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Vierzehntes Kapitel

Es war ein massenhafter Andrang zum Zuhörerraum an dem Tage, an welchem Gregor Cantopulos, des Mordes auf ägyptischem Boden nur verdächtig, des Diebstahls auf französischem Boden aber angeklagt, vor den Geschworenen erschien.

Man wußte, daß Helene Sostaniew vor ihrem Transport nach Rußland als Zeugin vorgeführt werde. Die Neugier trieb also die Blüte der Pariser Gesellschaft herbei, mit Ausnahme derjenigen, die eben, um sie nicht zu sehen, aufs Land und in die Bäder gegangen waren.

Unter den Zuhörern fehlte auch Rostoff nicht, der seine Überzeugung bestätigt gesehen, daß Gregor Cantopulos vollenden werde, was seine Rachsucht diesem übrig gelassen. Mit hämischer Ruhe folgte er der ganzen Verhandlung.

Als der Schwurgerichtssaal dem Publikum geöffnet und die Vorbereitungen geschehen waren, sah man Gregor Cantopulos ernst, bleich, aber sicher in seiner Haltung, hereintreten; man wollte eine gewisse Frechheit in dem Blick erkennen, mit welchem er die Geschworenen und die Zuschauer maß, eine Stirn, die sich selbst durch die schadenfrohen Blicke derjenigen nicht einschüchtern ließ, die sich wirklich durch sein vornehmes Auftreten hatten düpieren lassen.

Mehr Interesse als seine Person erregte die der Gräfin Helene Sostaniew, die als Zeugin hereingeführt ward. Ein leises »Ah!« ertönte aus dem Zuschauerraum; man erschrak beim Erkennen der Zeugin. Das war die als Schönheit gefeierte junge Witwe! Ein bis zur Unkenntlichkeit abgemagertes, todbleiches Antlitz, dessen entsetzende Blässe noch leichenhafter gemacht wurde durch das einfache schwarze Gewand, in das sie gekleidet war. Wie vergänglich ist die Schönheit, wenn das Glück ihr nicht zur Folie dient!

Nicht weit von ihr, aber unbewacht, saß am Zeugenplatz ein junges Mädchen, von dem man weniger Notiz nahm, mit rotblondem Haar und sommersprossigem Gesicht, das fast unverwandt und mit tiefstem Gefühlsausdruck zu jener gerichtet war. Es war Zoe, die dann und wann mit dem Taschentuch über ihre Augen fuhr, um die Tränen zu trocknen, welche dies Wiedersehen ihr verursachte. Und immer wieder schaute sie nach der Unglücklichen hinüber, als suche sie deren Aufmerksamkeit, als bemühe sie sich, ihr einen verstohlenen Wink geben oder einen Gruß senden zu können.

Helene Sostaniew sah sie nicht. Ihr Blick war zu Boden gesenkt; sie wagte nicht, ihn zu jenen Neugierigen zu erheben; sie betrachtete sich scheinbar wie eine moralisch Tote, die freiwillig nichts mehr mit der Welt zu tun haben mochte und selbst das Mitleid nicht verlangte, das ihr einige Frauen sehr demonstrativ kundzugeben suchten. Das war nämlich die Concierge mit ihren Gevatterinnen, die es sich nicht hatte nehmen lassen, mit diesen dem Schwurgericht beizuwohnen.

Der Präsident befahl alsbald nach den üblichen Vorbereitungen die Verlesung der Anklage. Der Generalanwalt begann ein Lebensbild aufzurollen, das an Abenteuerlichkeit und Verworfenheit seinesgleichen suchte. An Ort und Stelle hatte er hierzu die notwendigen Daten gesammelt.

»Der Angeklagte,« so lautete sein Vortrag, »war in Odessa von armen griechischen Eltern geboren. Mit fünfzehn Jahren ward er durch Protektion eines hohen russischen Beamten nach Petersburg in ein Staatsinstitut gesandt, um dort unentgeltlich erzogen zu werden. Er zeichnete sich in demselben durch Fassungsgabe, aber auch durch Bosheit, Unbändigkeit und Selbstüberhebung aus, ward aus dem Institut entfernt und ernährte sich als Schreiber bei einem höheren Beamten.

