Lewis Wallace
Ben Hur
Lewis Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreißigstes Kapitel

»Esther, Esther! Sage dem Diener unten, daß er mir einen Becher Wasser bringe.«

»Möchtest du nicht lieber Wein, Vater?«

»Er mag beides bringen.«

Es war im Sommerhause auf dem Dache des alten Palastes der Familie Hur in Jerusalem. Von der nach dem Hofe schauenden Brustwehr rief Esther einem dort stehenden Diener zu. In demselben Augenblick erschien ein anderer Diener auf dem Dache und grüßte ehrerbietig.

»Ein Paket für den Herrn,« sprach er und reichte ihr ein mit Linnen umwickeltes, wohlverschnürtes und versiegeltes Schreiben.

Es war am einundzwanzigsten März, beinahe drei Jahre nach der Ankündigung Christi bei Bethabara. In der Zwischenzeit hatte Malluch im Auftrage Ben Hurs, der den Verfall seines Vaterhauses nicht länger mitansehen konnte, dieses von Pontius Pilatus gekauft und vollständig wiederherstellen lassen. Die Tore, Höfe, Treppen, Terrassen, alle Räumlichkeiten und das Dach waren gereinigt und ausgebessert worden, nichts erinnerte mehr an das traurige Unglück der Familie, ja das ganze Gebäude stand nun in reicherem Schmucke da als zuvor. Auf Schritt und Tritt begegnete der Besucher den Beweisen des feineren Geschmacks, den der junge Eigentümer während seines Aufenthaltes in der Villa bei Misenum und in der römischen Hauptstadt gewonnen hatte.

Trotzdem hatte Ben Hur noch nicht öffentlich von seinem Eigentum Besitz genommen, und er trug auch noch nicht seinen wirklichen Namen. Die Zeit mit Vorbereitungen in Galiläa hinbringend, wartete er in Geduld das Wirken des Nazareners ab, der ihm mit jedem Tage geheimnisvoller erschien und ihn durch Wunder, deren Zeuge er oft war, in banger Ungewißheit über seinen Charakter und seine Sendung ließ. Bisweilen kam er auch in die heilige Stadt, wo er in seinem väterlichen Hause weilte, aber stets nur als Fremdling und Gast.

Diese Besuche Ben Hurs waren weit mehr als eine bloße Erholung von der Anstrengung. Balthasar und Iras hatten im Palaste Wohnung genommen, und der Reiz der Tochter wirkte noch immer mit seiner ursprünglichen Frische auf ihn, während der Vater, obschon ein gebrechlicher Greis, durch seine überraschend wirkungsvollen Reden über die Gottheit des herumziehenden Wundertäters, auf den sie alle ihre Hoffnung setzten, ihre Aufmerksamkeit stets unvermindert rege erhielt.

Simonides und Esther waren erst vor wenigen Tagen nach einer recht mühsamen Reise aus Antiochien angekommen. Simonides schien sich an seinem Heimatlande nicht sattsehen zu können. Der Aufenthalt auf der luftigen Höhe des Daches ergötzte ihn, und die meiste Zeit des Tages verbrachte er dort sitzend in einem Lehnstuhl, dem Seitenstück zu jenem, der in seiner Wohnung über dem Warenhaus am Orontes sich befand. Im Schatten des Sommerhauses konnte er reichlich die erquickende Luft einatmen, die durchsichtig und leicht über den ihm wohlbekannten Hügeln lag. Er konnte den Aufgang der Sonne, ihren Lauf und ihren Untergang beobachten – Erscheinungen gleich denen längst vergangener Zeiten, und Esthers Gegenwart an dieser dem Himmel näher gerückten Stelle erinnerte ihn so leicht an jene andere Esther, die der Gegenstand seiner Liebe in der Jugend, später seine Gattin und im Laufe der Jahre ihm nur noch teurer geworden war. Und doch war er seines Geschäftes nicht uneingedenk. Jeden Tag brachte ihm ein Bote Nachricht von Sanballat, der den ausgedehnten Handel in seiner Abwesenheit leitete, und jeden Tag ging ein Schreiben für Sanballat ab mit so ins einzelne gehenden Weisungen, daß sie jedes andere Urteil außer seinem eigenen ausschlössen und allen möglichen Zufällen vorbeugten mit Ausnahme jener, die der Allmächtige auch einem weitschauenden Menschenauge verborgen hat.

