Jakob Wassermann
Faber oder Die verlorenen Jahre
Jakob Wassermann

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2

Nun hatte er Muße, das Gesicht zu betrachten. Es war noch dasselbe schöne Gesicht wie vor zehn, wie vor zwanzig Jahren, stellte er fest, das charakteristische Fabersche Gesicht, in welchem Zartheit und Härte, edle Art und unbändige Instinkte einander eng bedrängten. Alle vier Kinder hatten diesen Typus gehabt.

Ein gewisser Zug zwischen den Brauen fiel ihm auf, eine schmerzliche Furche wie bei einem Hund. Aber er konnte da nichts lesen, nichts sehen und nichts erraten.

Jakob Fleming hatte seit vielen Jahren die Gepflogenheit, über seine Erfahrungen und Erlebnisse mit Menschen Buch zu führen. Es interessierten ihn der historische Verlauf und die Möglichkeit, Zusammenhänge aufzudecken, die die Zeit verwirrt und verschleiert hatte. Unter seinen Papieren befanden sich wie bei einer Polizeistelle oder einem Spionageamt ganze Aktenbündel und Zettelkästen namentlich über die Personen seines näheren Umgangs. Hatte er diesen oder jenen durch längere Frist aus den Augen verloren, so hielt er in seinen Aufzeichnungen Nachschau und versuchte in wissenschaftlicher Synthese aus den vorhandenen Notizen ihr ferneres Schicksal zu konstruieren. Manchmal hatte er Glück und es stimmte.

So besaß er auch ein umfängliches Heft über die Fabersche Familie, bei der er vor mehr als achtzehn Jahren als Hauslehrer und Erzieher eingetreten war. Es bedurfte nur des Griffes in ein Schubfach, und er hatte das Schreibheft schon vor sich liegen. Leise blätternd schlug er eine der letzten Seiten auf und las die folgende Stelle:

»Was wird aus Martina werden ohne Eugen? wie wird sie leben? Die Frage erhebt sich mir vorläufig nur im Hinblick auf seine vielleicht Monate dauernde Abwesenheit; was geschieht aber, wenn er nicht zurückkehrt, wenn er fällt, was Gott verhüten möge? Ebensowenig kann man sich seine Existenz vorstellen, wenn er von ihr getrennt ist. Es ist nicht zu verkennen, und die Tatsachen haben es unleugbar bewiesen, daß diese beiden Menschen nicht bloß wie von Ewigkeit her für einander bestimmt schienen, sondern daß sie auch, seit sie einander begegnet sind, in zartestem Alter also, eine vollkommene Einheit bilden und eigentlich nur so gedacht werden können. Alle Leute empfinden das, auch die dummen und gleichgültigen, und der Gedanke schon an ein in der Zukunft ruhendes Unglück erfüllt einen mit Schrecken.«

Immer wieder kehrte sein Blick zu diesen Zeilen zurück, und wenn er sie gelesen hatte, erhob er die kurzsichtigen Augen furchtsam zu dem Schläfer. Dann begann er abermals zu blättern, las eine Seite da, eine dort, und vieles Vergangene, es war am Ausdruck des Gesichts zu merken, wurde in seiner Erinnerung lebendig.

Wunderliches Haus, wunderliche Vergesellschaftung von Menschen. Eltern, die sich der Herrschaft über ihre Kinder freiwillig entschlugen; Kinder, für die die Worte Gehorsam und Zucht belächelnswerte Schälle waren. Keine Regel, keine Ordnung, kein Maß und Gleichmaß, keine religiöse Bindung und tiefere Pietät, alles nur zufällige Übereinkunft und Sichvertragen nach Laune und Wahl. Mannigfache Bemerkungen des Schreibers vermeldeten sein Befremden über das, was er hier an Lebenshaltung und -führung wahrnahm, und die Mühe, die er sich gab, ein Gesetz oder eine allgemeine Strömung in der Zeit dafür aufzufinden.

