Lewis Wallace
Ben Hur
Lewis Wallace

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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Um die Stunde, da der Schließer Gesius in der Burg Antonia sich zum Tribun begab, stieg ein Fußgänger den östlichen Abhang des Ölberges hinan. Der Weg war rauh und staubig und der Pflanzenwuchs auf jener Seite des Hügels ganz verbrannt, denn es war in Judäa die trockene Jahreszeit. Es kam dem Wanderer zustatten, daß er jung und stark war, nicht zu sprechen vom kühlen, losen Gewande, das er trug. Er ging langsam, öfters nach rechts und links blickend wie jemand, der nach langer Abwesenheit sich einem alten Bekannten nähert.

Der Wanderer war Ben Hur, zu seinen Füßen breitete sich Jerusalem. Ben Hur ließ sich auf einen nahen Stein nieder und nahm das weiße Tuch, das seinen Kopf dicht verhüllte, herab, um sich mit Muße der Betrachtung hinzugeben. Erinnerungen an seine Landsleute, ihre Triumphe und wechselnden Schicksale, ihre Geschichte, zugleich die Geschichte Gottes, wurden in ihm wach. Die Stadt war das Werk ihrer Hände, ein bleibendes Denkmal ebenso ihrer Fehler wie ihrer Frömmigkeit, ihrer Schwäche wie ihres hohen Geistes, ihrer Gottesfurcht wie ihrer Gottlosigkeit. Obschon er Rom gesehen und bis in die letzten Winkel kannte, erfüllte ihn doch der Anblick Jerusalems mit Stolz. Aber die Römer waren ja jetzt Herren der heiligen Stadt, und Ben Hur dachte mit pochendem Herzen an den Tag, da der neue König kommen werde, um sein Eigentum zu fordern und in Besitz zu nehmen.

Die Sonne neigte sich zum Untergang. Eine Zeitlang schien der Flammenball sich auf den fernen Gipfel des Gebirges im Westen niederzulassen, den Himmel über der Stadt mit feuriger Glut übergießend und die Mauern und Türme goldig berändernd. Dann tauchte sie auf einmal unter und verschwand.

Die tiefe Stille lenkte Ben Hurs Gedanken heimwärts. Sein Auge suchte einen Punkt in der Luft etwas nördlich von der unvergleichlichen Vorderseite des Tempels und blieb auf demselben haften: senkrecht unter ihm lag sein Vaterhaus, wenn es noch bestand.

Der lindernde Einfluß der Abendruhe beruhigte auch seine Gefühle, und seiner ehrgeizigen Pläne vergessend, gedachte er der Pflicht, die ihn nach Jerusalem geführt hatte.

Während er mit Ilderim draußen in der Wüste weilte, um nach festen Plätzen zu suchen und sich mit der Gegend vertraut zu machen, wie ein Feldherr das Land kennen lernt, in dem er Krieg zu führen beabsichtigt, kam eines Abends ein Bote mit der Nachricht, daß Gratus abberufen und Pontius Pilatus an seine Stelle gesetzt worden sei.

Messala war für ihn unschädlich und glaubte ihn tot, Gratus hatte keine Macht mehr und war abgesetzt. Weshalb sollte Ben Hur noch länger zögern, nach Mutter und Schwester zu forschen? Jetzt hatte er nichts mehr zu fürchten. Konnte er die Gefängnisse Judäas auch selbst nicht durchsuchen, so konnte er es doch durch andere. Wurden die Verlorenen gefunden, so konnte es für Pilatus keinen Grund geben, sie im Gefängnisse zurückzuhalten, – keinen wenigstens, der sich nicht durch Geld überwinden ließ. Fand er sie, so würde er sie an einen sicheren Ort bringen und dann, wenn sein Geist wieder ruhig, sein Gewissen beschwichtigt und diese erste Pflicht getan war, konnte er sich um so vollständiger dem König weihen, der da kommen sollte. Sein Entschluß war rasch gefaßt. In derselben Nacht noch beriet er sich mit Ilderim und erlangte seine Zustimmung. Drei Araber begleiteten ihn bis Jericho, wo er diese und die Pferde zurückließ, um allein und zu Fuß weiter zu wandern. Malluch sollte in Jerusalem mit ihm zusammentreffen.