Als solcher lernte er die Komtesse Skawa, ein junges Mädchen von galizischen Eltern, das bei seiner Tante in Petersburg lebte, kennen, und man behauptet einstimmig, daß diese sich, wahrscheinlich geblendet durch die äußeren Vorzüge des jungen Mannes, in gedankenloser, ich will nicht sagen: leichtsinniger Weise ihm hingegeben.«

Helene beugte ihr bleiches Haupt tiefer hinab. Sie fühlte, daß aller Augen auf sie gerichtet waren.

Der Staatsanwalt fuhr fort: »Ein Jahr hatte dieses Verhältnis gewährt, in welchem das Mädchen wahrscheinlich den boshaft heftigen Charakter des jungen Mannes kennen zu lernen Muße hatte, als die Komtesse Skawa einem enorm reichen Grundbesitzer aus dem südlichen Rußland, dem Grafen Sostaniew, sich verlobte, nachdem sie jede Gemeinschaft mit Cantopulos aufgehoben. Dieser zog sich zurück. Der Graf Sostaniew reiste mit seiner jungen Gattin auf seine Güter, nachdem er dieser nur flüchtig mitgeteilt, daß er in Petersburg einen ihm sehr empfohlenen Sekretär engagiert. In diesem Sekretär fand die junge Gräfin keinen anderen als Cantopulos.

Es ist nun Sache der russischen Gerichte, zu untersuchen, ob, wie die Zeugin mit hohen Schwüren bestreitet, das Verhältnis zwischen den beiden sich wieder angeknüpft, denn der Graf Sostaniew war ein bejahrter Mann, und man nimmt an, die Ehe sei, wenn auch wohl keine glückliche, doch eine äußerlich ruhige, zufriedene gewesen. Da ward eines Abends Graf Sostaniew erschossen auf dem Felde gefunden. Cantopulos beruft sich auf die Aussage eines Stallknechts des Grafen, die dahin ging, der letztere sei, als alles bei der Ernte, allein im Schloß gewesen und seine Gattin in die benachbarte Stadt gefahren, mit einem unerwartet im Schlosse angelangten Verwandten, der seinen Wagen an einem Vorwerk zurückgelassen, in Zank geraten und hinausgegangen, um diesen mit der Waffe in der Hand zu schlichten. Man fand allerdings zwei Pistolen; ein Zweikampf ward als wahrscheinlich angenommen, doch ist nie eine Spur von einem solchen Verwandten gefunden worden. Dagegen gestand die frühere Kammerfrau der Gräfin Sostaniew, die sie auch später auf Reisen begleitete, nach mehreren Jahren auf ihrem Sterbebett, sie habe aus einem Versteck mit angesehen, wie Cantopulos selbst es gewesen, der mit dem Grafen aufs Feld gegangen, um nach dem Ziel zu schießen, und kurz vor dem Waldessaum dem Grafen eine Kugel in die Brust gejagt. Sie sagte auch auf die Sakramente aus, daß, als Cantopulos bald darauf das Gut verlassen, wahrscheinlich weil er sich nicht sicher fühlte, die Witwe des Ermordeten ihm eine große Summe gegeben, woraus ein Einvernehmen der beiden hinsichtlich dieses Mordes zu schließen ist.«

Helene barg ihr Antlitz im Taschentuch, während sich auf der Galerie ein Gemurmel des Abscheus erhob.

»Gregor Cantopulos,« fuhr der Ankläger fort, »tauchte nach seinem Verschwinden aus Rußland unter dem Namen Demeter Rhodios auf, wahrscheinlich um allen Nachforschungen seine Spur zu verwischen. Er lebte auf sehr großem Fuß in Athen, hielt sich Maitressen und gab seinen Freunden große Festlichkeiten, natürlich mit dem Gelde, das er von seiner Mitschuldigen erhalten.