Doktor Faber, ein beliebter Arzt, hatte von mütterlicher Seite slawisches Blut in den Adern, vom Vater her entstammte er einer alten süddeutschen Patrizierfamilie. Anna, seine Frau, war ebenfalls Mischblut, ihr Vater war ein in Hannover eingewanderter Schotte gewesen. Sie war gleichsam die Unruhe des Hauses, von ihr ging die Bewegung aus, sie hielt den Einzelnen in Atem und bestimmte seinen Gang und seine Richtung. Als Vorkämpferin für die Rechte ihres Geschlechts wirkte sie in der Öffentlichkeit, leitete eine Frauenzeitschrift, gründete Frauenvereine und sprach in Versammlungen; auch im häuslichen Kreis bevorzugte sie Ausdrücke und Wendungen, mit denen sie Massen von Zuhörern zu entflammen gewohnt war und berauschte sich gern an der Leidenschaft ihrer eigenen Rede. Doktor Faber ließ sie in jeglichem Bezug gewähren, und weit entfernt, ihr ziemlich lärmendes und wechselvolles Treiben zu mißbilligen, zeigte er vielmehr in seiner still-passiven Art eine fast kindliche Bewunderung für ihren starken Charakter und ihren unermüdlichen Idealismus. Der Annalenschreiber verlieh zu öfteren Malen der Achtung und Zuneigung für diesen Mann Ausdruck, dessen Vornehmheit und ruhige Geduld in tröstlichem Gegensatz zu der Hast und Lautheit aller Menschen stand, die ihre gekräuselten Ringe um ihn zogen. Namentlich gefiel ihm eine gewisse Verschleierung seines Wesens, ungewöhnlich bei einem gereiften Mann in praktischem Beruf, die seinen Worten und Handlungen eine angenehme Hintergründigkeit schuf und die Personen, die mit ihm zu tun hatten, dazu verführte, sich rückhaltlos zu offenbaren, sozusagen immer auf beleuchteter Bühne vor ihm zu spielen. Nie hörte ihn Fleming murren oder unfreundliche Kritik üben. Von sarkastischem, ja tiefskeptischem Geist wie die meisten Ärzte, ließ er sich doch niemals hinreißen, über einen Menschen lieblos zu urteilen, auch dann nicht, wenn ihm Böses durch ihn widerfahren war. Es kam vor, daß er sich kleinlaut von seinen Kindern belehren ließ, wenn er sich nach ihrer Ansicht zugunsten eines solchen geirrt hatte; er legte dann in der Haltung gegen die eigenen Kinder eine respektvolle Aufmerksamkeit an den Tag, wie der Annalist mit kaum verhehltem Tadel notierte.

Recht mißlich war für Fleming die Erfahrung, daß das Haus offene Türen hatte für jedermann. Seine Zöglinge waren ohnehin schwer zur Sammlung zu bringen, und bei all ihrer Begabung und heiteren Bereitschaft zu lernen und aufzunehmen, erwiesen sich doch die vielfachen äußeren Einflüsse als störend. Ob es nun Zufluchtsuchende waren oder Unterhaltungsbedürftige, arme Teufel ohne Quartier oder intellektuelle Müßiggänger, die eine Nacht verschwatzen wollten und den Heimweg scheuten, alle fanden Willkomm und Obdach. Bisweilen bezog Anna Faber mit den Kindern die Bodenkammer, während nahezu fremde Leute die Schlafzimmer innehatten. »Ein betrübliches Durcheinander«, klagte Fleming einmal in seinem Heft; »um neun Uhr abends wird zu Mittag gegessen, um Mitternacht erscheinen noch Gäste und fordern mehr oder minder dringlich Rat und Anteil für ihre verschiedenen Ideen und Geschäfte. Von Zubettegehen ist dann bei den Kindern nicht die Rede; sie wollen alles wissen, sehen und hören und sind in alle Verhältnisse eingeweiht. Da fehlt es manchmal nicht an schlimmen Überraschungen; vorgestern hab ich Klara schlafend in einem Kleiderschrank gefunden.«