Als Esther nach dem Sommerhause zurückkehrte, fiel das Sonnenlicht mit mildem Scheine auf das staublose Dach, und man konnte sehen, daß sie nun zum Weibe erblüht war. Klein und anmutig von Gestalt, voll Jugendfrische und Gesundheit, mit regelmäßigen Zügen, die hellen Verstand verrieten und durch den Schimmer einer hingebungsvollen Natur verklärt wurden, konnte sie nur Liebe erwecken, wie ihr ganzes Leben der Liebe gewidmet war.

Sie betrachtete im Gehen das Paket, blieb stehn, sah es nochmals an, diesmal aufmerksamer als zuvor, und das Blut schoß ihr in die Wangen: – es war Ben Hurs Siegel. Mit rascheren Schritten eilte sie vorwärts.

Simonides hielt das Paket eine Weile in der Hand und besichtigte ebenfalls das Siegel. Dann erbrach er es und reichte ihr die darin enthaltene Papierrolle.

»Lies!« sprach er.

Seine Augen ruhten auf ihr, während er sprach, und ein sorgenvoller Ausdruck legte sich auf sein Gesicht.

»Du weißt, wie ich sehe, von wem der Brief ist, Esther.«

»Ja – von – unserem Gebieter.«

Obschon ihr Wesen Verlegenheit verriet, begegnete sie seinem Blicke doch mit bescheidener Offenheit.

»Du liebst ihn, Esther,« sprach er ruhig.

»Ja,« antwortete sie.

»Hast du wohl bedacht, was du tust?«

»Ich habe mich bemüht, Vater, an ihn nur als an den Gebieter zu denken, dem ich pflichtmäßig untergeben bin. Dem Willen fehlte die Kraft.«

»Du bist ein gutes Kind, ganz wie deine Mutter war,« sprach er, in träumerisches Sinnen verfallend, aus dem ihn das Aufrollen des Papieres weckte. »Der Herr verzeihe mir, aber – aber deine Liebe wäre nicht umsonst gegeben, hätte ich alles, was ich hatte, behalten, wie ich es hätte tun können. Solche Macht liegt im Gelde!«

»Es wäre noch schlimmer für mich gewesen, wenn du so gehandelt hättest, Vater; denn dann wäre ich jedes Blickes von ihm unwürdig und ohne Stolz auf dich. Soll ich jetzt lesen?«

»Noch einen Augenblick!« sagte er. »Laß mich um deinetwillen, mein Kind, dir das Schlimmste zeigen. Seine Liebe, Esther, ist bereits vergeben.«

»Ich weiß es,« sagte sie ruhig.

»Die Ägypterin hat ihn in ihrem Netze,« setzte er fort. »Sie besitzt die List ihres Volkes und den Reiz der Schönheit dazu, – hohe Schönheit, große List, aber, auch hierin ihrem Volke gleichend, kein Herz. Die Tochter, die ihren Vater verachtet, wird ihren Gatten in Kummer stürzen.«

Nach kurzem Schweigen legte er seine Hand auf ihre Schulter und begann wieder: »Hat er die Ägypterin erst zum Weibe genommen, Esther, wird er mit Reue und sehnsuchtsvollem Schmerze deiner gedenken, denn schließlich werden sich ihm die Augen öffnen und er wird zur Erkenntnis gelangen, daß er nur das Werkzeug ihres schlechten Ehrgeizes war. Rom ist der Mittelpunkt all ihrer Träume. Für sie ist er nur der Sohn des Arrius, des Duumvirs, nicht der Sohn Hurs, des Fürsten von Jerusalem.«

Esther machte keinen Versuch, die Wirkung dieser Worte zu verbergen.

»Rette ihn, Vater! Noch ist es nicht zu spät!« rief sie in flehentlichem Tone.

Er antwortete mit einem zweifelhaften Lächeln: »Ein Ertrinkender mag gerettet werden, ein Verliebter nicht. Aber lies jetzt den Brief!« Sie begann sogleich, um dem peinlichen Gespräche ein Ende zumachen.

»Am 8. Nisan.