Von Simonides hatte er erfahren, daß Amrah, die ägyptische Dienerin, noch lebe. Sie hatte sich ja an jenem Morgen, als das Unglück über die Familie Hur hereinbrach, von den Soldaten losgerissen und war in den Palast zurückgerannt, wo sie samt allem unbeweglichen Gut eingeschlossen wurde. Während der folgenden Jahre ließ Simonides sie mit Lebensmitteln versehen, und so befand sie sich noch jetzt dort als die einzige Bewohnerin des großen Hauses, das Gratus trotz aller Bemühungen nicht hatte verkaufen können. Die Geschichte der rechtmäßigen Eigentümer genügte, jeden Fremden abzuhalten, das Haus zu kaufen oder auch nur zu mieten. Die Leute auf der Straße gingen nur leise flüsternd dort vorüber. Das Haus stand im Rufe, daß es darin spuke. Wahrscheinlich war das Gerücht durch die gute alte Amrah entstanden, die man einigemal, bisweilen auf dem Dache, bisweilen hinter einem vergitterten Fenster, flüchtig gesehen hatte. Durch sie hoffte Ben Hur Nachrichten zu erhalten, die, wenn auch noch so geringfügig, ihm doch von Nutzen sein konnten. Auf alle Fälle würde schon die Freude, sie an jener durch Erinnerungen ihm so teuren Stätte zu sehen, so groß sein, daß ihm nur die Entdeckung seiner Lieben, um die sich alle seine Sorge drehte, eine größere bereiten konnte. Er würde also vor allen Dingen das Vaterhaus aufsuchen müssen, um Amrah zu finden.

Mit diesem Entschluß erhob er sich kurz nach Sonnenuntergang und stieg auf dem Wege, der sich vom Gipfel aus gegen Osten oder vielmehr Nordosten wendet, den Berg hinab.

Es war schon dunkel, als Ben Hur die Stadt erreichte und durch eine enge Gasse an der Burg vorbei in das Innere strebte. Er hatte nur einen Gedanken, er wollte sein Vaterhaus wiedersehen.

Endlich erreichte er das alte Gebäude und blieb an der Nordseite stehen. An den Ecken konnte man noch das zum Versiegeln verwendete Wachs deutlich sehen, und quer über den Torflügeln befand sich noch das Brett mit der Inschrift: »Dies ist Eigentum des Kaisers.« Seit dem schrecklichen Tage der Trennung war durch das Tor niemand ein- oder ausgegangen. Sollte er wie ehedem klopfen? Es war zwecklos, das wußte er, dennoch konnte er der Versuchung nicht wiederstehn. Vielleicht hörte ihn Amrah und blickte aus einem der Fenster auf dieser Seite heraus. Er hob einen Stein auf, stieg die breiten steinernen Stufen hinan und pochte dreimal. Ein dumpfes Echo war die Antwort. Er versuchte es abermals, lauter als zuvor, und ein drittes Mal, inzwischen immer innehaltend, um zu horchen. Die tiefe Stille schien ihn zu verhöhnen. Auf die Straße zurücktretend, beobachtete er die Fenster, auch sie zeigten kein Leben. Die Brustwehr auf dem Dache hob sich scharf gegen den hellen Himmel ab, nichts hätte sich oben bewegen können, ohne daß er es bemerkt hätte, und es regte sich in der Tat nichts.

Von der Nordseite begab er sich nach der westlichen, wo vier Fenster waren, auch diese beobachtete er lang und aufmerksam, aber mit demselben Erfolg. Amrah gab kein Zeichen. Still schlich er sich dann herum bis zur Südseite. Auch dort war das Tor versiegelt und mit der Inschrift versehen. Außerstande, etwas anderes zu tun, riß er das Brett herab und warf es in den Straßengraben. Dann ließ er sich auf die Schwelle nieder und flehte, der neue König möge kommen und seine Ankunft sich beschleunigen. Als seine Erregung nachgelassen hatte, kam infolge der langen Wanderung in der Sommerhitze die Ermüdung über ihn, sein Haupt sank immer tiefer herab und endlich schlief er ein.

Um diese Zeit kamen zwei Frauen aus der Richtung von der Burg die Straße herab und näherten sich dem Palaste der Familie Hur. Wie verstohlen und zaghaft schritten sie dahin, öfters stehn bleibend, um zu horchen. An der Ecke des düsteren Gebäudes sagte die eine mit leiser Stimme zur anderen:

»Das ist es, Tirzah!«

Und Tirzah ergriff nach einem raschen Blick auf das Haus die Hand ihrer Mutter und lehnte sich schwer an letztere, leise schluchzend.

»Laß uns weiter gehn, mein Kind, denn« – die Mutter hielt inne und zitterte; sich zur Ruhe zwingend, fuhr sie dann fort – »denn sobald der Morgen anbricht, werden sie uns zum Stadttor hinaustreiben, und dann gibt es keine Rückkehr mehr.«

Tirzah sank beinahe auf die Steine nieder.

