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Sechzehntes Kapitel

Die französische Gerechtigkeit, nachdem sie den Gesetzen Genüge getan, lieferte Gregor Cantopulos aus, um sich durch Angehörige fremder Staaten nicht weitere Kosten zu bereiten. Sie war der Überzeugung, daß nach allem, was sie über die russische Gerichtspflege gehört haben wollte, die Untersuchungshaft in Rußland reichlich das von ihr verhängte Strafmaß aufwiegen werde.

Von der russischen Distriktsstadt ward das über die Aussage der sterbenden Iwanowna niedergeschriebene Protokoll des Isprawnik als Fundament der Anklage nach Moskau gesandt. Das Pariser Gericht hatte aber auch von den Bekenntnissen einer anderen Sterbenden Abschrift genommen, von dem Brief der Gräfin Sostaniew an Anatole Montague, und dieses Schriftstück kam dem ersteren in der Anklage zu Hilfe.

Beide aber schienen dennoch gefärbt von persönlichen Interessen, und das letztere Dokument, Helenens Aussage, warf auf das erstere, auf Iwanownas Geständnisse, nicht das Licht besonderer Glaubwürdigkeit, es hätte denn angenommen werden müssen, daß auch die Gräfin Sostaniew in ihrer Sterbestunde zu ihrer eigenen Rechtfertigung ihre Kammerfrau zu verdächtigen gesucht.

Der Angeklagte, der hartnäckig seine Tat ableugnete, erklärte, daß Iwanowna ihn stets gehaßt und bei dem Grafen und der Gräfin Sostaniew anzuschwärzen bemüht gewesen sei. Sie habe ihn immer zu überwachen und zu bespionieren gesucht, während er der Überzeugung sei, daß sie ihre Herrschaft bestohlen und betrogen.

Hierfür gab es allerdings zwei Beweise: die Charakteristik, welche die Gräfin selbst von ihrer Dienerin geliefert, und der noch weit mehr gewinnende Umstand, daß man in dem Nachlaß der Iwanowna eine überraschend große Summe an sorgfältig verborgenem Gelde und mehr oder minder wertvollen Schmuckgegenständen gefunden, die ihrer Herrin gehört hatten und nach Aussage der übrigen Dienerschaft zum Teil von dieser vermißt worden.

Iwanowna hatte unbestreitbar den Schein der Gehässigkeit; sie selbst war strafbar dafür, daß, wenn sie wirklich heimliche Zeugin jenes Verbrechens gewesen, sie dies nicht früher den Gerichten angezeigt. Daß sie dies aus Liebe zu ihrer Herrin unterlassen, wenn sie an die Mitschuld derselben geglaubt, war nicht anzunehmen; sie konnte vielmehr nur geschwiegen haben, um in ihrer vorgeblichen Mitwissenschaft für ihren Eigennutz ein Mittel zur Ausbeutung ihrer Herrin zu haben. Denkbar war es auch, daß sie aus Rache für ihre Entlassung ihre Herrin beschuldigte, daß sie absichtlich, ohne eigene Überzeugung, das frühere Verhältnis ihrer Herrin zu Gregor Cantopulos kennend, bei ihren Lebzeiten diese durch Verdacht einschüchtern und in ihren Händen behalten wollte.

Wie gern man bereit war, dem Angeklagten alles zuzutrauen, da er sich durch seine in Griechenland und Ägypten verübten Gewalttaten zu allem fähig gezeigt und man im südlichen Rußland besser von dem vollständig organisierten Treiben des griechischen Banditentums unterrichtet war – es trat doch kein lebender Zeuge gegen Cantopulos auf, vielmehr hatte Dimitri, der freilich stets betrunkene Pferdeknecht, nachdem man ihn mehrere Tage hindurch nüchtern gehalten, ausgesagt, daß er um die Stunde des Verbrechens den Grafen mit einem ihm unbekannten Herrn, einen Kasten unter dem Arm, gegen den Wald hinaus habe schreiten sehen.

Alles, was Gregor Cantopulos eingestand, beschränkte sich auf folgendes: ja, er habe sich in egoistischer Absicht von dem Grafen Sostaniew, auf Grund einflußreicher Empfehlungen, als Sekretär engagieren lassen, er habe der Gattin desselben nachgestellt und sie wirklich einmal abends in ihren Zimmern zu ebener Erde überfallen; sie aber sei zum Fenster hinausgesprungen, und vergeblich habe er sie in der Nacht gesucht. Er habe auch Geld von ihr empfangen unter der Bedingung, daß er das Gut verlasse, da er ihr stets gedroht, er werde dem Grafen seine früheren Beziehungen zu seiner Gattin verraten, und es wäre sicher auch dazu gekommen, wenn jenes schöne Mädchen nicht eingewilligt hätte, mit ihm davonzugehen.

