Lewis Wallace
Ben Hur
Lewis Wallace

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Zwanzigstes Kapitel.

Malluch blieb an der Tür zurück, Ben Hur trat allein ein. Es war dasselbe Gemach, in welchem er die frühere Unterredung mit Simonides gehabt hatte. Drei Personen waren anwesend und blickten ihm entgegen: Simonides, Ilderim und Esther.

Er blickte sie rasch der Reihe nach an, als ob er Antwort auf die sich ihm aufdrängende Frage suche: was können sie von mir wollen? Doch bewahrte er die Ruhe und hielt seine Sinne gespannt, denn schon folgte der ersten Frage die zweite: sind sie Freunde oder Feinde?

Endlich blieben seine Augen auf Esther haften. Die Männer erwiderten seinen Blick freundlich. In ihrem Blick aber lag mehr als Freundlichkeit – etwas Geistiges, für ihn Unerklärbares, das sich dennoch, auch ohne Erklärung, tief seinem Innersten einprägte.

»Sohn Hurs –«

Der Eingetretene wandte sich gegen den Sprecher.

»Sohn Hurs,« sprach Simonides, langsam und mit Nachdruck die Anrede wiederholend, als wollte er deren ganze Bedeutung ihm zum Bewußtsein bringen, »empfange den Frieden des Herrn, des Gottes unserer Väter, empfange ihn von mir und den Meinigen.«

»Simonides,« antwortete Ben Hur tief bewegt, »den heiligen Frieden, den du mir bietest, nehme ich an. Wie ein Sohn seinem Vater erwidere ich ihn dir. Nur laß uns gegenseitig vollkommen verstehn!«

In so zarter Weise suchte er jede Verdemütigung des Handelsherrn zu vermeiden und an die Stelle des Verhältnisses zwischen Gebieter und Untergebenen ein höheres und heiligeres zu setzen.

Simonides ließ die Hände sinken und sprach, zu Esther gewendet: »Tochter, bring einen Sitz für unseren Gebieter!«

Sie eilte fort, brachte einen niedrigen Sessel und stand nun errötend da, von einem zum anderen blickend und einen Befehl erwartend. Doch diese schwiegen, da jeder den Vorrang, den ein Befehl in sich geschlossen hätte, dem anderen überlassen wollte. Als endlich die Pause peinlich zu werden begann, trat Ben Hur vor, nahm den Sessel höflich aus ihrer Hand und stellte ihn vor den Lehnstuhl zu den Füßen des Handelsherrn. »Ich will mich hierher setzen,« sprach er.

Seine Augen trafen die ihrigen, indes nur einen Augenblick, dennoch verstanden sie sich. Er erkannte ihre Dankbarkeit, sie seine Großmut und Nachsicht.

Simonides verneigte sich zum Zeichen der Anerkennung.

»Esther, mein Kind, bring mir die Papiere,« sprach er, erleichtert aufatmend.

Sie ging zu einem der Felder in der getäfelten Wand, öffnete dasselbe, nahm eine Rolle Papyrusstreifen heraus und brachte sie ihm.

»Du hast ein gutes Wort gesprochen, Sohn Hurs,« begann Simonides, die Bogen ausrollend. »Laß uns gegenseitig verstehn. In Erwartung dieses Verlangens – welches ich übrigens selbst gestellt hätte, hättest du demselben aus dem Wege gehn wollen – habe ich hier einen Bericht zusammengestellt, der alles umfaßt, was zur gewünschten Verständigung notwendig ist. Es kommen hier, soviel ich sehe, zwei Punkte in Betracht: zunächst das Vermögen und dann unser Verhältnis zueinander. Der Bericht handelt ausführlich von beiden. Willst du ihn jetzt durchlesen?«

Ben Hur nahm die Papiere in die Hand, blickte aber auf Ilderim.

