgegnete Fides, während sie die Vorhänge zuzog; ob er nicht zu Abend essen wolle? Doch da hörten sie den Schlüssel in der Eingangstür und Martinas Stimme. Faber blieb im Korridor stehen, hinter der Gardine, die die Wirtschaftsräume verbarg. Es war dunkel hier; wieder befand er sich in der Situation des ertappten Diebes.

Ein junger Mensch und eine Frau waren mit Martina gekommen. Sie fertigte beide im Vorzimmer ab. Der junge Mensch übergab Fides eine mit Schriftstücken gefüllte Mappe, die er getragen; der Frau, die wie eine Leiche aussah, brachte Martina ein Dokument, das sie aus ihrem Arbeitstisch in der Wohnstube holte. Als beide fort waren, rief sie im Telephon eine Nummer an und sprach nur die Worte: »Alles erledigt.« Fides half ihr aus dem Mantel; Martina ergriff Fides' Hand und flüsterte in hastigem erregtem Ton mit ihr. So leise ihre Stimme war, Faber hörte doch, wie sie sagte: »Zu Schanden geprügelt. Wund geprügelt. Neun arme Würmer. Du kannst dir im ärgsten Traum so was nicht vorstellen. Ein wahres Mordnest. Die Fürstin ist ganz gebrochen. Wie sagst du? Ja, jetzt sind sie in Sicherheit. Das Scheusal ist verhaftet. Natürlich; eine Krüppelfabrik; Mitleid einzukassieren. Was für ein Abend, Fides! unausdenkbar schrecklich.« Das Flüstern wurde gedämpfter; schließlich hörte Faber die Frage: »Ist Eugen da?«

Er fand noch Zeit, ins Wohnzimmer zu gehen, ehe Martina ihn sah. Sie kam herein und begrüßte ihn froh. Ihr Wesen hatte sich so verwandelt, daß er erschrak; und es war eine Verwandlung ins Heitere. Was er draußen von ihr gespürt und vernommen hatte, war das Gegenteil von dem was sie jetzt zeigte. Vielleicht war es auch so, daß eine andere Natur hervorbrach, die gefesselt gewesen war. Er vermochte es nicht zu unterscheiden. Er schien nur unruhig bis ins Herz, als sie lustig ihren Ärger darüber äußerte, daß er noch nicht gegessen hatte. Sie selbst habe schon vor zwei Stunden gegessen, sagte sie. Um Vorwürfe von Fides abzuwenden, erklärte Eugen, er habe fortgehen gewollt, habe es aber des Regens halber aufgegeben. Martina und Fides beratschlagten, was man für ihn zubereiten könne, und Fides schlug Eier mit frischem grünem Salat vor. Wenn es Herrn Faber recht sei, fügte sie hinzu und heftete einen eigentümlich mahnenden Blick auf Faber, den er nicht verstand. Martina fand es komisch, daß sie Herr Faber sagte; beinahe ängstlich sah sie sich nach diesem feierlichen Herrn um und lachte aus vollem Hals. Sie mußte zugeben, er war für Fides ein Herr. Salat würde sie auch gern mitessen, sagte sie, aber er müsse gezuckert sein; es verlange sie nach Süßem, das sauer und nach Saurem, das süß sei.

Und sie lachte.

Als Fides gegangen war, erzählte sie, daß sie von einer Menge Leute nach Eugen gefragt worden sei. Die Fürstin lasse ihn grüßen. Er wiederum berichtete, wie er den Nachmittag mit Christoph verbracht, und während er sprach, schien sie beständig froher zu werden. Fides kam mit den bestellten Speisen. Martina klagte, daß sie vom Regen feuchte Füße habe, und Eugen kniete nieder, um ihr die Schuhe auszuziehen. Ganz vertrauensvoll gab sie ihm einen Fuß um den andern, und Fides brachte die Lederpantoffeln. Als sie beide am Tisch saßen, hatte sie eine neue Klage und lachte zugleich über all ihren Jammer; die Haare seien ihr so schwer; sie müsse noch arbeiten und ob Eugen ihr erlaube, die Frisur zu lösen; das Gewicht der Haare ermüde sie in letzter Zeit recht oft. Sie zog die Nadeln aus den Haaren; die braune Flut fiel knisternd auf die Schultern. Während er lautlos aß, spießte sie mit der Gabel Salatblätter aus der Schüssel und amüsierte sich über die Unart, wie sie es nannte. Eugen fragte, was sie am späten Abend noch zu arbeiten habe; sie erwiderte, sie müsse einen Bericht aufsetzen, dessen einzelne Punkte sie mit der Fürstin besprochen habe und die sie nicht vergessen dürfe.