Auch die Popin wurde verhört, eine ganz liebenswerte Frau, eine Deutsch-Russin, die von der jungen Gräfin sehr bevorzugt worden und auf dem von weiten Steppen umgebenen Gute, dessen nächste Nachbarschaft mehr als zehn Werft entlegen, der einzige Umgang der Gräfin gewesen. Sie sagte aus, Helene Sostaniew habe ihr stets ein warmes, vielleicht innerlich zu warmes Herz gezeigt. Sie sei von der Gräfin mit Vertrauen beehrt worden; dieselbe habe in melancholischen Stunden, die sie oft gehabt, ihr wohl zuweilen angedeutet, daß sie sich nicht ganz glücklich, aber auch nicht unglücklich fühle und ihrem Gatten die höchste Achtung entgegentrage. Daß der schönen jungen Frau etwas fehle, habe sie stets gewußt, denn dieselbe sei von leidenschaftlichem Herzen gewesen, aber sie habe sich musterhaft zu beherrschen verstanden. Daß die Gräfin den jungen Cantopulos fürchtete, sogar einen Abscheu vor ihm hegte, habe diese ihr nie verheimlicht; an jenem Schreckenstage aber, an welchem sie mit ihr in der Distriktsstadt gewesen, habe sie an der Gräfin nur dann erst Unruhe bemerkt, als der Wagen Schaden erlitt und sie um ihres Gatten willen, der ihr Ausbleiben mißbilligen werde, sich besorgt zeigte. Eher, schloß sie ihre Aussage, habe sie an des Himmels Einsturz geglaubt, als an die Möglichkeit, daß die junge Gräfin ihrem Gatten übel gewollt, und wenn boshafte Zungen gegen sie einmal den Verdacht ausgesprochen, daß sie Cantopulos begünstige, habe sie dies stets mit Verachtung zurückgewiesen.

Schließlich wurde das ganze Dorf verhört. Aber es war damals der letzte Tag der Ernte gewesen; diese war am Nachmittag schon beendet worden; man hatte den Leuten Branntwein geschenkt, und dieselben hatten um jene Stunde schon ihre Tänze und Gesänge begonnen. Alle wußten nur, daß sie Cantopulos auf dem Erntefeld gesehen, und ihre Angabe der Stunde, um welche er auf demselben erschienen, lautete zwar widersprechend, aber in der Mehrzahl günstig.

Gregor Cantopulos wurde wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Die ägyptische Behörde zeigte keine Lust, ihn wegen auf ihrem Boden verübten Mordes anzuklagen; sie hatte denselben als etwas nichts Ungewöhnliches bereits vergessen und war froh, einen der griechischen Banditen, die ihr schon lange über den Kopf gewachsen, auf bequeme Weise los geworden zu sein. Nach gewohnter Weise hatte sie nicht einmal den guten Willen gezeigt, die russischen Gerichte in ihrem Verfahren gegen den Angeklagten zu unterstützen.

Also blieb nichts übrig, als Gregor Cantopulos in Freiheit zu setzen und ihn der Aufmerksamkeit der Polizei zu empfehlen.

Triumphierend zeigte sich Gregor Cantopulos in den Straßen von Moskau. Er fand alte Freunde, die sich bemühten, ihn als Märtyrer zu verherrlichen. Man brachte Geld für ihn auf, und Gregor Cantopulos trieb sich, seinen alten Ausschweifungen nachgehend, in den Wirtshäusern umher.

In einer schönen mondhellen Mitternacht schlenderte er durch die stillen Straßen seiner Wohnung zu, die er bei einem alten Bekannten gefunden. Sein Gehirn war umnebelt von Wein, die kühnen Pläne, die er für die Zukunft entworfen, gingen ihm kaleidoskopartig im Kopf herum. Die Hände in den Taschen, bog er um eine jener stumpfen Ecken byzantinischer Straßenwindungen. Tiefer Schatten nahm ihn zwischen den fensterlosen, hohen Lehmwänden auf. Vor sich hinstarrend, summte er eine russische Melodie. Alles, was hinter ihm lag, war vergessen; seiner jugendlichen Tatkraft und dem ihm angeborenen Drange zu schaden, bot die Zukunft ein reiches Feld.

Plötzlich sah er einen anderen Schatten vor sich auftauchen, der sich ihm in massiven Umrissen in den Weg stellte.

Furchtlos schaute er auf. Ein Riese stand vor ihm in ärmlichem, halbzerrissenem, dunklem Bauernhemd. Sein über die Stirn hängendes Haar war kurz über den listig funkelnden Augen horizontal geschnitten, zwischen den Lippen des breiten Mundes fletschten zwei Reihen weißer Zähne hervor. Beide Hände auf den das Hemd über der Hüfte haltenden Strick stemmend, grinste das häßliche Gesicht den Griechen an.