»Nein,« sagte Simonides, »der Scheik soll dich vom Lesen nicht abhalten. Die Verrechnung – denn eine solche wirst du im Bericht finden – ist derart, daß sie einen Zeugen erfordert. Am Schluß des Berichtes, wo sich die Zeugen zu unterfertigen pflegen, wirst du daher, wenn du so weit gelesen hast, den Namen »Ilderim, Scheik« gezeichnet finden. Er weiß alles. Er ist dein Freund. Alles, was er mir war, wird er auch dir sein.«

Simonides blickte, sich freundlich verbeugend, den Araber an, und dieser erwiderte ernst die Verbeugung und sprach: »Es ist, wie du sagst.«

Ben Hur entgegnete: »Ich habe bereits den hohen Wert seiner Freundschaft erfahren und muß mich noch derselben würdig zeigen.« Dann fuhr er fort: »Später, Simonides, will ich die Papiere sorgfältig lesen, für jetzt nimm sie zurück und teile mir, wenn es dich nicht zu sehr ermüdet, nur ihren Hauptinhalt mit.«

Simonides nahm die Rolle zurück.

»Hier, Esther, stelle dich neben mich und nimm die Bogen in die Hand, daß sie nicht in Unordnung geraten.«

Sie nahm ihren Platz neben seinem Stuhle ein und legte ihren rechten Arm leicht auf seine Schulter, so daß, wenn er sprach, es schien, die Rechnungslage gehe von beiden zugleich aus.

»Dies«, sprach Simonides, das erste Blatt herausnehmend, »enthält das Geld verzeichnet, das ich von deinem Vater hatte; es ist die Summe, die ich vor den Römern rettete. Anderes Eigentum konnte nicht gerettet werden, nur Geld, und auch dieses hätten die Räuber sich verschafft, hätte ihnen nicht unser jüdisches Wechselsystem im Wege gestanden. Die gerettete Summe, bestehend aus Geldern, die ich aus Rom, Alexandrien, Damaskus, Karthago und aus anderen Handelsplätzen einzog, betrug einhundertundzwanzig Talente in jüdischem Gelde.«

Er reichte den Bogen Esther und nahm den nächsten.

»Jene Summe – einhundertundzwanzig Talente – habe ich übernommen. Höre nun, worin mein Haben besteht. Ich gebrauche dieses Wort, wie du sehen wirst, vor allem in bezug auf den Gewinn, den ich aus jenem Gelde zog.«

Er las nun von verschiedenen Bogen die Totalsummen, die mit Weglassung der Bruchteile lauteten wie folgt:

An Schiffen 60 Talente
an Waren auf Lager 119 "
an Transitowaren 75 "
an Kamelen, Pferden usw. 20 "
an Warenniederlagen 10 "
an fälligen Rechnungen 54 "
an barem Geld und an Anweisungen 224 "

Summe: 553 Talente

Zu diesen fünfhundertunddreiundfünfzig gewonnenen Talenten rechne nun das ursprüngliche Kapital, das ich von deinem Vater hatte, und du hast sechshundertdreiundsiebzig Talente, und alles ist dein Eigentum, wodurch du, Sohn Hurs, der reichste Untertan auf Erden wirst.«

Er nahm die Bogen aus Esthers Hand, rollte sie, nachdem er einen beiseite gelegt hatte, zusammen und reichte sie Ben Hur hin. Der in seinem Wesen sich offenbarende Stolz hatte nichts Verletzendes, er mochte dem Bewußtsein treuer Pflichterfüllung entsprungen sein oder, ohne Rücksicht darauf, ausschließlich Ben Hur gelten.

»Und es gibt nichts,« setzte er hinzu, die Stimme, aber nicht die Augen senkend, »es gibt nunmehr nichts, was du nicht tun kannst.«

Alle Anwesenden waren sich der Wichtigkeit des Augenblickes bewußt. Simonides kreuzte abermals die Hände auf der Brust, Esther war in angstvoller Sorge, Ilderim aufgeregt. Der Charakter eines Mannes erprobt sich nie so gut wie in der Stunde überschwenglichen Glückes.