Auf der Straße von Galiläa nach Jerusalem.

Der Nazarener ist ebenfalls auf dem Wege. Ich bringe ihm, doch ohne sein Wissen, eine ganze Legion meiner Leute. Eine zweite Legion folgt. Das Osterfest wird die Ansammlung einer solchen Menge entschuldigen. Er sagte vor der Abreise: »Siehe, wir gehn hinauf nach Jerusalem und es wird alles in Erfüllung gehn, was durch die Propheten von mir geschrieben worden ist« Unser Warten naht dem Ende. In Eile. Friede sei mit Dir, Simonides! Ben Hur.«

Esther gab den Brief ihrem Vater zurück, und ein banges Gefühl schnürte ihr Brust und Kehle. Nicht ein Wort stand im Briefs für sie – nicht einmal im Gruße war ihrer gedacht – und es wäre doch so leicht gewesen zu schreiben: Friede sei mit Dir und den Deinen! Zum ersten Male in ihrem Leben empfand sie den schmerzlichen Stachel der Eifersucht.

»Der achte Nisan,« sagte Simonides, – »der achte, und heute, Esther, heute ist der –«

»Der neunte,« erwiderte sie.

»So mögen sie jetzt in Bethanien sein.«

»Und möglicherweise werden wir ihn heute abend sehen,« fügte sie hinzu, ihres Kummers im Augenblick vergessend.

»Es wäre möglich, immerhin möglich! Morgen ist das Fest der ungesäuerten Brote, und er dürfte wohl wünschen, es mitzufeiern, ebenso der Nazarener. Wir werden ihn vielleicht sehen, Esther, vielleicht beide.«

Jetzt erschien der Diener mit Wein und Wasser. Esther bediente ihren Vater, und indessen betrat Iras das Dach. Der Jüdin war die Ägypterin noch nie so wahrhaft schön erschienen wie in diesem Augenblick. Ihr gazeartiges Gewand umgab sie wie eine wogende kleine Nebelwolke, an ihrer Stirn, ihrem Hals und ihren Armen glitzerte massiver Juwelenschmuck, wie ihn die Frauen ihres Volkes so liebten. Ihr Antlitz strahlte vor Heiterkeit. Mit leicht schwebenden Schritten und selbstbewußt, doch ohne Geziertheit, kam sie näher. Bei ihrem Anblick fuhr Esther zusammen und schmiegte sich enger an den Vater.

»Friede sei mit dir, Simonides, und Friede mit der schönen Esther!« sprach Iras, ihr Haupt gegen letztere neigend. – Du erinnerst mich, guter Herr, – wenn ich es ohne Beleidigung sagen darf – du erinnerst mich an die persischen Priester, die um die Neige des Tages die Dächer ihrer Tempel besteigen, um der scheidenden Sonne Gebete nachzusenden. Sollte in dieser Art Gottesverehrung dir etwas unbekannt sein, so laß mich meinen Vater rufen, er hat Magierunterricht genossen.«

»Schöne Ägypterin,« erwiderte der Handelsherr, sich mit ernster Höflichkeit verneigend, – »dein Vater ist ein guter Mann und würde sich nicht verletzt fühlen, wenn er hörte, daß ich in deiner Gegenwart seine persische Weisheit für den geringsten Teil seines Wissens erklärt habe.«

Iras verzog ihre Lippen in kaum merkbarer Weise.

»Um nach Philosophenart zu sprechen, wie du mich einladest,« sagte Iras, »so setzt der geringste Teil immer einen größeren voraus. Erlaube mir die Frage, was du für den größeren Teil jener seltenen Eigenschaft hältst, die du ihm zuzuschreiben beliebst?«

Simonides blickte sie ernst an.

»Die wahre Weisheit sucht immer Gott: die vollkommenste Weisheit ist die Kenntnis Gottes; und niemand aus der Zahl meiner Bekannten besitzt sie in höherem Grads oder bekundet sie besser in Wort und Tat als der gute Balthasar.«

Um das Gespräch abzubrechen, erhob er den Becher und trank. Die Ägypterin wandte sich etwas ärgerlich zu Esther.