»Was willst du? ... Geh mir aus dem Wege!« rief Gregor Cantopulos, zu der riesigen Gestalt aufschauend und den Arm ausstreckend, um sich Raum zu machen.

»Du kennst mich nicht?«

Der Koloß hob sich in seinen weiten, schmutzigen Stiefeln und kreuzte die Arme auf der Brust.

»Du sollst mir aus dem Wege gehen!«

Gregor Cantopulos legte die Hand auf das an der Brust versteckte Messer.

»Ich bin ja Dimitri! Hast du ein so kurzes Gedächtnis, Gregor Cantopulos? Und du verlangtest doch von deinen Freunden ein viel besseres!«

»Laß mich in Ruhe und geh auch du deines Weges!«

»Ich habe aber auf dich hier gewartet, Gregor Cantopulos! Warum bist du so grob? Sonst warst du viel freundlicher gegen mich! ... Weißt du noch, wie du mir Wein zu trinken und mir Geld gabst, damit ich vor dem Ataman und dem Isprawnik aussagen sollte, es sei ein ganz anderer Herr als du gewesen, mit dem ich den Barin gegen den Wald hinausgehen sah, als alles draußen bei der Ernte war?«

»Dummes Zeug! Ich sage dir ...«

Das verschmitzte Gesicht des Kleinrussen färbte sich. Er trat näher an Gregor heran, der vor ihm zurückwich.

»Du versprachst mir goldene Berge, Gregor Cantopulos, wenn du die schöne Witwe des Barin heiraten werdest, die, wie das ganze Dorf wisse, in dich verliebt sei. Du aber gingst mit der schwarzäugigen Dirne durch und ließest mich im Stich!«

»Dummkopf, wie kannst du glauben, ich hätte so etwas zu dir gesagt! Ich gab dir nur Geld, damit du einmal nüchtern bleiben und die Wahrheit sagen solltest!«

Gregor deckte sich den Rücken an der Mauer, die Hand vorsichtig am Messergriff.

Der Riese schien das nicht zu achten.

»Ehe man mich hierher nach Moskau schickte, nahm mich der Pope ins Gebet«, fuhr seine heisere Stimme fort. »Er hielt mir vor, meine Seele werde in ewiger Verdammnis schmachten, wenn ich nicht vor Gericht jetzt die Wahrheit gestehe. Ich sagte aber dasselbe aus und jetzt wage ich nicht, ins Dorf zu dem Popen zurückzukehren. Ich treibe mich umher und leide Hunger und Durst, denn wenn ich jetzt noch wieder ins Dorf komme, schließen sie mich und schlagen sie mich! Ich wartete auf dich hier, bis du wieder frei sein werdest! Gib mir also nur hundert Rubel, damit habe ich genug, um fortzugehen, denn sie werden mich suchen! Gib mir Geld, Gregor Cantopulos, damit ich trinken kann, denn mir ist, als brenne meine Seele schon im Fegfeuer!«

Der Riese streckte seine dunkle, schwielige Hand aus.

»Gib Geld! Ich muß diese Nacht noch trinken!« flehte er zudringlich.

Verächtlich stieß Gregor die gewaltige Hand des Kleinrussen zurück.

»Nicht eine Kopeke!« rief er höhnisch, das Gesicht abwendend.

»Du willst nicht, Gregor Cantopulos? Du läßt mich noch einmal im Stich?«

»Geh zu deinem Popen und laß dich von ihm aus deinem Fegfeuer erlösen!«

»Sie werden uns beide in die Bergwerke schicken!«

Dimitri senkte mutlos, verzweifelt die Arme; er ließ den Kopf sinken wie einer, der, um seine letzte Hoffnung betrogen, zusammenknickt.

Lachend maß Gregor Cantopulos die baumlange Jammergestalt. Er sah nicht, wie es in den Muskeln des häßlichen Gesichts, in den Armen und Fäusten des Riesen arbeitete, und wandte ihm den Rücken, um furchtlos die enge und stille Straße hinabzuschlendern. Seine Hand war sorglos vom Messergriff herabgeglitten. Die Begegnung hatte seine Gemütsruhe so wenig gestört, daß er eben die Melodie fortsummen wollte, in welcher er unterbrochen worden, als zwei gewaltige Hände sich hinterrücks so heftig um seinen Hals klammerten, daß seinem Munde ein Röcheln entfuhr. Vergeblich grub er die Nägel seiner Finger in diesen Schraubstock – noch ein Druck, das Bewußtsein schwand ihm. seine Glieder brachen unter ihm zusammen.

Dimitri hielt grinsend seine Beute in beiden Armen; er hob sie einige Fuß hoch vom Boden und schleuderte den Leblosen in den Staub der Straße, der wie eine Wolke über ihm zusammenschlug ...

Wenige Monate später befand sich Dimitri mit einem Transport von Schicksalsgefährten auf dem Wege in die Bergwerke.

* * *


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