Ben Hur nahm die Rolle und erhob sich. Seine Bewegung niederkämpfend, sprach er dann mit weicher Stimme: »Alles dies ist mir ein Licht vom Himmel gesandt, um die Nacht zu verscheuchen, eine Nacht, so lang, daß ich fürchtete, sie würde niemals enden, und so dunkel, daß ich die Hoffnung aufgab, je wieder einen Lichtstrahl zu sehen. Meinen ersten Dank spreche ich dem Herrn aus, der mich nicht verlassen hat, und den zweiten dir, Simonides. Deine Treue macht die Grausamkeit anderer gut und ist mir wie eine Erlösung unserer menschlichen Natur. Soll ich mich in dieser für mich so erhebenden Stunde an Großmut übertreffen lassen? Sei jetzt mein Zeuge, Scheik Ilderim! Höre meine Worte, so wie ich sie sprechen werde, höre sie und bleibe ihrer eingedenk! Und du, Esther, guter Engel dieses guten Mannes, höre auch du!« Er streckte die Hand mit der Rolle gegen Simonides hin.

»Die in diesen Papieren verrechneten Dinge – alle: Schiffe, Häuser, Waren, Kamele, Pferde und Geld, das Kleinste wie das Größte – gebe ich dir zurück, Simonides, erkläre sie als dein Eigentum und bestätige dich und die Deinen für immer in ihrem Besitze.«

Esther lächelte durch ihre Tränen. Ilderim zuckte aufgeregt an feinem Bart, seine schwarzen Augen glänzten. Simonides allein bewahrte seine Ruhe.

»Ich bestätige dich und die Deinen für immer in ihrem Besitze,« fuhr Ben Hur, seine Gefühle nun besser beherrschend, fort, »mit einer einzigen Ausnahme und unter einer Bedingung.«

Atemlos warteten die Zuhörer auf feine Worte. »Die einhundertundzwanzig Talente, die meinem Vater gehörten, sollst du mir zurückerstatten.«

Ilderims Gesicht erhellte sich.

»Und du sollst mich im Suchen nach meiner Mutter und Schwester unterstützen, bereit, all das Deinige an ihre Entdeckung zu wenden, wie ich all das Meinige zu opfern bereit bin.«

Simonides war tief bewegt. Seine Hand ausstreckend, sagte er: »Ich sehe deinen hohen Sinn, Sohn Hurs, und danke dem Herrn, daß er dich so, wie du bist, zu mir geführt hat. Wenn ich deinem Vater während feines Lebens und nachher seinem Andenken treu gedient habe, so fürchte nicht, daß ich dir gegenüber meine Pflicht vernachlässigen werde, doch muß ich erklären, daß die Bedingung nicht gelten kann.«

Dann den zurückbehaltenen Bogen vorweisend, setzte er hinzu: »Du hast nicht den ganzen Bericht gehört. Nimm hier und lies – lies laut!«

Ben Hur nahm den Nachtragsbericht und las:

»Bericht über die Leibeigenen Hurs, erstattet von Simonides, Verwalter des Vermögens:

1. Amrah, Ägypterin, im Palaste zu Jerusalem, 2. Simonides, Verwalter, in Antiochien, 3. Esther, Simonides' Tochter.

So oft auch Ben Hur an Simonides gedacht hatte, es war ihm nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, daß nach dem Gesetze die Tochter dem Vater in der Leibeigenschaft folge. So oft er die liebliche Esther im Geiste geschaut hatte, war sie ihm stets als das Gegenbild der Ägypterin, als möglicher Gegenstand seiner Liebe erschienen. Er erschrak über diese so plötzliche Offenbarung und blickte Esther errötend an; und errötend senkte sie vor ihm die Augen. Dann sprach er, während der Papyrusbogen sich von selbst zusammenrollte:

»Ein Mann im Besitze von sechshundert Talenten ist in der Tat reich und kann tun, was ihm beliebt. Aber wertvoller als das Geld und unschätzbarer als das Vermögen ist der Geist, der den Reichtum gesammelt hat, und das Herz, das durch denselben, nachdem er gesammelt war, nicht verderbt werden konnte. Simonides, und du, schöne Esther, fürchtet euch nicht! Scheik Ilderim hier soll Zeuge sein, daß in demselben Augenblick, der euch als meine Leibeigenen offenbarte, ich euch frei erklärt habe; und was ich mündlich ausspreche, will ich schriftlich niederlegen. Ist das nicht genug? Kann ich mehr tun?«