»Ein Mann, der Millionen in Waren besitzt und ganze Flotten Schiffe auf dem Meere hat, kann nicht verstehn, woran einfältige Frauen wie wir Freude finden. Lassen wir ihn allein. An der Mauer dort können wir nach Vergnügen plaudern!« Sie begaben sich zur Brustwehr und blieben an der Stelle, wo vor Jahren sich unter dem Druck von Ben Hurs Armen das Ziegelstück losgelöst und Gratus auf den Kopf getroffen hatte.

»Du warst niemals in Rom?« begann Iras, mit einer aufgeschnallten Armspange spielend.

»Nein,« sagte Esther spröde.

»Hattest du nie einen Wunsch, hinzugehn?«

»Nein.«

»O, wie wenig hat dein Leben geboten!«

Der Seufzer, der diesem Ausruf folgte, hätte nicht bedauernder und leidvoller sein können, wenn ihn die Ägypterin wegen eines eigenen schweren Verlustes ausgestoßen hätte. Im nächsten Augenblick lachte sie hell, daß man es drunten auf der Straße hören mußte, und sie sprach: »Oh, du meine kleine Einfalt! Die halbflüggen Vögel, die im Ohr des großen Steinbildes draußen in der memphischen Wüste ihr Nest haben, wissen beinahe so viel wie du!«

Esthers Verwirrung bemerkend, änderte sie ihr Wesen und sagte in vertraulichem Tone: »Du darfst nicht beleidigt sein. O nein! Ich redete nur im Scherze. Latz mich die Wunde küssen und dir etwas mitteilen, was ich sonst niemand sagen würde, – auch nicht, wenn Simbel selbst mich danach fragte und mir eine Lotusblüte aus dem Schaum des Nils anböte!«

Wieder folgte ein Lachen, das den scharfen Blick, womit sie Esther ansah, vortrefflich verdeckte, und sie sprach: »Der König kommt.«

Esther blickte sie mit unschuldiger Überraschung an.

»Der Nazarener,« fuhr Iras fort – »er, von dem unsere Väter so oft sprechen, dem Ben Hur nun schon so lange dient und für den er arbeitet,« – ihre Stimme fiel um einige Töne – »der Nazarener wird morgen hier sein und Ben Hur heute nacht.«

Esther bemühte sich vergebens, ihre Fassung zu bewahren: ihr Blick suchte den Boden, das verräterische Blut stieg ihr in die Wangen und bis an die Stirn, und so blieb ihrem Auge das triumphierende Lächeln erspart, das wie ein flüchtiger Strahl über das Gesicht der Ägypterin glitt.

»Sieh, hier ist sein Versprechen!«

Und sie zog aus ihrem Gürtel eine Rolle hervor.

»Freue dich mit mir, o meine Freundin, heute abend wird er hier sein! Am Tiber steht ein Haus, ein königlicher Palast, den er mir gewidmet hat; und dort Herrin sein heißt –«

Der Hall schneller Schritte, der von der Straße heraufdrang, unterbrach ihre Rede und sie beugte sich über die Brustwehr, um hinabzublicken. Dann zog sie sich zurück und rief, die Hände über dem Kopfe schließend: »Nun sei Isis gepriesen! Er ist es – Ben Hur selbst! Daß er gerade da erscheinen sollte, wo ich seiner in dieser Weise gedachte! Es gibt keine Götter, wenn das nicht ein gutes Zeichen ist! Umarme mich, Esther, und küsse mich!«

Die Jüdin blickte auf. Ihre Wangen glühten, in ihren Augen leuchtete ein Feuer, das einer Zornesflamme ähnlich war, wie nie zuvor. Ihre Sanftmut war allzu rauh mißhandelt worden. Nicht genug, daß es ihr untersagt war, anders als in flüchtigen Träumen des Mannes zu gedenken, den sie liebte, mußte ihr eine prahlerische Nebenbuhlerin im Vertrauen von ihrem besseren Erfolg erzählen und von den glänzenden Aussichten, die denselben krönten. Für sie, die leibeigene Tochter eines Leibeigenen, hatte er kein Wort des Gedenkens. Jene aber konnte seinen Brief vorzeigen, dessen Inhalt sich auszumalen ihrer Phantasie überlassen blieb. Sie fragte:

»Liebst du also ihn so innig, oder Rom um soviel mehr?«

Die Ägypterin trat einen Schritt zurück. Dann beugte sie ihr stolzes Haupt ganz nahe an Esther herab.