»Ich will nun sehen, daß ich mir einen Verdienst schaffe,« sagte Eugen.

Er brauche damit nicht zu eilen, entgegnete Martina, Ruhe könne ihm nicht schaden.

»Was soll mir Ruhe?« versetzte er; »sechs Jahre liegen hinter mir wie ein schwarzes Brandloch. Kann ich sie jetzt nicht ausmerzen, werd ich sie nie mehr los. Ich muß sie los werden.«

»Du mußt sie freilich los werden,« sagte Martina sanft, »aber sei nicht gewalttätig gegen dich. Ich will dir helfen. Ich hab schon meinen Plan.«

»Du? welchen Plan?« Sein Blick irrte vom offenen Fenster, wo er geweilt, zu ihren bewegten Zügen. Martina lächelte (ihr Lächeln war eine ganz andere Art der Lebensäußerung als das Lachen, ein viel aufrichtigeres gleichsam), beugte sich vor, berührte mit der Spitze ihres Zeigefingers sein Kinn und fragte: »Nun, Meister Finsterling, warum so finster?«

Er schwieg. Sie erhob sich, küßte seine Stirn und ging zum Schreibtisch. Ehe sie sich niedersetzte, sagte sie gegen die Wand hin, wie aus Schamhaftigkeit: »Gut, daß du wieder da bist, Eugen.«

»Ists wirklich gut?« brachte er mit gewürgter Stimme hervor, in die sich eine Hoffnung zwängte.

»Ja, Eugen, so gut, so gut,« rief sie, das Wörtchen so in inniger Weise betonend.

Dann lachte sie, dies seltsame Lachen der Scheu, des Innehaltens vor dem Sagen, vor dem Fragen. Sie fing an zu schreiben und bat ihn um eine Stunde nur Geduld; er aber stand auf und ging hinaus und griff nach Hut und Mantel und sagte verzweifelt vor sich hin: »Wer das begreift, wer das begreift ...« Auf der Straße war er froh, daß ihm der Regen das Gesicht näßte. Er stürmte nur so dahin und sprach bisweilen unzusammenhängende Sätze, und als er eine halbe Stunde herumgeirrt war, befand er sich vor einem Kaffeehaus, das er in früheren Jahren oft besucht hatte, und er ging hinein. Der Raum war voller Menschen, aber er kannte keinen einzigen. Damals war er hier oft mit Freunden gesessen oder besser gesagt mit sympathischen Bekannten, an die ihn ein Berufsinteresse knüpfte, denn Freunde hatte er nie gehabt, einen wirklichen Freund nie, seit Martina in sein Leben getreten war. Gierig forschte sein Blick, ob nicht einer von diesen Kameraden da sei. Ein leidenschaftlicher Wunsch, mit irgend jemand zu reden, gerade in der jetzigen Stunde zu reden, war in seiner Miene verdichtet; aber es war keiner da, den er kannte, als ob in der Zeit, wo er fortgewesen, die Stadt lauter neue Menschen erzeugt hätte. Da entfernte er sich wieder, irrte wieder im Regen herum, irrte bis zu Flemings Haus, kehrte wieder um, und es war ein Uhr, als er heim kam. Da saß Martina noch immer am Schreibtisch, blaß, müde, leidend, aber mit einem äußerst gespannten Zug über den Brauen und einem tieffunkelnden Blick, und sah kaum empor, schien gar nicht bemerkt zu haben, daß er fortgegangen war.

Eine Weile schaute er ihr zu; endlich legte sie die Feder weg. Da sagte er: »Ich weiß nicht, was ich aus dir machen soll, Martina.«

Sie hob verwundert den Kopf. Dann schüttelte sie den Kopf ein wenig, verfärbte sich ein wenig, sagte aber nichts. Er schloß das Fenster, denn die Nacht fing an kühl zu werden. Er trug einen Stuhl zum Ofen, wo er in Martinas Rücken saß, und stützte die Stirn an die Kacheln. Stille erfüllte das Haus und die Stube.