»Sohn Hurs,« sagte Simonides, »wahrlich, du machst die Knechtschaft leicht. Aber du kannst uns nicht vor dem Gesetze freilassen. Ich bin dein Leibeigener auf Lebenszeit, denn ich folgte eines Tages deinem Vater zum Türpfosten und an meinem Ohr sind noch die Pfriemenzeichen zu sehen.«

»Mein Vater hätte das getan?«

»Richte ihn nicht,« rief Simonides schnell. »Er machte mich zu einem Diener jener Klasse, weil ich ihn darum bat. Ich habe den Schritt niemals bereut. Es war der Preis, den ich für Rahel, die Mutter meines Kindes hier, bezahlte; denn Rahel wollte nicht mein Weib werden, wenn ich nicht wurde, was sie war.«

»War sie eine Leibeigene auf Lebenszeit?«

»Ja.«

Ben Hur schritt im schmerzlichen Gefühl seines Unvermögens im Gemach auf und ab.

»Ich war schon vorher reich,« sagte er, plötzlich stehn bleibend.

»Ich war reich durch das Vermächtnis des edlen Arrius, nun kommt dazu dieses noch größere Vermögen und der Geist, der es zu erwerben verstand. Liegt in diesem allem nicht eine Absicht Gottes verborgen? Sei mein Ratgeber, Simonides! Hilf mir, das Rechte zu erkennen und zu tun. Hilf mir, meines Namens würdig zu sein, und was du vor dem Gesetze mir bist, das will ich dir in der Tat und in Wahrheit sein. Ich will dein Diener sein für immer.«

Simonides' Antlitz strahlte.

»Sohn meines verstorbenen Gebieters! Ich werde mehr tun, als dir helfen. Ich will dir mit der ganzen Kraft meines Geistes und Herzens dienen. Einen Leib habe ich nicht, er ging in deinem Dienste zugrunde. Aber mit Geist und Herz will ich dir dienen. Ich schwöre es dir bei dem Altare unseres Gottes und bei den Opfergaben auf dem Altare! Nur mache mich in gesetzlicher Form zu dem, als was ich mich bisher in der Tat betrachtet habe.«

»Nenne es,« drängte Ben Hur.

»Bin ich Verwalter, so wird die Sorge für das Vermögen mir obliegen.« »Betrachte dich von jetzt ab als Verwalter, oder willst du es schriftlich?«

»Dein Wort genügt vollständig. So war es bei deinem Vater und ich will nicht mehr vom Sohne. Und nun, wenn das Verständnis vollkommen ist –« Simonides hielt inne.

»Meinerseits ist es,« versicherte Ben Hur.

»Und du, Tochter Rahels, sprich!« sagte Simonides, ihren Arm von seiner Schulter nehmend.

So allein gelassen, stand Esther einen Augenblick verwirrt da. Ihr Gesicht wechselte rasch die Farbe. Dann trat sie auf Ben Hur zu und sprach mit einer ganz eigenen weiblichen Anmut: »Ich bin nicht besser als meine Mutter war, und da sie uns verlassen hat, bitte ich dich, mein Gebieter, laß mich für meinen Vater sorgen!«

Ben Hur ergriff ihre Hand und führte sie zum Lehnstuhl des Vaters zurück, indem er sprach: »Du bist ein gutes Kind. Es geschehe nach deinem Willen.«

Simonides legte wieder ihren Arm um seinen Hals und eine Zeitlang herrschte Stille im Gemache. Endlich blickte er auf.

»Esther,« sprach er ruhig, »die Nacht rückt eilend vor. Laß Erfrischungen bringen, damit wir nicht müde werden für das, was wir noch vor uns haben.«

Sie klingelte. Eine Dienerin brachte Brot und Wein und reichte davon herum.