»Was ist er dir, Tochter des Simonides?«

Am ganzen Körper bebend, begann diese: »Er ist mein –« Ein plötzlicher Gedanke lähmte ihre Zunge. Sie erblaßte, zitterte, faßte sich wieder und antwortete: »Er ist meines Vaters Freund.« Sie brachte es nicht über sich, ihre Leibeigenschaft einzugestehn. Iras lachte, doch weniger laut als zuvor.

»Nicht mehr als das?« sprach sie. »Ah, bei den ägyptischen Liebesgöttern! Du magst deine Küsse behalten, – behalte sie! Du belehrst mich eben jetzt, daß meiner hier in Judäa köstlichere warten, und« – sie wandte sich zum Gehen, über ihre Schulter zurückblickend – »ich gehe, sie mir zu holen. Friede sei mit dir!«

Esther sah sie die Treppe hinabeilen, dann barg sie ihr Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus, die heiß durch ihre Finger rannen, – in Tränen der Beschämung und tiefen Seelenschmerzes. Und wie um die ihrem ruhigen Gemüte so fremde leidenschaftliche Erregung zu verstärken, kamen ihr ihres Vaters Worte mit einer neuen Bedeutung von vernichtender Wirkung in den Sinn: – Deine Liebe wäre nicht umsonst gegeben, hätte ich alles behalten, was ich besaß, wie ich es hätte tun können!

Die Sterne standen bereits am Himmel und leuchteten über der Stadt und der sie umgebenden dunklen Hügelkette, als sie sich so weit erholt hatte, daß sie nach dem Sommerhaufe zurück» kehren konnte. Stumm nahm sie ihren gewohnten Platz an der Seite ihres Vaters ein und harrte in stiller Hingebung seiner Winke. Die Erfüllung dieser Pflicht sollte, schien es, die Aufgabe ihrer Jugend, wenn nicht ihres Lebens sein.

Etwa eine Stunde nach dem Vorfall auf dem Dache kamen Balthasar und Simonides, letzterer von Esther begleitet, im großen Saale des Palastes zusammen. Während sie sich unterredeten, traten Ben Hur und Iras miteinander ein.

Der Jüngling trat, seiner Begleiterin vorangehend, auf Balthasar zu, begrüßte ihn und erhielt den Gegengruß; dann wandte er sich gegen Simonides, blieb aber beim Anblick Esthers wie gebannt stehn. Voller Überraschung sah er, daß sie nun zum Weibe und zur lieblichen Schönheit erblüht war, und indes er sie betrachtete, mahnte ihn eine leise Stimme an gebrochene Vorsähe und nicht erfüllte Pflichten. Es erwachte in ihm beinahe sein früheres Selbst. Einen Augenblick hielt ihn das Staunen fest. Dann sich wieder fassend, ging er auf Esther zu und sprach:

»Friede sei mit dir, süße Esther, – Friede! Und mit dir, Simonides,« fuhr er fort, den Handelsherrn erblickend, »sei der Segen des Herrn, vor allem schon darum, weil du dem Vaterlosen ein guter Vater warst.«

Esther hörte ihn mit gesenkten Augen an. Simonides antwortete:

»Ich wiederhole den Willkommgruß des guten Balthasar, Sohn Hurs, sei willkommen im Hause deines Vaters! Setze dich und erzähle uns von deinen Wanderungen und von deinem Wirken sowie vom wunderbaren Nazarener – wer und was er ist. Wenn du dich hier nicht heimisch fühlst, wer sollte es sonst? Setze dich, bitte, hier zwischen uns, daß wir alle dich hören können.«

Als er sich niedergesetzt und einige Worte mit den Anwesenden gewechselt hatte, wandte er sich ausschließlich an die Männer.

»Schon viele Tage folge ich dem Nazarener mit so wachsamem Auge, wie nur jemand einen Menschen beobachten kann, den er mit größter Sehnsucht erwartet hat. Ich sah ihn in allen jenen Umständen, die als Probe und Prüfstein eines Menschen gelten, und so gewiß ich bin, daß er ein Mensch ist, wie ich einer bin, ebenso überzeugt bin ich davon, daß er mehr als ein Mensch ist!«

»Inwiefern mehr?« fragte Simonides.

