Lewis Wallace
Ben Hur
Lewis Wallace

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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Wer heutzutage das Heilige Land bereist und die berühmte Stätte mit dem schönen Namen Königsgarten aufsuchen will, folgt dem Bette des Kidron oder der Biegung des Gihon- und Hinnomtales abwärts bis zum alten Brunnen En-Rogel, labt sich dort durch einen Trunk des süßen, lebendigen Wassers und hält inne, denn er hat das Ende der sehenswerten Punkte in jener Richtung erreicht. Von hier aus blickt er zur Rechten auf den Berg des Ärgernisses und zur Linken auf den des bösen Rats. An ihren Abhängen befanden sich unzählige Grabmäler und Grabhöhlen, die seit unvordenklicher Zeit den Aussätzigen, nicht einzelnen, sondern ganzen Gemeinschaften, als Wohnstätte dienten. Hier bildeten sie eine Art Gemeinwesen und setzten ihre Regierung ein, hier gründeten sie sich eine Stadt und wohnten zusammen, von allen gemieden als die vom Fluche Gottes Getroffenen.

Am zweiten Morgen nach den im vorhergehenden Kapitel erzählten Ereignissen näherte sich Amrah dem Brunnen En-Rogel und setzte sich auf einen Stein. Sie hatte einen Wasserkrug und einen Korb bei sich, der mit einem schneeweißen Tuche bedeckt war. Beides neben sich auf den Boden stellend, löste sie ihr Kopftuch, so daß es zurückfiel, faltete die Hände auf dem Schoß und blickte sinnend aufwärts nach der Richtung, wo der Berg sich steil gegen Hakeldama, das einstige Töpferfeld, senkte. Die Sonne stieg herauf, aber noch immer saß sie spähend und wartend da. Sie pflegte jeden Tag nach Eintritt der Dunkelheit auf den Markt zu gehn. Sich unbemerkt aus dem Hause schleichend, suchte sie die Läden im Tyropöon auf oder jene beim Fischtor, drüben im Osten, machte ihre Einkäufe an Fleisch und Gemüse, kehrte zurück und schloß sich wieder ein. Bei einer solchen Zurückkunft hatte sie zu ihrer großen Freude Ben Hur entdeckt. Über ihre Herrin oder Tirzah wußte sie ihm nichts mitzuteilen, gar nichts. Er bat sie, eine weniger einsame Wohnung aufzusuchen, sie lehnte es ab. Sie wünschte, daß er wieder in seinem eigenen Zimmer wohne, welches gerade so war, wie er es verlassen hatte, aber die Gefahr der Entdeckung war zu groß, und er wollte vor allem jedes Aufsehen vermeiden. Er versprach ihr, so oft als möglich sie zu besuchen. Bei Nacht wolle er kommen und bei Nacht wieder gehn. Sie mußte sich damit zufrieden geben, aber sie wollte ihm besondere Speisen bereiten und schlich sich am nächsten Abend früher als gewöhnlich hinaus, um Einkäufe zu machen. Hierbei traf sie zufällig einen der Fackelträger, die den Befehlshaber begleitet hatten, als Mutter und Tochter der Familie Hur unten in der Zelle entdeckt wurden. Der Mann erzählte alle Umstände der Auffindung und Amrah hörte sie, auch die Namen der Gefangenen und die Aussage der Witwe über sich selbst.

Wie im Traum machte sich Amrah auf den Heimweg. Welch eine freudige Nachricht hatte sie für ihren Judah! Sie hatte seine Mutter gefunden! Plötzlich aber erschrak sie. Wenn er erfuhr, daß seine Mutter und Tirzah Aussätzige waren, dann würde er sofort zu ihnen hineilen und sie suchen. Die Krankheit würde auch ihn ergreifen und ihr Los das seinige werden. Sie rang die Hände. Was sollte sie tun?

Schließlich kam ihr der Gedanke, selbst zum Brunnen En-Rogel zu gehen, wohin auch täglich die Aussätzigen mit ihren Krügen kamen und in der Ferne warteten, bis sie gefüllt waren. Sie wollte dann mit Ben Hurs Mutter reden. Darum schwieg sie auch Ben Hur gegenüber, der ihr mitteilte, daß Malluch am nächsten Tage käme, um mit ihm die Nachforschungen zu beginnen.

Amrah saß nun in der Morgenfrühe am Brunnen und wartete, bis die meisten sich ihren Wasservorrat geholt hatten. Dann kamen auch die Bewohner des Berges ans Tageslicht und sammelten sich vor ihren Höhlen. Aber vergebens suchte Amrah unter ihnen ihre Herrin. Endlich sah sie aus der elendesten Höhle, die mehr einem Lager für wilde Hunde glich, zwei Frauen herauskommen, die sich zaghaft dem Brunnen näherten. Sie sahen beide sehr alt aus, aber ein Gefühl sagte Amrah, es seien die Gesuchten, und sie ging ihnen ganz verwirrt entgegen. Etwa fünf bis sechs Schritte von der Stelle, wo jene warteten, blieb sie stehen.