Als diese Summe verpraßt war, trat er in Konstantinopel auf. Er ward Spießgeselle einer Gesellschaft falscher Spieler, die in Galata und Pera in düsteren Locanden ihre Opfer plünderte. Man will ihn sogar unter den Banditen gesehen haben, die in dem berüchtigten Maltesergäßchen der Vorstadt Galata ihren Schlupfwinkel haben. Erwiesen ist, daß er wegen verschiedener gegen Fremde verübten nächtlichen Straßenüberfälle aus Konstantinopel fliehen mußte.

Nach einer längeren Pause, über die keine Aufklärung zu finden, debütierte der Angeklagte wieder unter dem Namen Rhodios in Kairo. Dort gehörte er zu der berüchtigten Bande des Griechen Politi, die so mächtig war, daß selbst die ägyptische Polizei sich vor diesem Banditen fürchtete. Zur Illustration dieser Umgebung sei hier erwähnt, daß trotz aller Verbrechen, welche Politi und seine Konsorten auf offener Straße, bei hellem Tage verübten, niemand ihn anzufassen wagte, bis er endlich von einem seiner eigenen Leute im Kaffeehause überfallen und niedergeschossen wurde.

Seine Spießgesellen behaupten nun, es sei dies Rhodios gewesen. Sie behaupten ferner, Rhodios habe zu der ersten Gattin Politis in strafbarem Verhältnis gestanden; derselbe habe deshalb dieses Weib zu Tode gemißhandelt und am Tage darauf eine andere genommen.

Doch auch dies sei nur erwähnt, um den Herren Geschworenen ein Bild zu entwerfen, wie ein von der Natur mit vortrefflichen Anlagen ausgestatteter, vom Staat und von Gönnern mit Wohltaten begnadeter Mensch zum falschen Spieler, zum Räuber, zum Mörder hinabsinken konnte. Alle diese Phasen hat der Angeklagte durchlaufen, bis ihn seine Vermessenheit zu einer Tat trieb, die seiner fluchwürdigen Karriere ein Ziel setzt.

Sir Henri Gough, ein reicher Engländer, reiste, nur von einem seiner Diener begleitet, mit zwei prachtvollen Pferden und seiner Equipage von Singapore über Suez und Frankreich nach London. In Kairo engagierte er einen zweiten des Landes kundigen Diener, der sich ihm präsentierte, um mit diesem Ausflüge in die Wüste zu machen, beschloß aber, vorher seine Equipage selbst nach dem Hafen von Alexandrien zu bringen und dann ins Innere zurückzukehren.

Dieser landeskundige Diener war kein anderer als der Angeklagte. Er ward mit dem anderen Diener Sir Goughs sehr bald intim, und dieser gestand ihm, wie er nichts sehnlicher wünsche, als nach Singapore zu seiner Geliebten, einer Malaiin, zurückzukehren. Die Sehnsucht ziehe ihn so stark dahin, daß er augenblicklich seinen Herrn verlassen würde, um das nächste Schiff in Suez zu nehmen, wenn er das Geld besäße.

Hierauf baute der Angeklagte seinen verbrecherischen Plan. Er besaß die jenem nötige Summe, ein Beweis, daß er nicht aus Not sich als Diener verdungen hatte, vielmehr mit einem Anschlag gegen den Engländer umging. Der Diener war in Alexandrien plötzlich am Tage vor Abgang des ostindischen Dampfers verschwunden. Daß der Angeklagte ihm in einem Wirtshause von Alexandrien Geld gezeigt und gegeben, ist durch den Sais eines reichen Alexandriners und einen Schiffer, die es mit angesehen, bezeugt worden.

Der Engländer, dessen Vertrauen sich der Angeklagte gewonnen zu haben scheint, änderte seinen Plan und beschloß, diesen mit seiner Equipage und seinem Gepäck nach Frankreich vorauszusenden. Er präsentierte ihn bei der Dampfschiffsagentur als seinen Bevollmächtigten, zahlte die Überfahrt und begab sich am Nachmittag unter Führung des Angeklagten nach dem benachbarten Ramleh.