»Die Verständigung, mein guter Gebieter,« fuhr Simonides fort, nachdem alle von dem Dargebotenen genommen hatten, »ist in meinen Augen noch nicht vollständig. Von nun an wird unser Leben zusammenfließen wie zwei Ströme, die ihre Wasser vereinigt haben. Ich glaube, ihr Lauf wird um so ruhiger sein, wenn alle Wolken vom Himmel über ihnen verschwunden sind. Nun aber muß ich von etwas anderem reden. Du hast Balthasar gesehen?«

»Ja, und er hat mir auch seine Geschichte erzählt.«

»Ein Wunder ist sie, ein wahres Wunder!« rief Simonides. »Als ich sie hörte, erschien sie mir wie eine Antwort Gottes auf viele Fragen. Arm wird der König sein, wenn er kommt, ohne Freunde, ohne Heere, ohne Städte und Burgen. Ein neues Königreich soll aufgerichtet, Rom gestürzt und vom Erdboden vertilgt werden. Sieh, mein Gebieter, du, strotzend von Kraft, du, gewandt in den Waffen, du, überhäuft mit Reichtum, sieh die Gelegenheit, die der Herr dir gesandt hat! Soll seine Absicht nicht die deine sein? Könnte ein Mensch zu herrlicherem Ruhm geboren sein?«

Simonides hatte seine ganze Kraft und Begeisterung in die Worte gelegt.

»Aber das Reich, das Reich!« antwortete Ben Hur eifrig. »Balthasar sagt, es werde ein Reich der Seelen sein.«

Der jüdische Nationalstolz war in Simonides stark ausgebildet, daher das etwas verächtliche Verziehen der Lippen, womit er seine Antwort begann:

»Balthasar war Zeuge merkwürdiger Dinge, Zeuge wahrer Wunder gewesen, mein Gebieter. Und wenn er davon redet, beuge ich mich in Glauben, denn dafür bürgen mir seine eigenen Augen und Öhren. Aber er ist ein Ägypter und weiß nichts von Gottes Bund mit Israel. Wir aber haben unsere Propheten. Bringe mir das heilige Buch, Esther.«

Ohne auf sie zu warten, fuhr er fort:

»Darf das Zeugnis eines ganzen Volkes verachtet werden, mein Gebieter? Du magst von Tyrus, der Seestadt im Norden, bis nach der Hauptstadt von Edom in der Wüste im Süden reisen, du wirst keinen Juden finden, der behaupten wird, das Reich, das der kommende König für uns, die Kinder des Bundes, aufrichten solle, werde ein anderes sein als eines von dieser Welt wie das unseres Vaters David. Nun, woher haben diese ihren Glauben, fragst du? Wir werden es sofort sehen.«

Esther kam mit einer Anzahl Rollen zurück, die sorgfältig in dunkelbraunes, mit altertümlichen goldenen Lettern umschriebenes Linnen gehüllt waren. »Halte sie, Tochter, und reiche sie mir, wie ich sie verlange,« sagte der Vater in dem zärtlichen Ton, den er immer im Gespräch mit ihr anschlug, und setzte seine Beweisführung fort: »Es würde zu weit führen, mein lieber Gebieter, viel zu weit, wollte ich dir die Namen der heiligen Männer wiederholen, die, nur etwas weniger begnadet wie die Propheten, diesen nach dem Ratschluß der göttlichen Vorsehung folgten – jener Seher und Prediger, die seit der Gefangenschaft geschrieben und gelehrt haben, jener Weisen, die ihr Licht von der Leuchte des letzten in der Prophetenreihe, Malachias, borgten und deren große Namen in den Lehrsälen zu nennen Hillel und Schammai niemals ermüdeten. Willst du sie über das Reich befragen? Sie alle sprechen von dem Herrscher, von dem König in Israel, der die übrigen Könige von ihren Thronen stürzt. Aber du glaubst doch an die eigentlichen Propheten – höre, was sie gesagt haben.«

Er nahm eine der Rollen, die Esther für ihn ausgebreitet hatte, und las: »›Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht; den Bewohnern der Landschaft des Todesschattens geht ein Licht auf... Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf dessen Schultern die Herrschaft ruht... Seine Herrschaft wird sich mehren, und des Friedens wird kein Ende sein. Auf dem Throne Davids und in seinem Reiche wird er sitzen, daß er es befestige und stütze durch Recht und Gerechtigkeit, von nun an bis in Ewigkeit.‹ – Glaubst du den Propheten, mein Gebieter? – Nun, Esther, das Wort des Herrn, das an Michäas erging!«

Sie reichte ihm die verlangte Rolle.