Man lebte von der Hand in den Mund, hatte Schulden beim Krämer und beim Kaufmann, beim Metzger und beim Bäcker, ohne daß sich Anna Faber darüber Sorgen machte. Vom Ertrag seiner Praxis vermochte Doktor Faber den verworrenen Aufwand nicht zu bestreiten, zumal er von den meisten seiner Patienten keine Bezahlung annahm. Es vergingen oft Monate, ehe Fleming seinen Gehalt ausbezahlt bekam; aber wie es für selbstverständlich galt, daß er wartete und man sich gar nicht erst entschuldigte; wie man keinen Zweifel darein setzte, daß er nicht bloß jeden Überfluß, sondern auch jede Not mit der Familie zu teilen wünschte, so unterdrückte er seinerseits alle Regungen der Unzufriedenheit, um so mehr als er sich mit der Zeit immer inniger an seine Zöglinge anschloß, am meisten an Eugen, den drittältesten.

Damit wuchsen aber auch seine Befürchtungen wegen ihrer Zukunft und Entwicklung. Uneingeschränkte Freizügigkeit gewann oft das Aussehen von Zügellosigkeit. Was sie unternahmen, ob sie sich nun in einem Raufhandel hervortaten, ein Vergnügen, das selbst von Klara nicht verschmäht wurde, oder ob der eine oder andere plötzlich tagelang aus dem Gesichtskreis des Lehrers und Hofmeisters verschwand, um dann, als wenn nichts geschehen wäre, in später Abendstunde, von heimlichen Abenteuern voll, schmutzig und zerrissen wieder aufzutauchen, alles wurde von der Mutter gebilligt und am Ende noch gepriesen. Sie sagte, sie wolle ihre Kinder zu geistig unabhängigen Menschen erziehen. Fleming begehrte zu wissen, was sie darunter verstehe, und als er ihre schwärmerische Erklärung trocken abwies, mischte sich Doktor Faber ein und meinte gutmütig-spottend, sie habe den Kindern schon in der Wiege den Haß gegen Vorurteile gepredigt, bei den Urteilen halte sie noch nicht. Sie drohte ihm mit dem Finger, doch er blickte von seiner hageren Höhe in freundlicher Toleranz auf die dicke feurige kleine Frau herab.

Eines Abends entspann sich eine heftige Meinungsverschiedenheit zwischen den Ehegatten. Karl, der vor der Vollendung des siebzehnten Jahres stand und ein bestimmtes Lebensziel beharrlich verfolgte, hatte dem Vater eröffnet, daß er Bakteriologie studieren wolle. Doktor Faber gab seine Abneigung dagegen mit auffallender Schärfe kund. Nicht bloß daß er eine akademische Laufbahn für einen der Söhne nicht für wünschenswert hielt, da er ihm keine ökonomische Sicherheit und Deckung bieten konnte, schien er auch außerdem Gründe zum Widerstand zu haben, die er verschwieg, die aber, wie Fleming vermutete, tief in seiner Natur wurzelten. In einem dunklen Teil seiner Seele hegte er einen geheimnisvollen Haß gegen die Wissenschaft. Desto ungestümer ergriff Anna für ihren Ältesten Partei. Sie erging sich in blühenden Wendungen und äußerte, einen jungen Mann von der Richtung abzulenken, die ihm sein Genius gewiesen, sei ein Verbrechen, dessen sie sich nicht schuldig machen und von dem sie die Luft ihres Hauses rein halten möchte. Hierauf schwieg Doktor Faber. Eine viel spätere Eintragung Flemings bemerkte an dieser Stelle des Berichts: »Hätte er doch lieber geredet und sich gegen das Unheil zur Wehr gesetzt, das er vielleicht ahnte!«