Spät abends kehrte der Angeklagte allein ins Hotel zurück mit der Aussage, Sir Gough habe draußen in Ramleh, der Villeggiatur reicher Alexandriner, einen intimen Freund und Landsmann gefunden, bei dem er übernachten werde, um sich mit ihm am anderen Morgen weiter nach Kairo zu begeben; er, der Angeklagte, habe Order, ihm das kleine Gepäck nachzusenden und am nächsten Abend mit dem übrigen sich nach Marseille einzuschiffen, wohin Sir Gough folgen werde.

Man ist in Alexandrien in den Hotels nicht gewohnt, das Tun und Lassen der Gäste zu beobachten; niemand kümmerte sich deshalb darum, als der Angeklagte die halbe Nacht verwandte, um mit den ihm angeblich von seinem Herrn anvertrauten Schlüsseln alle Koffer zu öffnen und sauber wieder zu verschließen. Am anderen Nachmittag bezahlte er die Hotelrechnung seines Herrn, der ihn reichlich mit Geld versehen haben sollte, und schiffte sich nach Marseille ein.

Acht Tage darauf fand man in dem tiefen Flugsande, der Ramleh umgibt und nach dem es den Namen führt, die Leiche eines Fremden. Der Chamsin hatte die Nacht stark gewütet, den Sand zu ganzen Wolken aufgewühlt und Berge zusammengetragen, wo sonst Ebene war. Die Leiche lag in einer getrockneten Blutlache in der Sonne. Der Unbekannte war hinterrücks mit einem langen Messer durchbohrt; der Tod mußte augenblicklich eingetreten sein. Seinem ganzen Äußeren nach hielt man ihn für einen Engländer. Man sandte zum Konsulat und von diesem wurde die Leiche als die des Sir Henry Gough erkannt, der dem Konsulat sein Hotel bekanntgegeben hatte.

Der Verdacht fiel sofort auf den griechischen Diener Demeter Rhodios, den er in Kairo engagiert. Die Spur desselben mußte leicht zu finden sein, und diese führte in das Grand Hôtel von Paris, aber auf die Fersen eines vornehmen, jungen Griechen, namens Gregor Cantopulos, der mit Equipage und Dienerschaft dort abgestiegen.

Man begnügte sich vorläufig, ihn insgeheim zu beobachten, doch der Telegraph spielte zwischen Paris, Marseille, Alexandrien und Kairo. Durch einen früheren Spießgesellen des Angeklagten, der jetzt als Spion der ägyptischen Polizei dient, erfuhr man, daß der wahre Name des Angeklagten Gregor Cantopulos sei. Zudem meldete die Polizei von Marseille, daß derselbe erst dort einen Menschen sehr reich und auffallend als Albaneser kostümiert habe, den man als gefährlichen Strolch schon heimlich beobachtet; es sei zu vermuten, daß derselbe ein Freund dieses angeblich vornehmen griechischen Reisenden, den dieser aus Furcht vor Verrat oder sonst zu bedenklichen Zwecken an seine Person geheftet.

»Es wurde danach sofort zur Verhaftung des Angeklagten Befehl gegeben. Ihn heimlich beobachtend, hatte man ihn in das Haus treten sehen, das die Gräfin Sostaniew bewohnte. Als die Beamten diese Wohnung betraten, sahen sie im Korridor ein vor Angst bebendes und sprachloses junges Mädchen; sie vernahmen gleichzeitig den Hilferuf einer weiblichen Stimme. Man legte Hand an den Angeklagten, als er eben der Gräfin Sostaniew vor ihren Augen einen kostbaren Brillantschmuck geraubt.

»Wir stehen jetzt, meine Herren Geschworenen,« fuhr der Staatsprokurator fort, während der Angeklagte mit derselben verächtlichen Miene, mit der er seiner ganzen Rede zugehört, ihm einen vernichtenden Blick zuwarf, »wir stehen jetzt vor der Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Wir haben den Angeklagten nur zu verurteilen wegen eines Verbrechens, das verhältnismäßig gering gegen die Greuel, welche dieses menschliche Ungeheuer schon früher auf sich geladen, und ich dürfte, oberflächlich betrachtet, da er der reichlich verdienten Blutstrafe nicht entgehen wird, im Sinne seines Verteidigers für dieses Vergehen wohl mildernde Umstände zugeben.