»›Aber du‹« begann er zu lesen, »›aber du, Bethlehem Ephrata, zwar klein unter den Tausenden Judas, aus dir wird hervorgehn der Herrscher in Israel.‹ – Das war eben jenes Kind, das Balthasar in der Höhle sah und anbetete. Glaubst du den Propheten, mein Gebieter? – Gib mir, Esther, die Worte Jeremias'!« Er nahm die Rolle und las, wie früher: »›Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, daß ich dem David einen gerechten Sprößling erwecke. Als ein König wird er herrschen, der weise ist und Recht und Gerechtigkeit übet auf Erden. In jenen Tagen wird Juda erlöst werden und Israel sicher wohnen.‹ Als ein König wird er herrschen, als ein König, mein Gebieter. Glaubst du den Propheten?«

»Es ist genug, ich glaube!« rief Ben Hur.

»Was nun?« fragte Simonides. »Wenn der König in Armut kommt, wird nicht mein Gebieter ihm mit seinem Überfluß zu Hilfe kommen?«

»Ihm zu Hilfe kommen? Mit dem letzten Schekel und bis zum letzten Atemzuge! Aber warum davon reden, daß er arm erscheinen werde?«

»Gib mir, Esther, das Wort des Herrn, wie es an Zacharias erging,« sagte Simonides.

Sie reichte ihm eine der Rollen.

»Höre, wie der König in Jerusalem einziehen wird.« Dann las er: »»Freue dich doch, du Tochter Zions! ... Siehe, dein König kommt zu dir, gerecht und als Heiland; er ist arm und reitet auf einer Eselin, auf dem jungen Füllen einer Eselin.««

Ben Hur blickte zur Seite.

»Was siehst du, mein Gebieter?«

»Rom!« antwortete er trübe – »Rom und seine Legionen. Ich habe unter ihnen im Lager gelebt. Ich kenne sie.«

»Oh!« sagte Simonides, »du wirst Legionen für den König zum Kampfe führen und unter Millionen wählen können.«

»Unter Millionen!« rief Ben Hur.

»Oh! mein Gebieter,« fuhr Simonides fort, »du weißt nicht, wie stark unser Israel ist. Du stellst es dir als einen sorgenvollen Greis vor, der an den Flüssen Babylons weint. Aber geh zum nächsten Osterfeste nach Jerusalem hinauf und stelle dich unter die Säulenhalle oder auf den Marktplatz und betrachte Israel, wie es ist. Die Verheißung des Herrn an unseren Vater Jakob, als er aus Haran auszog, war ein Gesetz, unter dem unser Volk niemals aufhörte, sich zu vermehren, selbst nicht in der Gefangenschaft; es wuchs unter dem Fußtritt der Ägypter; der Druck der Römer war ihm wie eine kräftigende Nahrung, und jetzt ist es in der Tat »ein Volk und eine Schar von Völkern«. Jerusalem selbst ist nur wie ein Stein im Tempel oder wie das Herz im Leibe. Wende deinen Blick von den Legionen, so stark sie auch sein mögen, hinweg und zähle die Menge der Gläubigen, die nur auf den alten Ruf warten: »Zu den Zelten, Israel!« Zähle die über alle Länder der Erde Zerstreuten, und wenn du mit der Zählung fertig bist, dann hast du, mein Gebieter, die Zahl der Schwertträger, die deiner warten. Sieh ein Reich, bereit für denjenigen, der »Recht und Gerechtigkeit üben wird auf der ganzen Erde« – in Rom nicht minder wie in Zion. Dann hast du die Antwort auf deine Frage, denn was Israel tun kann, das kann der König.«