»Laßt mich erzählen–«

Das Eintreten eines neuen Ankömmlings unterbrach ihn; er wandte sich um und erhob sich mit ausgestreckten Händen.

»Amrah, gute alte Amrah!« rief er.

Sie trat näher; die Freude ihres Gesichtes bemerkend, beachteten die Anwesenden gar nicht, wie runzelig und gelbbraun dasselbe war. Sie kniete zu seinen Füßen nieder, umarmte seine Knie und küßte immer wieder seine Hände; er strich ihr, sobald es ihm möglich war, das dünne graue Haar aus dem Gesichte und küßte sie auf die Wange, indem er sprach: »Gute Amrah, weißt du mir nichts, gar nichts von ihnen zu berichten, kein Wort, auch nicht ein kleines Zeichen?«

Sie brach in Schluchzen aus, das für ihn deutlicher sprach als selbst das mündliche Wort.

»Gottes Wille geschehe!« sprach er dann in feierlichem Tone, aus dem jeder Zuhörer erkannte, daß er keine Hoffnung mehr habe, die Seinigen wiederzusehen.

Als er sich einigermaßen gesammelt hatte, wandte er sich wieder an die Männer und begann:

»Ich getraue mir nicht, auf die Frage inbetreff des Nazareners zu antworten, ohne euch zuvor einiges von den Dingen zu erzählen, die ich ihn tun sah, und dazu fühle ich mich um so mehr bestimmt, da er morgen in die Stadt kommen und in den Tempel gehn wird, den er seines Vaters Haus nennt und wo er, wie es weiter heißt, sich öffentlich erklären wird. Demnach werden wir und ganz Israel morgen erfahren, ob du recht hast, Balthasar, oder du, Simonides.«

Balthasar rieb zitternd die Hände und fragte: »Wohin soll ich gehn, um ihn zu sehen?«

»Das Gedränge wird sehr groß sein. Ich halte es für das beste, wenn ihr alle euch auf das Dach einer der Hallen, etwa der Halle Salomos, begebt.«

»Ihr seid denkende und erfahrene Männer,« nahm Ben Hur nach einer Pause wieder das Wort. »Ihr wisset, wie sehr wir an der Erde hangen und daß es fast zu einem Gesetze unserer Natur geworden ist, das ganze Leben der Jagd nach gewissen Erdengütern zu widmen. Haltet ihr euch nun dieses Gesetz vor Augen als etwas, was uns kennzeichnet, – was würdet ihr von einem Manne sagen, der die Steine zu seinen Füßen in Gold verwandeln und unermeßlich reich sein könnte, aber aus freier Wahl arm ist?«

»Wie weißt du, daß dieser Mann sie hat?« fragte Iras. Ben Hur antwortete schnell: »Ich sah ihn Wasser in Wein verwandeln.«

»Wunderbar, wirklich wunderbar!« rief Simonides; »aber noch wunderbarer scheint es mir, daß er es vorziehen sollte, arm zu leben, da er doch so reich sein könnte. Ist er wirklich so arm?«

»Er besitzt nichts und beneidet niemand um sein Eigentum. Er bemitleidet die Reichen. Doch lassen wir das. Was würdet ihr sagen, wenn ihr einen Menschen sieben Brote und zwei Fische, seinen ganzen Vorrat, so vermehren sähet, daß fünftausend Menschen sich davon sättigen könnten und noch ganze Körbe voll übrig blieben? Das sah ich den Nazarener tun!«

»Du sahst es?« rief Simonides.

»Ja, und ich aß von dem Brote und den Fischen.«

»Höret noch etwas Wunderbareres,« fuhr Ben Hur fort. »Was würdet ihr von einem Menschen sagen, der solche Heilkraft besitzt, daß die Kranken bloß den Saum seines Kleides zu berühren oder von fern ihn anzurufen brauchen, um geheilt zu werden? Auch davon war ich Zeuge, nicht einmal, sondern oft. Als wir von Jericho weiterreisten, riefen zwei Blinde am Wege den Nazarener an. Er berührte ihre Augen und sie sahen. Auch einen Gichtbrüchigen brachte man einst zu ihm und er sagte bloß: »Geh in dein Haus!« und der Mann ging gesund von dannen. Was sagt ihr dazu?«

Der Handelsherr fand keine Antwort.

