Lewis Wallace
Ben Hur
Lewis Wallace

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Fünfzehntes Kapitel.

Die Festung auf dem Berge Sulpius lag im Mondschein da. Die meisten Einwohner Antiochiens weilten auf ihren Hausdächern und erfrischten sich im Nachtwind. Auch Simonides saß in seinem von ihm unzertrennlichen Lehnstuhle und blickte von der Terrasse über den Fluß und seine Schiffe hin, die, dort vor Anker liegend, sich schaukelten. Vor ihm stand Esther mit einer Platte, auf der sich sein einfaches Abendessen befand: einige Weizenkuchen, die leicht wie Waffeln waren, etwas Honig und eine Schale Milch, in die er von Zeit zu Zeit einen Kuchen tunkte, nachdem er ihn mit Honig bestrichen hatte.

»Malluch verspätet sich heute,« sagte er und verriet dadurch, wo seine Gedanken weilten.

»Glaubst du, daß er noch kommen wird?« fragte Esther.

»Wenn er sich nicht auf das Meer oder in die Wüste begeben hat, wird er kommen.«

»Auch ich wünsche, daß er komme,« sagte sie leise.

»Warum wünschest du das?« fragte er in demselben Tone.

»Weil ...« Sie zögerte. Dann begann sie wieder: »Weil der junge Mann –« Sie beendigte den Satz nicht.

»Unser Herr ist – ist das das Wort?«

»Ja!«

»Und du meinst noch immer, ich solle ihn nicht fortgehn lassen, ohne ihm zu sagen, er möge kommen, wenn es ihm gefalle, und uns und alles, was wir haben, nehmen – alles, Esther: die Waren, das Geld, die Schiffe, die Diener und den unbegrenzten Kredit, den der prächtigste der Engel des Menschen, der Erfolg, für mich wie einen Mantel aus Gold und feinstem Silber gewebt hat.«

Er zog sie an sich und küßte sie.

»Sprich nicht so,« bat sie, während seine Hände sich von ihrem Nacken lösten. »Denken wir besser von ihm; er weiß, was Sorge ist, und wird uns freilassen.«

»Du hast ein feines Gefühl, Esther, und ich richte mich nach demselben in zweifelhaften Fällen, wie du weißt, wenn es gilt, ein richtiges Urteil über den Charakter eines Menschen zu bilden, der vor dir steht, wie jener heute morgen. Aber, aber« – seine Stimme hob sich und klang hart – »diese Glieder, die meinen Körper nicht mehr tragen, dieser zur Unförmlichkeit gezerrte und zerschlagene Leib ist nicht alles, was ich ihm bringe. O nein, nein! Ich bringe ihm eine Seele, die über Folter und römische Bosheit, die noch schlimmer ist als jede Folter, gesiegt hat, ich bringe ihm einen Geist, der Augen hat, Gold auf eine weitere Entfernung zu sehen, als einst Salomos Schiffe segelten, und der die Macht hat, es herzuschaffen. Denn wisse, mein Kind, ich besitze die Fähigkeit, die Menschen meinen Zwecken dienstbar zu machen und zur treuen Förderung derselben zu zwingen. Dadurch vervielfältige ich mich selbst für meine Unternehmungen in die Hunderte und Tausende. So durchfahren die Kapitäne meiner Schiffe die Meere und bringen mir ehrlichen Gewinn. So folgt Malluch dem Jüngling, unserm Herrn, und wird« – in diesem Augenblicke hörte man auf der Terrasse Fußtritte – »ha, Esther, habe ich es nicht gesagt? Er ist hier – und wir werden Nachrichten erhalten. Um deinetwillen, süßes Kind, meine eben aufgeblühte Lilie, bitte ich Gott den Herrn, der die irrenden Schafe Israels nicht vergessen hat, daß sie gut und tröstlich seien.«

Malluch trat zu dem Lehnstuhle.

»Friede sei mit dir, guter Herr,« sagte er mit einer tiefen Verbeugung, »und mit dir, Esther, du edelste aller Töchter!« Er stand ehrerbietig vor ihnen. Haltung und Ansprache ließen sein Verhältnis zu ihnen schwer bestimmen, die eine war die eines Dieners, die andre offenbarte den Vertrauten und Freund. Anderseits ging Simonides nach Erwiderung des Grußes sofort auf die Sache über, wie er es in geschäftlichen Angelegenheiten zu tun pflegte.

»Was weißt du von dem jungen Manne, Malluch?«

Ruhig und mit einfachen Worten erzählte Malluch die Ereignisse des Tages, ohne unterbrochen zu werden; sein Zuhörer im Lehnstuhle bewegte während der Erzählung keine Hand. Hätten nicht seine weitgeöffneten, glänzenden Augen und ein gelegentliches tiefes Atemholen eines andern belehrt, so hätte man ihn für eine Bildsäule halten mögen.