Das Bild war in glühenden Farben entworfen worden. Auf Ilderim wirkte es wie ein Posaunenstoß. »O, daß ich meine Jugend zurück hätte!« rief er und sprang auf. Ben Hur saß schweigsam. Die Rede war, wie er merkte, eine Einladung, sein Leben und sein Vermögen dem geheimnisvollen Wesen zu weihen, das für Simonides augenscheinlich ebenso den Mittelpunkt einer großen Hoffnung bildete wie für den gottesfürchtigen Ägypter. Ben Hur hatte das Gefühl, als hätte sich eine bisher unsichtbare Tür aufgetan und eine Lichtflut über ihn ausgeströmt, als öffnete sie ihm den Weg zu einer Aufgabe, die schon sein einziger Traum gewesen war, einer Aufgabe, die sich weit in die Zukunft erstreckte und reichen Lohn treuer Pflichterfüllung und herrlichen Erfolg in Aussicht stellte, die Mühen seines Ehrgeizes zu versüßen und zu lindern. Nur einer Anregung bedurfte es noch. »Laß uns alles zugeben, was du sagst, Simonides,« sprach Ben Hur, »daß der König kommen und daß sein Reich ähnlich jenem Salomos sein werde. Angenommen auch, ich sei bereit, mich selbst und alles, was ich besitze, für ihn und seine Sache hinzugeben. Noch mehr, angenommen, ich wollte alles tun, was Gott mit der Leitung meiner Lebensschicksale und mit deiner raschen Anhäufung eines erstaunlichen Vermögens beabsichtigte – was dann? Sollen wir bauen wie Blinde? Sollen wir warten, bis der König kommt? Oder bis er nach mir sendet? Dir stehn Alter und Erfahrung zur Seite, antworte!«

Simonides antwortete sogleich.

»Wir haben keine Wahl, gar keine. Dieser Brief« – er zog dabei Messalas Schreiben hervor – »dieser Brief ist das Zeichen zum handeln. Wir sind nicht stark genug, der beabsichtigten Verbindung zwischen Messala und Gratus zu widerstehn. Wir haben dazu nicht den Einfluß in Rom und die nötige Macht hier. Sie werden dich töten, wenn wir warten. Willst du aber wissen, wie gnädig sie sind, so sieh mich an.«

Er schauderte bei der schrecklichen Erinnerung. »Es gibt ein Werk, ein Werk für den König,« fuhr Simonides fort, »das vor feiner Ankunft getan werden sollte. Wir dürfen nicht zweifeln, daß Israel feine erste Hand zu sein berufen ist; aber ach! sie ist eine Hand des Friedens und kennt die Künste des Krieges nicht. Unter den Millionen ist nicht eine geübte Kriegsschar, nicht ein Anführer. Aber die Zeit des Umschwunges ist gekommen, die Zeit, da der Hirt die Rüstung anzieht und zu Speer und Schwert greift und das Weiden der Herden mit dem Kampf gegen Löwen vertauscht wird. Irgend jemand, mein Sohn, muß den nächsten Platz zur Rechten des Königs einnehmen. Wer soll es sein, wenn nicht derjenige, der dieses Werk gut vollendet?«

Ben Hurs Wangen erglühten über dieser Aussicht, gleichwohl sprach er: »Ich verstehe; doch sprich deutlicher. Daß ein Werk getan werden soll, ist ein Ding, wie es tun, ein anderes.« Simonides nippte von dem Weine, den Esther ihm reichte, und antwortete:

»Der Scheik und du, mein Gebieter, ihr sollt die Hauptanführer sein, jeder mit einer besonderen Aufgabe. Ich will hier bleiben und mein Geschäft betreiben wie bisher, sorgsam darüber wachend, daß die Quelle nicht versiege. Du sollst dich nach Jerusalem und von da in die Wüste begeben und zuerst die waffenfähigen Männer Israels zählen, sie in Abteilungen von zehn und hundert reihen, Führer wählen und ausbilden und an geheimen Orten Waffen sammeln. Für die dazu nötigen Mittel werde ich sorgen. Drüben in Peräa beginnend, sollst du dann nach Galiläa gehn, von wo es nur ein Schritt bis nach Jerusalem ist. In Peräa wirft du die Wüste im Rücken haben und Ilderim in nächster Rahe. Er wird die Straßen besetzt halten, so daß nichts ohne dein Wissen sich ereignen kann. Er wird dich in mancher Hinsicht unterstützen. Bis die rechte Zeit gekommen ist, soll niemand erfahren, was wir hier verabredet haben.«

Ben Hur sah den Scheik an.

»Es ist, wie er sagt, Sohn Hurs,« antwortete der Araber. »Ich habe mein Wort gegeben und er ist zufrieden. Du aber sollst meinen Eid haben, der mich bindet, und die willigen Hände meines Stammes, und was immer ich habe, das dir nützen kann.«

Alle drei – Simonides, Ilderim und Esther – blickten gespannt auf Ben Hur.