»Haltet ihr vielleicht, was ich euch erzählt habe, für Blendwerk, wie ich andere es aussprechen hörte? Laßt mich als Antwort noch größere Werke anführen, die ich ihn tun sah. Erinnert euch zunächst an jene Unglücklichen, wie vom Fluche Getroffenen, deren einzige Hoffnung, wie ihr wißt, der Tod ist, – ich meine die Aussätzigen.«

Bei diesen Worten ließ Amrah die Hände sinken und richtete sich halb auf, damit kein Wort ihr entgehe.

»Was würdet ihr sagen,« sprach Ben Hur mit noch größerem Ernste, – »was würdet ihr sagen, wenn ihr folgendes mit angesehen hättet wie ich? Als ich unten in Galiläa beim Nazarener weilte, kam ein Aussätziger zu ihm und sprach: »Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen!« Er hörte den Ruf, berührte den Unglücklichen mit der Hand und sprach: »Sei gereinigt!« Und sogleich hatte der Mann sein früheres Aussehen wieder und war gesund wie irgendeiner aus uns, die Zeugen der Heilung wären, und wir waren eine große Menge.«

Jetzt erhob sich Amrah und strich sich mit ihren mageren Fingern die steifen Locken aus den Augen. Dem armen Geschöpf war das Herz so voll und schwer, daß sie der Erzählung kaum zu folgen vermochte.

»Ein anderes Mal wieder«, sprach Ben Hur, ohne innezuhalten, »kamen zehn Aussätzige auf einmal zu ihm, fielen ihm zu Füßen und riefen – ich sah und hörte alles –, riefen flehentlich: »Meister, Meister, erbarme dich unser!« Er sprach zu ihnen: »Gehet hin und zeiget euch den Priestern, wie das Gesetz es vorschreibt, und ehe ihr hinkommt, werdet ihr geheilt sein.««

»Und es war wirklich so?«

»Ja. Als sie auf dem Wege waren, verließ sie die Krankheit und nichts erinnerte sie mehr daran außer ihrer unreinen Kleidung.«

»Solche Dinge sind noch nie gehört worden, – niemals in ganz Israel!« sprach Simonides mit gedämpfter Stimme.

Während er redete, ging Amrah geräuschlos zur Tür und entfernte sich, ohne daß es jemand bemerkt hätte.

»Welche Gedanken solche Begebenheiten, die unter meinen Augen sich zutrugen, in mir erweckten, brauche ich euch nicht auseinanderzusetzen.« fuhr Ben Hur fort. »Doch mein Staunen, meine Zweifel, meine Bedenken hatten den Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Galiläer sind, wie euch bekannt ist, ungestüm und rasch entschlossen. Nach jahrelangem Warten brannten ihnen die Schwerter in den Händen, sie sehnten sich nach Taten. »Er zögert, sich zu erklären; laßt uns ihn dazu drängen,« baten sie mich. Auch ich wurde ungeduldig. Wenn er König sein soll, warum nicht jetzt? Die Legionen sind bereit. Als er nun einst am Ufer des Sees lehrte, wollten wir ihn mit Gewalt zum König krönen, er aber verschwand plötzlich und wurde später auf einem Schiffe gesehen, das über den See fuhr. Guter Simonides, wonach andere sich sehnen, was ihnen den Sinn betört, – Reichtum, Macht, selbst die königliche Würde, von einem großen Volke in liebender Anhänglichkeit angeboten – das berührt diesen nicht im mindesten. Was sagst du?«

Des Handelsherrn Kopf war tief auf die Brust gesunken; jetzt erhob er ihn und antwortete entschlossen: »Der Herr lebt noch und die Worte des Propheten stehn fest. Die Zeit muß erst zur Reife kommen, der morgige Tag wird uns die Antwort bringen.«

»Es sei so!« sprach Balthasar lächelnd.