Obschon man hier Zustände wie Personen durch die Augen eines in ziemlich engen Anschauungen befangenen Mittlers erblickt, bleibt doch die Tatsache des verhängnisvollen Einflusses bestehen, den Anna Faber trotz leidenschaftlichen Wohlmeinens und unbegrenzter Liebe auf ihre Kinder übte, und auf eines unter ihnen, den schwachen und romantisch-verträumten Roderich, der ein Jahr jünger war als Karl, in schmerzlich spürbarer Art. Dies war auch die Ursache von häufigen und ernsten Auseinandersetzungen zwischen ihr und Fleming, die allmählich das Gepräge sachlicher Gegnerschaft verloren und am Beginn des fünften Jahres seiner Zugehörigkeit zum Hause, als das Zusammentreffen zweier verschiedener Ereignisse ihn plötzlich unversöhnlich stimmte, zum Bruch führte.

Es war damals ein hübsches Dienstmädchen bei Fabers in Stellung, ein lustiges frisches Kind von kaum siebzehn Jahren. Nach einiger Zeit büßte das Mädchen seine muntere Laune ein, und als Anna Faber sie eines Tages freundlich ausholte, ob sie Kummer habe, gestand sie ihr unter einem Strom von Tränen, daß sie sich guter Hoffnung fühle. Ihre Verzweiflung war um so größer, als sie den Zorn ihrer Eltern fürchtete, einfacher und streng denkender Handwerksleute in der Vorstadt. Im weiteren Verlauf der Beichte ergab sich, daß Roderich es war, der sie verführt hatte, und dieser, von der Mutter zur Rede gestellt, leugnete keineswegs und behandelte die ganze Angelegenheit, gemäß den Grundsätzen, in denen er erzogen war, als eine wenn auch unbequeme, so doch natürliche Episode. So wurde sie auch von Anna Faber aufgefaßt, die sich der geängstigten und vor Scham fast vergehenden jungen Magd aufs sorglichste annahm, sie heiter tröstete, von jeder schweren Arbeit befreite, sie überdies in den Familienkreis zog und ohne Standeshochmut und heimliche Vorbehalte mit ihr wie mit der eigenen Tochter verfuhr.

Ungefähr um die gleiche Zeit starb ein Freund Doktor Fabers, ein Bildhauer namens Wiedmann, und hinterließ seine einzige Tochter Martina, die mit Klara im selben Alter stand, verwaist und völlig mittellos. Martina hatte keine Anverwandten, kein Heim, kein Asyl, daher besann sich Doktor Faber nicht lang und brachte sie zu seinen Kindern, mit denen zusammen sie von da an aufwachsen sollte.

So war die Familie um zwei Mitglieder vermehrt, und die Geliebte des Sohnes saß mit der Tochter des Hauses und den andern Söhnen und der fremden Martina bei Tisch. Das verdroß den bürgerlich denkenden Fleming. Er hätte es aber wie vieles sonst hingenommen, wäre ihm nicht ein anderer Umstand geradezu anstößig gewesen. Die Schwangerschaft der kindlichen Magd wurde mit sonderbarer Nüchternheit und Genauigkeit vor aller Ohren erörtert; diese oder jene auftauchende Schwierigkeit in der künftigen Gestaltung ihrer Existenz war Anlaß zu gemeinsamen Beratungen, an denen sowohl Doktor Faber als auch die vierzehnjährige Klara teilnahmen. Man tauschte Meinungen aus über die fernere Beziehung Roderichs zu dem Mädchen, berechnete den Zeitpunkt der Niederkunft, erwog, ob das Kind männlichen ober weiblichen Geschlechts sein würde und schlug Namen vor, die es im einen oder andern Fall tragen sollte. Abgesehen davon, daß es Fleming eine oft kaum erträgliche Pein bereitete, das glühend verlegene Gesicht der jungen Dienerin zu gewahren, bedrückte ihn auch die Gegenwart Martinas in einem Maß, daß er bisweilen Mühe hatte, sie nicht bei der Hand zu fassen und hinauszuführen. Sie saß still da, die Hände im Schoß, das Haupt in schelmischer Weise leicht geneigt, hörte mit großen Augen zu und schwankte zwischen Lächeln und erschrockener Neugier.