»Ach ja!« sagte sie schluchzend; »ich vergaß es. Ich hatte das Gefühl, daß wir heimgingen. Aber wir sind Aussätzige und haben kein Heim; wir gehören zu den Toten!«

Die Mutter beugte sich zu ihr nieder und hob sie sanft empor, indem sie sprach: »Morgen, mein Kind, morgen müssen wir uns einen Platz am Wege suchen, wo wir sitzen und um Almosen bitten können, wie es die Aussätzigen tun. Betteln oder –«

Tirzah lehnte sich wieder an sie und flüsterte: »Laß uns – laß uns sterben!«

»Nein!« sagte die Mutter fest. »Der Herr hat unsere Zeit festgesetzt und wir glauben an den Herrn. Wir wollen selbst hierin seine Zeit abwarten. Komm, gehn wir!«

Mit diesen Worten nahm sie Tirzah bei der Hand und eilte nach der westlichen Ecke des Hauses, sich nahe an die Mauer haltend. Da dort niemand zu sehen war, gingen sie zur nächsten Ecke und schraken vor dem Mondlicht zurück, das die ganze Südseite des Hauses und eine Strecke der Straße hell beleuchtete. Der Wille der Mutter war stark. Einen Blick nach rückwärts und zu den Fenstern der Westseite hinauf werfend, trat sie in das Licht hinaus, Tirzah an der Hand führend. Welche Verheerungen die furchtbare Krankheit angerichtet hatte, konnte man jetzt deutlich sehen – an ihren Lippen und Wangen, an ihren trübe blickenden Augen und aufgesprungenen Händen, besonders an den langen, schlangenähnlichen Haarsträhnen, die wie die Augenbrauen geisterhaft weiß waren. Es wäre unmöglich gewesen, zu unterscheiden, welche die Mutter und welche die Tochter war, beide erschienen gleich abschreckend alt. »Still!« sagte die Mutter. »Dort liegt jemand auf der Schwelle, – ein Mann. Machen wir einen Umweg.«

Sie traten schnell auf die andere Seite der Straße und gingen dort im Schatten weiter bis zum Tore, vor dem sie stehn blieben.

»Er schläft, Tirzah!«

Der Mann lag ganz still.

»Bleib hier, ich will das Tor probieren.« So sprechend, schlich die Mutter geräuschlos hinüber und drückte beherzt an den Türflügel. In diesem Augenblick seufzte der Mann und drehte sich unruhig, wodurch das seinen Kopf bedeckende Tuch sich so verschob, daß sein nach oben gewandtes Gesicht voll vom Mond beschienen wurde. Sie blickte darauf hin und fuhr zusammen. Sich etwas vorbeugend, sah sie nochmals hin, dann richtete sie sich auf, rang die Hände und erhob die Augen in stummem Flehen zum Himmel. Einen Augenblick blieb sie in dieser Stellung, dann eilte sie zu Tirzah zurück.

»So wahr der Herr lebt, der Mann ist mein Sohn – dein Bruder!« sprach sie in furchterweckendem Flüstertone.

»Mein Bruder? – Judah?«

Die Mutter ergriff rasch ihre Hand.

»Komm!« sagte sie in demselben gezwungenen Flüsterton, »laß uns zusammen ihn ansehen – einmal noch – nur einmal, – dann steh du deinen Dienerinnen bei, o Herr!«

Hand in Hand schritten sie über die Straße, geisterhaft schnell, geisterhaft leise. Als ihr Schatten auf ihn fiel, blieben sie stehn. Eine seiner Hände lag, die innere Fläche nach oben, auf der Schwelle. Tirzah fiel auf die Knie und würde sie geküßt haben, aber die Mutter hielt sie zurück.

»Auf keinen Fall, nicht um dein Leben! Unrein, unrein!« flüsterte sie.

Tirzah bebte vor ihm zurück, als sei er der Aussätzige.

Ein Bild männlicher Schönheit, lag Ben Hur da. Wangen und Stirn waren tiefbraun, eine Wirkung der Wüstensonne und Wüstenluft, aber unter dem leichten Schnurrbart zeigten sich rote Lippen und glänzend weiße Zähne. Der weiche Bart bedeckte nur teilweise das wohlgerundete Kinn und den schöngeformten Hals. Wie schön erschien er dem Mutterauge! Wie mächtig drängte es sie, ihren Arm um ihn zu schlingen, sein Haupt auf ihren Schoß zu nehmen und ihn zu küssen, wie sie es während seiner glücklichen Kindheit zu tun gewohnt war. Was gab ihr die Kraft, diesem Drange zu widerstehn? Ihre Liebe, ihre Mutterliebe, und nicht um die Wiedererlangung von Gesundheit und Vermögen, nicht um irgendein Gut der Welt, nicht um das Leben selbst würde sie ihre aussatzbehafteten Lippen auf seine Wange gedrückt haben! Aber berühren mußte sie ihn. In dem Augenblick, da sie ihn wiederfand, mußte sie auf immer von ihm Abschied nehmen! Sie kniete nieder, kroch zu seinen Füßen hin und berührte mit ihren Lippen die Sohle einer seiner Sandalen, ungeachtet des schmutziggelben Straßenstaubes, der daran haftete – und berührte sie wieder und wieder. Und ihre ganze Seele lag in den Küssen. Er wurde unruhig und bewegte seine Hand hin und her. Sie zogen sich zurück, hörten ihn aber noch im Traume murmeln: »Mutter! Amrah! Wo ist–«