Und Ben Kur wiederholte: »Es sei so!« Dann fuhr er fort:

»Ich bin noch nicht zu Ende. Die bisher angeführten Werke mögen, so groß sie sind, dennoch solchen, die nicht Zeugen derselben waren wie ich, nicht über jeden Zweifel erhaben scheinen. Laßt uns nun zu anderen, unendlich größeren übergehn, die seit Anbeginn der Welt als jede menschliche Macht weit übersteigend anerkannt sind. Sagt mir, habt ihr je von einem Menschen gehört, daß er dem Tod entrissen habe, was dieser bereits als Beute besaß? Wer hat je einem Toten das entschwundene Leben wieder eingehaucht? Wer außer –« »Gott!« ergänzte Balthasar ehrfurchtsvoll.

Ben Hur beugte sein Haupt.

»O weiser Ägypter, ich darf den Namen, den du mir auf die Zunge legst, nicht zurückweisen. Was würdest du, – oder du, Simonides –, was würdet ihr beide gesagt haben, hättet ihr gesehen, wie ich es sah, daß ein Mensch mit wenig Worten und ohne besonders Förmlichkeiten, so mühelos und schnell, wie etwa eine Mutter ihr schlafendes Kind weckt, das Werk des Todes zerstörte? Es war unten bei Naim. Wir wollten eben durch das Stadttor schreiten, als man einen Toten hinaustrug. Der Nazarener blieb stehn, um den Leichenzug vorüberzulassen. Im Zuge befand sich eine Frau, die bitterlich weinte. Ich sah, wie sich auf dem Angesichte des Nazareners das Mitleid ausprägte. Er redete mit ihr, trat dann hinzu, rührte die Bahre an und sprach zu dem Toten, der im Leichengewande auf derselben lag: »Jüngling, ich sage dir, steh auf!« Und sofort richtete sich der Tote auf und fing an zu reden.«

»Gott allein besitzt solche Macht,« sprach Balthasar zu Simonides.

»Merket wohl,« fuhr Ben Hur fort, – »ich erzähle euch nur Dinge, deren Zeuge ich selbst mit einer ungezählten Menge anderer war. Auf dem Wege hierher sah ich eine noch erstaunlichere Wundertat. In Bethanien lebte ein Mann namens Lazarus, er starb und wurde begraben. Und nachdem er bereits vier Tage in einem mit einem großen Steine verschlossenen Grabe gelegen hatte, wurde der Nazarener hingeführt. Als der Stein vom Grabe weggewälzt wurde, sahen wir im Innern den Toten in Tücher gehüllt liegen und merkten, daß er schon in Verwesung übergehe. Viele Menschen standen herum und wir alle hörten, wie der Nazarener rief – denn er redete mit lauter Stimme: »Lazarus, komm heraus!« Ich kann euch die Gefühle nicht beschreiben, die sich meiner bemächtigten, als sozusagen zur Antwort der Tote sich aufrichtete und in seinen Leichentüchern zu uns herauskam. »Machet ihn los,« sprach dann der Nazarener, »machet ihn los und lasset ihn fortgehn.« Und als das Tuch, in das man sein Angesicht gehüllt hatte, hinweggenommen worden war, siehe, da rann von neuem das Blut belebend durch die Adern seines Körpers, und er war gerade so, wie er vor der Krankheit gewesen war, die ihn hinweggerafft hatte. Er lebt noch und man kann zu jeder Stunde ihn sehen und mit ihm sprechen. Ihr könnt morgen hingehn, ihn zu sehen. Und nun, meine Freunde, da ich alles zum Gegenstände Nötige mitgeteilt habe, richte ich an euch die Frage, die mich hierhergeführt hat, dieselbe Frage, die vorhin du, Simonides, an mich gestellt hast: Was ist dieser Nazarener, der mehr ist als ein bloßer Mensch?«

Die Frage war in feierlichem Tone gestellt worden und noch lange nach Mitternacht saß die Gesellschaft beisammen und erörterte dieselbe. Simonides wollte von seiner Auslegung der prophetischen Aussprüche noch immer nicht abgehn, und Ben Hur behauptete, daß beide im Rechte seien: daß der Nazarener der Erlöser sei, wie Balthasar ihn erwartete, und auch der verheißene König, den Simonides ersehnte.

»Morgen wird es sich zeigen. Friede sei mit euch allen!«

Mit diesen Worten verabschiedete sich Ben Hur, um nach Bethanien zurückzukehren.


 << zurück weiter >>