Die eigentümliche Lieblichkeit dieses Geschöpfs übte auf Fleming eine in den Aufzeichnungen deutlich erkennbare Wirkung. Nie war ihrer ohne ein bewunderndes Beiwort erwähnt; auch die magische Kette, die schon in jenen frühen Jahren, von andern unbemerkt, nicht einmal von ihnen selbst gewußt, Eugen und sie verband, nahm Fleming hellsichtig wahr. Einmal hieß es von ihr, ein so blumenähnliches und bis in den innersten Kern wahrhaftiges Wesen sei ihm im Leben nie begegnet; und schon aus solcher Gesinnung läßt sich die Entschiedenheit begreifen, mit der er Anna Faber entgegentrat. Eines Tages sagte er ihr offen, er könne eine weitere Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder nicht mehr übernehmen; Karl und Roderich besuchten auf seinen Rat das Gymnasium ohnehin seit einem Jahr; für Eugen sei es ebenfalls an der Zeit, auf die technische Hochschule zu gehen, wie er sichs wünsche, und die gefährliche Treibhausluft des Privatunterrichts mit der abschleifenden und stählenden Arbeit unter Gleichaltrigen zu vertauschen; was Klara anlange, so bedürfe sie weiblicher Führung, nicht aber der seinen. Somit sei er also überflüssig und könne gehen. Man widersprach mit Eifer; Doktor Faber sagte, man habe sich viel zu sehr an ihn gewöhnt, als daß man daran denken könne, ihn zu missen. Karl und Roderich verlegten sich aufs Bitten, Eugen zürnte, Klara spottete über seine sauertöpfische Gewissenhaftigkeit, jeden Tag unternahm man einen Sturm gegen seinen Entschluß, aber Fleming schüttelte nur den Kopf, und als Anna Faber, ungeduldig geworden, ihn in ihrer zupackenden Manier um die wahre Ursache seiner Fahnenflucht, wie sie es nannte, befragte, hielt er sich für verpflichtet, ihr reinen Wein einzuschenken. Er erklärte ihr, daß er ihre Lebensanschauungen nicht billige, ihre pädagogischen Prinzipien nicht, ihre Haltung als Frau und Mutter nicht. Wenn es etwas gäbe, das er mit seiner Überzeugung nicht vereinbaren könne, sei es die erotische Zuchtlosigkeit und die Abkehr von Bürgersitte und sozialer Tradition, die sie, auf eigene Machtvollkommenheit pochend, beinahe frivol begünstige. Er erkenne darin nur die Wurzel zu unheilbaren Übeln und wolle sich nicht länger zum Mitschuldigen machen.

Anna Faber lachte zuerst aus vollem Hals, dann wurde sie beleidigend; ein Wort gab das andere, und das Ende war, daß Fleming noch am selben Tag das Haus verließ. Die Szene zwischen ihm und Anna war in dem Merkheft mit allen Einzelheiten geschildert, zumal solchen, die ihre Verblendung ins Licht rückten, und nicht vergessen war, daß, als er mit hochrotem Kopf aus dem Zimmer ging, Martina und Eugen Hand in Hand auf ihn zutraten und ihn schweigend anblickten, der Jüngling voll Vorwurf und stolzen Unwillens, das anmutige Mädchen mit dem schalkhaften großäugigen Staunen, das ihn immer zwang, die Augen vor ihr niederzuschlagen. Wieder betonte er, daß es ihn gerade in diesem erregten Moment wie eine freudige Erkenntnis traf, daß die beiden Menschen eine von der Vorsehung selbst geschaffene und gewollte Verbindung darstellten. Das wurde ihm förmlich zum Bild und zu einer Art von Glaubenssatz, der sich bei seinen späteren seltenen Besuchen im Hause und so oft Eugen und Martina zu ihm kamen, um eine Stunde harmlos zu verplaudern, nur noch befestigte.