»Jedermann«, antwortete er, anfangs traurig, »hat feinen Freudenbecher, der für ihn gefüllt ist, und früher oder später kommt er ihm in die Hände, und er kostet und trinkt – jedermann, nur nicht ich. Ich sehe, Simonides, und du, edler Scheik, ich sehe, wohin der Vorschlag zielt. Nehme ich ihn an und betrete ich die neue Laufbahn, dann lebe wohl, Friede und alle Hoffnungen, die ihn begleiten. Die Türen, durch die ich eingehn könnte, und die Pforten des ruhigen Lebens werden sich hinter mir schließen, um sich mir nie wieder zu öffnen, denn Rom bewacht sie alle. Roms Acht wird mir nachfolgen und seine Häscher werden mir an der Ferse sein.«

Ein Schluchzen unterbrach seine Worte. Alle wandten sich zu Esther, die ihr Gesicht an des Vaters Schulter barg. »Ich dachte nicht an dich, Esther,« sagte Simonides zärtlich, denn er war selbst tief bewegt.

»Es ist gut so, Simonides,« sprach Ben Hur. »Ein Mann trägt sein hartes Los leichter, wenn er weiß, daß er bemitleidet wird. Laßt mich weiter sprechen.«

Sie wandten ihre Aufmerksamkeit wieder ihm zu.

»Ich wollte sagen,« fuhr er fort, »daß ich keine andere Wahl habe, als mich der Aufgabe zu unterziehen, die ihr mir zuweist. Und da hierbleiben so viel heißt als einem unrühmlichen Tod entgegengehn, so will ich sogleich ans Werk gehn.«

»Es ist also abgemacht!« sagte Ilderim.

»Möge der Gott Abrahams uns beistehn!« rief Simonides aus.

»Ein Wort noch, meine Freunde!« sprach Ben Hur in freudigerem Tone. »Mit eurer Erlaubnis werde ich die Zeit bis nach den Spielen frei für mich verwenden. Es ist nicht wahrscheinlich, daß Messala etwas für mich Gefährliches unternehmen wird, ehe er dem Prokurator Zeit gelassen hat, ihm zu antworten. Und das kann nicht unter sieben Tagen von der Absendung seines Briefes an geschehen. Ihm im Zirkus zu begegnen, ist ein Vergnügen, das ich um jeden Preis mir erkaufen möchte.«

Ilderim gab, sehr befriedigt, gern feine Zustimmung, und Simonides, nur auf die geschäftliche Seite der Sache bedacht, setzte hinzu: »Es ist gut, denn siehst du, mein Gebieter, der Aufschub wird mir Zeit geben, dir einen guten Dienst zu erweisen. Ich hörte dich von einem Erbe sprechen, das dir Arrius hinterlassen hat. Besteht es in liegendem Gut?« »Eine Villa bei Misenum und Häuser in Rom.« »Ich möchte dir raten, das Eigentum zu verkaufen und den Erlös sicher anzulegen. Gib mir einen Bericht darüber und ich werde Vollmachten ausstellen und einen Vertreter zur Ordnung dieser Angelegenheit absenden. Wenigstens dieses eine Mal wollen wir den kaiserlichen Räubern zuvorkommen.«

»Du sollst den Ausweis bis morgen haben.«

»So wäre also, wenn sonst nichts mehr erübrigt, die Arbeit dieser Nacht getan,« sprach Simonides.

Ilderim strich selbstzufrieden seinen Bart, indem er hinzusetzte: »Und gut getan!«

»Nochmals Brot und Wein, Esther! Wir werden uns glücklich schätzen, wenn Scheik Ilderim bis morgen, oder so lange es ihm beliebt, unser Gast bleibt. Und du, mein Gebieter –«

»Laß die Pferde bringen,« sprach Ben Hur. »Ich will nach dem Hain zurück. Wenn ich jetzt gehe, wird mich mein Feind nicht entdecken und« – er wandte sich an Ilderim – »die vier Renner werden sich freuen, mich zu sehen.«

Als der Tag anbrach, stiegen er und Malluch vor dem Eingang des Zeltes ab.


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