»Strafbare oder gar verbrecherische Gemeinschaft, eine gemeinschaftlich kontrahierte Schuld rechtfertigt bis zu einem gewissen Grade – wohlverstanden unter Verbrechern, nicht vor dem Gesetz – die Gemeinschaft des Besitzes, weil derselbe einer und derselben Quelle entspringt. Als der Angeklagte mit einem Leichtsinn, der nur aus der Leichtigkeit des Erwerbs und der Verführungsmacht eines plötzlich erwachten Größenwahnsinns zu erklären ist, die ganze gewiß sehr bedeutende Summe verspielt, die er an der Person und in den Effekten des Ermordeten vorgefunden und er auf der Höhe der erschwindelten gesellschaftlichen Stellung, durch welche er der Welt imponierte, sich plötzlich wieder ohne Mittel sah, da suchte er seine Rettung bei der Gräfin Sostaniew. Sie war ihm im Bois in glänzender Equipage begegnet; sie spielte nach seiner Überzeugung hier sicher eine ebenso falsche Rolle wie er, sie war seine Mitschuldige von ehedem, sie mußte helfen, sei es durch die Gewalt der Einschüchterung.

»Er nahm, was sie ihm nicht gutwillig geben wollte, zumal er sah, daß auch sie zur Abreise oder Flucht gerüstet war. Sie konnte ihm entgehen; er sah ihr Geschmeide zum Einpacken bereit auf dem Tisch stehen und griff zu. Die Erwiesenheit der Mitschuld jenes Weibes angenommen, obgleich die von Rußland Requirierte diese hartnäckig in der Voruntersuchung leugnete, besteht hier allerdings unter den beiden eine Gemeinschaft der Interessen, aber vor dem Gesetz ist diese Gemeinschaft schon dem höchsten Strafmaß verfallen; sie rechtfertigt also nicht mildernde Umstände für diesen Raub, der durch zwei Zeugen bestätigt wird. Zudem haben wir ein Individuum vor uns, das zum Auswurf der Menschheit gehört, das zweimal des Mordes angeklagt; ich beantrage daher seine Verurteilung.«

Der Präsident stellte die übliche Frage an den Angeklagten. Dieser erklärte mit erhobener Stirn die gegen ihn gemachten Anschuldigungen für unwahr. Vor den russischen Gerichten werde er sich vollständig reinigen von jedem Verdacht, der hinsichts des im Zweikampf gefallenen Grafen Sostaniew ganz willkürlich nur durch die Aussage einer verlogenen Person, wie jene Kammerfrau Iwanowna, auf ihn gewälzt worden. Durch Zeugen werde er beweisen, daß er an jenem Tage sich bei den Erntearbeiten aufgehalten habe. Sir Gough betreffend, schilderte er mit Beredsamkeit und unter erstaunlicher Fertigkeit in der französischen Sprache, wie derselbe, als er, der Angeklagte, in dem Garten eines Wirtshauses in Ramleh auf seinen Herrn wartend gesessen, ihn aufgesucht, ihm gesagt, er habe einen Landsmann gefunden, bei dem er übernachten wolle, um mit ihm am anderen Morgen nach Kairo zu fahren; wie er ihm die Schlüssel zu seinen Effekten übergeben und ihm lachend gesagt habe, er solle alles bis zu seiner Ankunft in Paris wie sein Eigentum betrachten. Das Geld, das er nach Paris mitgebracht, sei sein Eigentum, denn in Sir Goughs Koffern habe sich erklärlicherweise keine Barschaft befunden. Daß er sich den Scherz gemacht, auf Grund dieser Erlaubnis Sir Goughs, der ein sehr jovialer Mann gewesen, in Paris als vornehmer Mann aufzutreten, sei nicht strafbar; Sir Gough würde höchstens darüber gelacht haben. Daß er die Pferde und Equipage desselben im Klub verspielt, sei ein Leichtsinn gewesen, allerdings, aber er habe den Herrn, der sie ihm abgewonnen, noch nicht autorisiert, sich dieselben abholen zu lassen; er könne ihm also nicht geben, was nicht sein Eigentum sei. Die Pariser Gesellschaft möge sich immerhin ärgern, daß sie von ihm düpiert worden, daß man ihm so bereitwillig Einladungen in die höchsten Kreise gesandt; das werde aber wohl nicht das erste und auch nicht das letzte Mal sein. Was endlich den Brillantschmuck angehe, den man bei ihm gefunden, den habe die Gräfin Sostaniew ihm geschenkt, als er ihr geklagt, daß er ohne Mittel sei, dann aber habe sie sich plötzlich besonnen, daß sie den Schmuck selbst als Präsent erhalten, und ihn zurückverlangt. Die Gräfin Sostaniew und er hätten früher in einer so intimen Beziehung gelebt, daß es ihm wohl erlaubt gewesen sei, diesen Schmuck als eine Entschädigung für die Unterstützung zu betrachten, die er ihr und ihrer Tante früher in Petersburg gewährt, als sie dort mit letzterer in sehr dürftigen Umständen gelebt. Von einem Diebstahl oder gar einem Raub könne also keine Rede sein; er weise diese Beschuldigung eines Weibes, das sich ihm gegenüber so schuldig wisse, mit Verachtung zurück. –