Einige Monate nach dem Zerwürfnis folgte er einem Ruf nach Rom und arbeitete dort anderthalb Jahre lang an der vatikanischen Bibliothek. Während dieser Zeit war die Beziehung zu den früheren Freunden gänzlich unterbrochen, auch die Aufzeichnungen hörten auf. Als er um die Mitte des Jahres 1909 zurückkehrte, wurde er zur Mitwirkung an einem lexikographischen Unternehmen aufgefordert, und um die vertraglich bedingte Frist einhalten zu können, lebte er wochenlang wie ein Zellenhäftling. Eines Tages kam ein Kollege vom Seminar zu ihm und erzählte ganz beiläufig und unter andern Neuigkeiten, der junge Karl Faber habe sich bei einem kühnen Reinzuchtsversuch mit Bakterien durch Selbstinjektion eine Blutvergiftung zugezogen, der er im Verlauf von zwölf Stunden erlegen sei. Gestern habe man ihn begraben.

Fleming erschrickt bis ins Mark. Er läßt alles stehen und liegen und eilt zu Fabers, nur daran denkend, wie er seine scheinbare Teilnahmlosigkeit entschuldigen könne. Er trifft eine Menge Leute dort, die von weitabliegenden Dingen schwatzen. Der Doktor begrüßt ihn mit stiller Herzlichkeit, Anna drückt ihm die Hand, erkundigt sich nach seinem Ergehen und setzt ein begonnenes Gespräch fort. Von allem wird geredet, nur nicht von dem Toten. Keine Miene zeigt Trauer oder Schmerz um den Verlust.

Das, er spürt es wieder, ist die unheimliche Kraft, die von Anna Faber ausgeht, ihr unbeugsamer Mut, ihr durch nichts zu erschütternder Glaube ans Leben und an sich selbst. Innerlich mag sie wohl bluten, aber sie verbirgt es hinter einer willensvollen Unbefangenheit und zwingt ihre Gäste, ihre Kinder und ihren Gatten, das Geschehene ungefähr so zu betrachten, wie wenn das Sterben eines teuren Menschen nichts andres wäre, als ein kleiner Ausflug ins Gebirge. Es ist geradezu eine Erleichterung für Fleming, als er in einem Nebenraum, durch den er gehen muß, um in Eugens Zimmer zu gelangen, Martina in Tränen findet.

Er erfährt, daß Martina und Eugen verlobt sind. Die junge Magd ist nicht mehr im Hause, aber ihr Kind, der zweijährige Valentin, lebt in der Familie und wird von Anna Faber aufgezogen. Er fragt nach Roderich. Eugen zuckt die Achseln. Der Bruder ist seit Monaten von den Seinen fort und wie verschollen. Eine sehr schöne Frau, stadtbekannte Abenteurerin, hat ihn in ihre Netze verstrickt, und indes er sich noch von ihr geliebt wähnte, ist sie eines Tages mit einem halbverkommenen Sänger ins Ausland gereist, nicht ohne ihn vorher in einem verlogenen Brief zu versichern, daß er ihre einzige Leidenschaft sei. Er setzt Himmel und Erde in Bewegung, um ihren Aufenthalt zu erkunden, die Spuren weisen nach Paris, es gelingt ihm, sich Geld zu verschaffen, die Mutter selbst steckt ihm eine für ihre Verhältnisse bedeutende Summe zu, und er beschließt, die Frau zu suchen und um jeden Preis zurückzugewinnen. Er hat zu verzichten nie gelernt; von Kindesbeinen an ist er in romantischer Selbstverliebtheit gewöhnt, den Hemmnissen des Schicksals das angebliche Recht seiner souveränen Persönlichkeit entgegenzustellen.