Er fiel wieder in tiefen Schlaf. Die Mutter barg ihr Gesicht im Staube und kämpfte ein Schluchzen nieder, so tief und stark, als müsse ihr Herz davon zerspringen. Er hatte nach ihr gefragt; sie waren nicht vergessen; im Schlafe selbst dachte er an sie. War das nicht genug?

Dann winkte die Mutter Tirzah, sie erhoben sich und noch einen Blick auf ihn werfend, als wollten sie sich sein Bild unauslöschlich einprägen, gingen sie Hand in Hand auf die andere Seite der Straße. Dort zogen sie sich in den Schatten der Mauer zurück, knieten nieder, blickten nach ihm und warteten auf sein Erwachen – warteten auf irgendeine Offenbarung, sie wußten selbst nicht auf was. Niemand hat je die Geduld einer Liebe gleich der ihrigen gemessen.

Nach einiger Zeit – er schlief noch immer – erschien eine andere Frauengestalt an der Ecke des Palastes. Die drüben im Schatten Wartenden sahen sie deutlich im Mondlicht: eine kleine, tiefgebeugte Person von dunkler Gesichtsfarbe und mit grauen Haaren. Sie war reinlich nach Art einer Dienerin gekleidet und trug einen Korb mit Gemüse.

Als die Neuangekommene den Mann auf der Schwelle erblickte, blieb sie stehn. Dann, wie zu einem Entschlusse gekommen, 259 schritt sie weiter, – um so leiser, je näher sie dem Schläfer kam. Um ihn herumgehend, trat sie an das Tor, schob mit Leichtigkeit einen Riegel zur Seite und langte mit der Hand in die entstandene Öffnung. Eines der breiten Bretter im linken Flügel ging geräuschlos auf. Sie schob ihren Korb hinein und wollte eben selbst folgen, als sie, der Neugierde nachgebend, einen Blick auf den Fremden unter ihr warf, dessen Gesicht offen dalag.

Die Zuschauerinnen auf der anderen Seite der Straße hörten einen leisen Ausruf und sahen, wie das Weib sich die Augen rieb, wie um ihre Sehkraft zu stärken, sich tief hinabbeugte, die Hände rang, heftig erregt um sich blickte, den Schläfer ansah, sich bückte, die ausgestreckte Hand aufhob und sie zärtlich küßte. Durch die Berührung aufgeweckt, zog Ben Hur unwillkürlich die Hand zurück; dabei begegneten seine Augen denen des Weibes.

»Amrah! O Amrah, bist du es?« sprach er.

Das gute Wesen antwortete nicht mit Worten, sondern fiel ihm um den Hals und weinte vor Freude.

Sanft schob er ihre Arme zurück, und ihr tränenfeuchtes braunes Gesicht zu sich emporziehend, küßte er es mit einer Freude, die nur wenig geringer war als die ihrige. Dann hörten die Frauen jenseits der Straße ihn sagen:

»Mutter – Tirzah – O Amrah, erzähle mir von ihnen! Sprich, sprich, ich bitte dich!«

Amrah weinte aufs neue.

»Wolltest du hineingehen?« fragte er jetzt, das offenstehende Brett bemerkend. »So komm, ich gehe mit dir.« Damit erhob er sich. »Die Römer lügen. Das Haus ist mein. Steh auf, Amrah, und gehn wir hinein!«

Im nächsten Augenblick waren sie verschwunden. Die dort im Schatten Stehenden blieben zurück und blickten nach dem Tore, das bleich und traurig sie anstarrte, – nach dem Tore, durch das sie nie mehr eintreten sollten. Sie ließen sich, eng aneinandergeschmiegt, im Staube nieder. Sie hatten ihre Pflicht getan, ihre Liebe hatte die Probe bestanden.

Am andern Morgen wurden sie gefunden und mit Steinwürfen zur Stadt hinausgetrieben. »Fort von hier! Ihr gehört zu den Toten, geht zu den Toten!« Gejagt von dem lang in ihren Ohren nachtönenden Urteilsspruch, eilten sie hinaus.


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