Das sollte ihre geliebte Herrin sein, deren Hände sie so oft in Dankbarkeit geküßt, deren ehrwürdiges und liebliches Bild sie in ihrem Gedächtnisse so treu bewahrt hatte! Und das die lachende, süße, sangesfrohe Tirzah, das Licht des großen Hauses, der erhoffte Segen ihres Alters! Die gute Seele konnte ein Gefühl des Abscheues bei dem Anblick nicht überwinden.

Das sind alte Frauen, sprach sie bei sich selbst, – ich habe sie nie zuvor gesehen. Ich will zurückkehren. Sie wandte sich um. »Amrah!« rief eine der Aussätzigen.

Die Ägypterin stellte den Krug nieder und blickte sich zitternd um.

»Wer seid ihr?« fragte sie.

»Wir sind jene, die du suchst.«

Amrah fiel auf die Knie.

»O meine Herrin, meine Herrin! Da ich deinen Gott zu dem meinigen gemacht habe, so sei er gepriesen, daß er mich zu dir geführt hat!«

Und das arme Wesen begann, überwältigt von seinen Gefühlen, auf den Knien sich vorwärts zu bewegen.

»Halt, Amrah, komm nicht näher! Unrein, unrein!« Die Worte genügten, Amrah fiel auf ihr Gesicht und schluchzte so laut, daß die Leute am Brunnen sie hörten. Plötzlich richtete sie sich wieder zur knienden Stellung auf.

»O meine Herrin, wo ist Tirzah?«

»Hier bin ich, Amrah, hier! – Willst du mir nicht ein wenig Wasser bringen?«

Es erwachte in ihr wieder die Dienerin. Das wirre Haar, das ihr über das Gesicht herabgefallen war, zurückstreichend, erhob sich Amrah, ging zum Korbe und deckte ihn ab.

»Sieh,« sprach sie, »hier ist Brot und Fleisch!«

Sie wollte das Tuch auf dem Boden ausbreiten, aber die Herrin sprach: »Tu es nicht, Amrah! Die dort könnten dich steinigen und uns den Trunk verweigern. Laß den Korb hier, nimm den Krug und fülle ihn und bringe ihn her. Wir werden beides mit in die Grabhöhle nehmen. Für heute hast du uns dann alles getan, was das Gesetz gestattet. Beeile dich, Amrah!« Die Leute, unter deren Augen all das geschehen war, machten der Dienerin Platz und halfen ihr sogar den Krug füllen, so schmerzvoll und mitleiderregend war der Ausdruck ihres Gesichtes.

Den Krug auf die Schulter hebend, eilte sie zurück. In ihrer Vergessenheit hätte sie sich ihnen genaht, wenn nicht der Ruf: »Unrein, unrein! Nimm dich in acht!« sie angehalten hätte. Den Krug neben den Korb stellend, trat sie zurück und blieb in einiger Entfernung stehn.

»Ich danke dir, Amrah!« sprach die Herrin, die Gegenstände an sich nehmend. »Das ist sehr gütig von dir.«

»Kann ich sonst nichts für euch tun?« fragte Amrah.

Die Mutter hatte den Krug ergriffen, und sie verschmachtete fast vor Durst. Dennoch hielt sie inne und sprach fest, sich aufrichtend: »Ja, ich weiß, daß Judah heimgekehrt ist. Ich sah ihn die vorletzte Nacht vor dem Tore auf der Schwelle schlafen. Ich sah auch, wie du ihn wecktest.«

Amrah schlug die Hände zusammen. »O meine Herrin, du hast alles gesehen und bist nicht gekommen!«

»Das wäre sein Tod gewesen. Ich kann ihn nie mehr küssen. Aber nun beweise auch du, daß du ihn liebst. Höre, Amrah, du sollst uns täglich das Wenige bringen, dessen wir bedürfen, es wird nicht lange mehr – nicht lange dauern. Du sollst so jeden Morgen und Abend hierherkommen und – und« – ihre Stimme zitterte, ihre Willenskraft drohte zu erlahmen – »und du sollst uns von ihm erzählen, Amrah, aber ihm darfst du nichts von uns sagen. Hörst du?«

»Oh, es wird so schwer sein, von euch sprechen zu hören und zu sehen, wie er herumwandert und euch sucht – alle seine Liebe zu sehen, und ihm nicht so viel sagen zu dürfen, daß ihr lebt!« »Wieviel schwerer würde es sein, ihn so zu sehen, wie wir sind,« antwortete die Mutter und reichte den Korb Tirzah. »Komm heute abend,« wiederholte sie. Dann nahm sie den Krug, und beide machten sich auf den Weg nach der Grabhöhle. Amrah blieb auf den Knien liegen, bis sie verschwunden waren, dann trat sie sorgenschweren Herzens den Heimweg an.

Am Abend kehrte sie zurück, und von nun an kam sie regelmäßig jeden Morgen und Abend, um ihnen ihre Dienste zu leisten, so daß es ihnen an nichts Notwendigem mangelte. Die Grabhöhle war, wenn auch steinig und öde, doch weniger trostlos als die Kerkerzelle in der Burg. Das Tageslicht vergoldete den Eingang und sie lag in der schönen freien Natur. Zudem kann man unter freiem Himmel mit weit größerem Vertrauen dem Tod entgegensehen. –


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