Jetzt ward Helene Sostaniew aufgefordert, ihre Aussage zu wiederholen. Mit Anstrengung erhob sie sich; mit gleicher Anstrengung suchte sie sich aufrecht zu erhalten. Gefaßt, aber mit matter, leidender Stimme, die tief zurückgesunkenen Augen zu Boden geschlagen, die abgemagerten Hände übereinandergelegt, ein Bild des Jammers, das die Geschworenen wie die Zuschauer fast zur Rührung brachte, wie sehr die Stimmung gegen sie war – so erzählte sie kurz, zusammenhängend, wie Cantopulos bei ihr erschienen und was zwischen ihnen geschehen.

Die Zeugin Zoe Meunier ward aufgefordert, auszusagen, was sie wisse. Zoe trat keck und bewußt vor; mit Geläufigkeit und dem ersichtlichen Bestreben, ihre einstige Herrin zu rechtfertigen, erzählte sie, was sie gehört.

Der falsche Albanese ward zum Zeugnis aufgerufen, ein Mensch, dem man, wie er jetzt in einfacher, ärmlicher Kleidung dasaß, auf hundert Schritte den Halunken ansah. Der vereidete Dolmetsch mußte übersetzen, was er in der nach schlechtem Italienisch klingenden, am Littorale gebräuchlichen Lingua franca aussagte. Danach kannte er den Angeklagten allerdings unter dem Namen Rhodios – aber das Wechseln des Namens sei im Orient sehr üblich – als einen höchst ehrenwerten jungen Mann, der sich redlich zu ernähren gesucht. In Marseille sei Rhodios ihm begegnet und habe ihm vorgeschlagen, als Diener bei ihm einzutreten. Sehr erfreut über den Vorschlag, da er durch Mißgeschick selbst ohne Unterhalt gewesen, habe er ihn angenommen. Das sei alles, was er wisse.

Der öffentliche Ankläger ergriff nochmals das Wort, um eine ägyptische Depesche zu verlesen, laut welcher auch Athanas, der falsche Albanese, zu der Bande des Politi gehört und von dem Gouvernement in Alexandrien aus Ägypten verwiesen worden. Er verlas ferner alle Schriftstücke, die er sich durch das französische Konsulat von Ägypten in betreff der Person des Angeklagten verschafft, eine ganze Aufzählung aller der Ruchlosigkeiten, welche jene gefürchtete Bande verübt, zu der der Angeklagte notorisch gehörte; dann faßte er die Aussagen der beiden Frauen zusammen und wiederholte seinen Strafantrag.

Der Angeklagte gab jetzt selbst einen Abriß seines Lebens, in welchem er sich ins glänzendste Licht zu setzen suchte, die Beschuldigung, als habe er zu jener, ihm allerdings, wie allen in Ägypten Wohnenden, bekannten Bande gehört, mit Abscheu zurückwies und eine Anzahl von Personen nannte, denen er als Diener oder als Sekretär aufopfernde Dienste geleistet.