»Dank, Dank, Malluch,« sprach er zum Schlusse der Erzählung in herzlichem Tone. »Du hast gut gehandelt; niemand hätte es besser machen können. Nun, was sagst du über die Nationalität des jungen Mannes?«

»Er ist ein Israelite, guter Herr, und zwar aus dem Stamme Juda.«

»Bist du dessen sicher?«

»Ganz sicher!«

»Er scheint dir nur wenig aus seinem Leben erzählt zu haben?«

»Er hat irgendwo gelernt, vorsichtig zu sein. Ich möchte ihn mißtrauisch nennen. Alle meine Versuche, sein Vertrauen zu gewinnen, blieben eitel, bis wir von der Quelle Kastalia aufbrachen, um nach dem Dorfe Daphne zu gehn.«

»Konntest du aus dem, was er sprach und tat, in irgendeiner Weise den Grundgedanken seines Handelns entdecken? Du weißt, man kann diesen im Umgang mit den Menschen nicht selten wie durch einen engen Spalt durchschimmern sehen.«

»Darüber kann ich dir, guter Simonides, eine bestimmte Antwort geben. Seine Hauptsorge ist, seine Mutter und Schwester zu finden. Zudem trägt er einen tiefen Groll gegen Rom im Herzen, und da Messala, von dem ich dir erzählte, an dem ihm zugefügten Unrecht in irgendeiner Weise beteiligt ist, so ist sein erstes großes Ziel, diesen zu demütigen. Das Zusammentreffen an der Quelle bot ihm dazu eine günstige Gelegenheit, er ließ sie jedoch vorübergehn, weil sie ihm nicht öffentlich genug war.«

»Gut; aber, Malluch, sein Rachegedanke – wie weit geht er? Beschränkt er sich auf die wenigen, die ihm das Unrecht zugefügt haben, oder dehnt er ihn auf die Gesamtheit aus? Du weißt, Malluch, der Rachegedanke, der bloß im Gefühl seine Wurzeln hat, gleicht nur einem flüchtigen Traume, den das Tageslicht verscheucht, während die Rache, zur Leidenschaft geworden, eine Krankheit des Herzens ist, die nach oben steigt, zum Gehirn, und sich an beiden zugleich nährt.«

Hier verriet Simonides zum ersten Male, daß er auch Gefühle habe; er sprach rasch, mit geballten Händen und mit dem Eifer eines Mannes, der die Krankheit, die er beschreibt, zugleich veranschaulicht.

»Mein guter Gebieter,« erwiderte Malluch, »einer der Gründe, die mich in dem jungen Manne einen Juden erkennen lassen, ist eben die Stärke seines Hasses. Es war mir klar, daß er sich Selbstbeherrschung auferlegte, wie es natürlich ist, da er so lange in der Umgebung mißtrauischer Römer lebte; dennoch sah ich seinen Haß auflodern: einmal, da er sich über Ilderims Gesinnung gegen Rom erkundigte, und abermals, als ich ihm die Geschichte des Scheiks und jene des Weisen erzählte und von der Frage sprach: »Wo ist der neugeborene König der Juden?««

Simonides blickte eine Weile auf die Schiffe, die sich mit ihren Schatten langsam auf dem Flusse schaukelten. Als er wieder aufsah, brach er die Unterredung ab. »Gut, Malluch!« sagte er. »Nimm einen Imbiß und mache dich bereit, nach dem Palmenhain zurückzukehren. Du mußt dem jungen Manne in seinem Unternehmen beistehn. Morgen früh melde dich noch bei mir, ich will dir ein Schreiben an Ilderim mitgeben.« Dann fügte er halblaut, wie mit sich selbst sprechend, hinzu: »Ich könnte selbst den Zirkus besuchen.«

Als sich Malluch entfernt hatte, nahm Simonides einen kräftigen Schluck Milch und schien erfrischt und zufriedenen Gemütes. »Komm hierher!« sagte er in innigem Tone zu Esther. »Ich bin alt, teures Kind, und muß bald von der Erde scheiden. Aber jetzt, in dieser elften Stunde, da meine Hoffnung zu ersterben begann, sendet er mir einen verheißungsvollen Lichtstrahl, und ich bin wieder aufgerichtet. Ich sehe meinen Weg zu einem großen Teile in einem Umstande, der an sich selbst so groß ist, daß er wie eine Wiedergeburt der ganzen Welt erscheint. Und ich sehe den Grund, warum mir dieser Reichtum zuteil wurde, und den Zweck, für den er bestimmt ist. Wahrlich, mein Kind, das Leben gewinnt aufs neue Wert für mich.«

Esther schmiegte sich enger an ihn, wie um seine abschweifenden Gedanken auf die Gegenwart zu lenken.