Fleming spürte das nahende Unheil. Hier traf alles zusammen, um eine am Abgrund schwebende Existenz durch sich selbst zu stürzen. Um die Wende des Jahres kam die Nachricht, daß sich Roderich in einer kleinen Stadt am Meer, im nördlichen Frankreich, erschossen habe. Anna Faber und Eugen reisten hin und brachten die Leiche. In seiner Tasche hatte man einen nicht abgeschickten Brief an jene Frau gefunden, aus welchem hervorging, daß er inzwischen mit ihr gelebt, daß sie ihm aber dann neuerdings und in entwürdigendster Form den Laufpaß gegeben hatte.

Diesmal beugte es den Vater hart, es brach ihn beinahe. Anna blieb aufrecht. Sie hatte den edelsten Stein aus ihrer Krone verloren, wie sie sich ausdrückte. Es gefiel ihr, in Roderich einen Märtyrer der Liebe zu sehen, einen modernen Abälard, und von den beiden Kindern, die sie nun noch hatte, von ihrem Gatten und von Martina forderte sie blinde Anbetung des Idols, sowie sie den Enkel, den Sohn des Dienstmädchens, in Vergötterung des toten Vaters erzog, als ob sich der unsterbliche Ruhmestitel erworben hätte.

Fleming suchte in der Folge nur noch den Umgang mit Eugen und Martina. Das Memorial beschränkte sich auf kurze Mitteilungen über das Glück der beiden und wie sie in einem formlosen sozialen Wesen eine musterhafte Gemeinschaft darstellten, ein Thema, das er mit Vorliebe variierte und für das ihm die höchsten Worte nicht zu hoch waren. Obwohl er zu den jungen Leuten, als sie zwei Jahre später ihren Hausstand gründeten, nicht allzu häufig kam (mehr aus Furcht lästig zu fallen, als aus sonst einer Ursache), hatte er jedesmal eine bezeichnende Einzelheit zu notieren, durch die die vollkommene Harmonie dieser Ehe hervorgehoben wurde. Bei aller Anerkennung jedoch für Eugens ruhige und tüchtige Entwicklung erschien ihm Martina in dem Verhältnis als die Seele und schaffende Kraft. Die Eigenschaften, die er ihr zuschrieb, waren zu überirdisch, als daß er sich nicht von Zeit zu Zeit in Stunden kühlerer Überlegung bemüßigt gefunden hätte, sie einzuschränken und den oder jenen Abstrich zu machen. So klagte er bisweilen, daß sie nicht recht zu fassen sei; jedem ernsten Gespräch und jeder ernsten Situation entschlüpfe sie wie die Eidechse der zugreifenden Hand, und so husche und schwebe sie über vieles hinweg, mit einem Scherz, einem Achselzucken, einem spöttischen Lachen, was übersehen und versäumt zu haben sie vielleicht einmal gereuen könnte.

Während Eugens jahrelanger Abwesenheit wachte er über sie wie über ein kostbares Gut. Doch gleichsam nur von fern und ohne daß es ihr auffiel. Zu ihr ins Haus ging er selten, wenigstens in den ersten Jahren. Er hoffte, daß sie ihn rufen würde. Sie rief ihn aber nie. Wenn er sich einstellte, freute sie sich, wenn er fortblieb, merkte sie es kaum. Später besuchte er ziemlich regelmäßig den kleinen Christoph, wählte aber dazu meist die Stunden, in denen er Martina nicht zu Hause wußte. Von alledem enthielt das Merkheft nur spärliche Andeutungen, von Beobachtungen oder Gesprächen keine Silbe.


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