Martina drehte sich um und gewahrte, wie er gegen den Ofen gekehrt dasaß und sagte lächelnd: »O Falada, der du hangest.« Jäh aufstehend fragte Eugen mit gepreßter Stimme: »Bist du noch meine Frau, Martina?«

Als Martina sein bleiches und zerwühltes Gesicht erblickte, trat sie zu ihm hin und schaute ihn verwundert und immer verwunderter an, wobei ihre Augen im Schatten schwarz glänzten. Aber es war nicht allein Verwunderung in den Augen, sondern auch Angst, lang vorher entstandene, die geschlummert hatte und nun wie durch einen brutalen Stoß erwacht war. »Was du da fragst, verstehe ich nicht«, murmelte sie mit gesenktem Haupt.

»Dann verstehen wir vielleicht einander nicht,« gab er zurück, »oder du weißt nichts mehr von dir und mir.«

Sie hob bittend die Hände auf. Jeder einzelne Finger hatte eine bittende Gewalt. Doch er fuhr trotzig und leidenschaftlich fort: »Ich bin wie in einem stockfinstern Keller, Martina, wo man nicht weiß, wo die Treppe ist und wo das Fenster. Man tastet und tastet; nichts als kalte Mauer. Verstehst du denn nicht? Du sagst, es ist gut, daß ich da bin. Dir nicht zu glauben, bringt keiner fertig, der dich kennt; wie also ich erst. Aber wozu ist es gut, sag mir, wenn ich dich verloren haben soll? Verstehst du denn nicht?«

»Verloren, Eugen?« stammelte sie bestürzt; »wie kannst du so zu mir sprechen?« Sie umschlang ihn beschwörend mit den Armen. Seine Kälte ließ sie zurückweichen. Sie klammerte sich an dies »Verloren« und sagte verwirrte Worte, die ohne faßlichen Sinn waren. Zwiespalt und Befangenheit malten sich auf ihrem schönen Gesicht, daneben ein letztes Aufleuchten zaghaften Lächelns. Er sah, daß es kein anderes Mittel gab als sie zu verhören, wie es ein Richter tut, dieser stummen, wie in Brunnentiefe vergrabenen und versteckten Seele Frage um Frage zu stellen, Silbe um Silbe abzuringen, nur um ins klare mit ihr und sich zu kommen und einen Weg zu sehen.

Ob sie sich auf ihn gefreut habe?

Antwort war ein vorwurfsvoller Blick.

Ob vielleicht in der Freude ein wenig Furcht, irgendeine Art von Furcht gewesen sei?

Ein banges, zitterndes Nicken. Scheues Erstaunen über so viel Erratungsvermögen.

Wovor aber? Wovor sie sich gefürchtet?

Das wisse sie nicht.

Ob der Dienst, die Aufgaben da draußen, die Person der Fürstin, die Forderungen von dieser Seite sie so erfüllt hätten, daß dadurch alle anderen Gedanken und Empfindungen wären ausgeschaltet worden?

Erfüllt, ja; durch und durch erfüllt; ganz und gar. Aber an ihn gedacht, für ihn sich gesorgt habe sie immer und unveränderlich.

Wovor also um Gottes willen gefürchtet?

Das wisse sie nicht.

Er verfiel in grübelndes Nachdenken. Dann begann er wieder, dringlicher noch: ob es zu irgendeiner Zeit ihre Absicht gewesen, ihm Liebe zu verweigern?

Niemals habe sie dergleichen im Sinn gehabt.

Ob ein anderer Mensch, offen oder heimlich, sie dazu zu bestimmen gesucht?

Wer hätte so töricht sein sollen, war die Antwort.

Sie möge zurückdenken: es gäbe ja so viele Arten, auf ein schwankendes oder verdunkeltes oder in Zwiespalt geratenes Gemüt zu wirken.

Sie schüttelte den Kopf.

So werde er anders fragen, nicht fragen: die Liebe verweigern; sondern: den Körper verweigern; ob dies ihr Wille und Wunsch gewesen?

Abermaliges schmerzliches Staunen Martinas. Verweigere sie ihm denn das geringste? habe ihm das so geschienen? Da tue er ihr bitter unrecht. Mit nichten verweigere sie etwas, verweigere sie sich. Verweigern? nein, wirklich nicht. Sie schwieg erschrocken.

Was sonst, Martina? Was sonst, wenn nicht verweigern?

Sie schwieg.

Schwieg, und das Rätsel wurde immer unergründlicher.


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