»Der König ist geboren«, fuhr er unbeirrt fort, »und muß nahe in der Mitte des gewöhnlichen Lebens stehen. Balthasar sagt, er sei ein Kind auf dem Mutterschoß gewesen, als er ihn sah, ihm Geschenke brachte und ihn anbetete. Und Ilderim hält dafür, es seien im vergangenen Dezember siebenundzwanzig Jahre gewesen, daß Balthasar und seine Gefährten zu seinem Zelte kamen, um vor Herodes Schutz zu suchen. Daher kann das Erscheinen des Königs nicht mehr lange auf sich warten lassen. Heute nacht, morgen kann er kommen. Heilige Väter Israels, welch eine Glückseligkeit liegt in diesem Gedanken! In meinen Gedanken, die sich nur um trockene Zahlen und Geschäfte drehen sollten, klingt es wirr von tönenden Zymbeln, rauschenden Harfen und jubelnden Stimmen einer einen neuerrichteten Thron umdrängenden Menge. Ich will meinen Gedanken nicht länger freien Lauf lassen, doch, teures Kind, wenn der König kommt, wird er Geld und Männer benötigen. Denn da er als Kind von einer menschlichen Mutter geboren wurde, wird er auch als Mensch erscheinen und menschlicher Mittel bedürfen wie du und ich. Das Geld muß ihm jemand beschaffen und verwahren, die Männer bedürfen eines Führers. Siehst du da nicht einen breiten Weg für uns beide, den Jüngling, unsern Gebieter, und mich, den wir zu gehn haben? Er führt uns beide zu Ruhm und Rache, und – und –« er merkte das Selbstsüchtige des Planes, der ihr keinen Anteil und keine freudigen Aussichten gewährte, und hielt betroffen inne, dann fügte er, sie küssend, hinzu: »und das Kind deiner Mutter zum Glück.«

Sie schwieg noch immer. Da erinnerte er sich der Verschiedenheit der menschlichen Naturen und des Gesetzes, demzufolge nicht alle Menschen an denselben Dingen Freude und vor demselben Gegenstande Furcht empfinden. Er erinnerte sich, daß seine Tochter nur Mädchen war.

»Woran denkst du, Esther?« fragte er in seiner gewöhnlichen freundlichen Weise. »Haben deine Gedanken die Form eines Wunsches, so sprich ihn aus, meine Kleine, solange mir noch die Macht bleibt, ihn zu erfüllen.«

Sie antwortete mit fast kindlicher Unbefangenheit: »Sende nach ihm, Vater! Sende noch heute nach ihm und laß ihn nicht in den Zirkus!«

»Ah!« rief er gedehnt, und plötzlich überkam ihn ein Gefühl wie von Eifersucht. Ob sie etwa den jungen Herrn liebte? Nein, es konnte nicht sein, sie war zu jung! Allein der Gedanke kam wieder und ließ sich nicht mehr abwehren. Sie war sechzehn Jahre alt, und mit tiefem Schmerz dachte er jetzt an die Möglichkeit, daß sie diesem jungen Herrn ihre Gefühle weihen könnte, deren Wahrheit, Tiefe und Zärtlichkeit er, der Vater, so wohl kannte, da sie bisher ihm allein ungeteilt zugewendet wurden. Er zwang sich indes zur Selbstbeherrschung und fragte ruhig:

»Ihn nicht in den Zirkus lassen? Warum, mein Kind?«

»Der Zirkus ist kein Ort für einen Sohn Israels, Vater!«

»Rabbinerlehre, Esther, Rabbinerlehre! Ist das alles?« Der Ton der Frage war forschend und ging ihr ins Herz, das laut zu hämmern begann – so laut, daß sie nicht antworten konnte. Eine ihr ganz neue, sonderbar beseligende Verwirrung kam über sie.

»Der junge Mann soll das Vermögen erhalten,« sagte, noch zärtlicher im Tone, ihr Vater, ihre Hand ergreifend; »die Schiffe und das Geld, alles soll er erhalten, Esther, alles. Trotzdem fühlte ich mich nicht arm, denn du bliebest mir und deine Liebe, die der Liebe meiner verstorbenen Rahel so ähnlich ist. Sag' mir, soll er auch diese erhalten?«

Sie beugte sich über ihn und lehnte ihre Wange an sein Haupt. »Sprich, Esther! Ich werde stark sein, wenn ich die Wahrheit weiß. In der Erkenntnis liegt Kraft!«

Sie richtete sich auf und sprach im Tone innerster Wahrheit: »Tröste dich, Vater, ich werde dich nie verlassen; mag er auch meine Liebe erhalten, ich werde stets, wie bisher, deine Dienerin bleiben.«

Sie beugte sich herab und küßte ihn.

»Und ferner,« fuhr sie fort, »sein Äußeres ist einnehmend, und der Klang seiner Stimme zog mich zu ihm hin. Ich schaudere bei dem Gedanken, daß er in Gefahr ist. Ja, Vater, es würde mir mehr als Freude bereiten, ihn wiederzusehen. Indes kann eine unerwiderte Liebe niemals vollkommene Liebe sein, ich will also eine Zeitlang zuwarten, dessen eingedenk, daß ich deine und meiner Mutter Tochter bin.«

»Ein wahrer Himmelssegen bist du, Esther, ein Segen, der mich reich macht, sollte ich auch alles andere verlieren! Und bei Gottes heiligem Namen und beim ewigen Leben schwöre ich es, es soll dir nie ein Leid widerfahren!«

Auf seinen Befehl kam etwas später der Diener und rollte den Stuhl in das Zimmer zurück. Dort saß er noch einige Zeit und gedachte des kommenden Königs, während Esther, die sich bald zurückgezogen hatte, bereits den Schlaf der Unschuld schlief.


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