Der Verteidiger des Angeklagten stellte jetzt alle Anschuldigungen von seiten der ausländischen Behörden als durchaus vag und unerwiesen hin, deren Grundlosigkeit sich erst später herausstellen werde, die er aber keineswegs als Beweise gegen die Ehrenhaftigkeit seines Klienten gelten lassen könne, die auch nimmermehr in dem Urteil der Geschworenen gegen ihn ins Gewicht fallen dürften. Er gab zu, daß sein Klient ein etwas abenteuerliches Leben geführt, oder doch nur wie Tausende anderer Existenzen, denen man in den Hafen- und Hauptstädten des Orients, ja selbst auf den Boulevards von Paris begegne. Wer am Morgen ohne einen Sou in der Tasche aufstehe und auf die Jagd nach dem notwendigen Fünffrankenstück ausgehe, sei noch lange kein gefährlicher Mensch, man müsse sonst die Hälfte derer einsperren, die täglich die Straße passieren. Solange man nicht das Urteil der Geschworenen kenne und wisse, ob man der Requisition Rußlands sogleich Folge geben könne, und da noch keineswegs abzusehen, ob dieselbe wirklich gerechtfertigt, da nur ein Verdacht vorliege; solange ferner die ägyptische Behörde überhaupt nicht die Auslieferung des Angeklagten begehre – was bekanntlich nicht der Fall sei –, müsse man in seinem Urteil von diesem Verdacht ganz abstrahieren und sich ohne vorgefaßte ungünstige Meinung, die hier schon ein Unrecht vorbereiten würde, an den Vorfall zwischen dem Angeklagten und der Sostaniew halten. Sein Klient sei eben ein lebenslustiger junger Mann, dem sein Äußeres einen sehr wirksamen Empfehlungsbrief für die Welt gegeben und den er natürlich auszubeuten suche, wie das schon sein früheres Verhältnis zu der Gräfin Sostaniew zeige. Er habe den Leichtsinn begangen, fremdes Eigentum zu verspielen, ohne es, wohl erwogen, wirklich, abzuliefern, auch dies Vergehen sei also nicht perfekt; und lebte Sir Gough noch, der, wie wir hören, ein sehr jovialer Herr war und wer weiß welchem ägyptischen Mörder zum Opfer gefallen, er würde sicher seinem Diener den Leichtsinn verziehen haben. Es fehle also in dieser Angelegenheit der Ankläger, mithin auch der Richter. Was den Brillantschmuck betreffe, so wisse man doch, daß die Stellung zweier junger Leute, die einander geliebt und vielleicht noch liebten, eine ganz ausnahmsweise sei, zwischen ihnen also von Diebstahl nicht die Rede sein könne.

Schließlich resümierte der Verteidiger, wenn man schon die Notwendigkeit anerkenne, der Requisition Rußlands Folge zu geben, so sei es ganz widersinnig, den Angeklagten hier wegen eines vermeintlichen Raubes mit einigen Jahren bestrafen zu wollen, während, wenn der weit schwerere, in Rußland schwebende Verdacht begründet werden könne, dem Angeklagten mindestens eine lebenslängliche Beraubung der Freiheit, ja die todbringende Arbeit in den Bergwerken Sibiriens beschieden sei. Er beantragte deshalb, auf eine solche Lappalie nicht so großes Gewicht zu legen.

Der Verteidiger sprach im ganzen wie einer, der einen zum Tode Verurteilten vor seinem Ende vor einer Erkältung zu hüten bemüht ist. Seine letzten Worte schienen denn auch den Hochmut seines Klienten sehr herabzudrücken. Vor sich niederstarrend, den Nacken beugend, stand er da, während er bisher frech die Richter gemustert.

Auch der Gerichtspräsident nahm jetzt wieder das Wort zu einem Resümee der Verhandlung, das, wie objektiv es gehalten, doch nichts zugunsten des Angeklagten beitrug. Die Geschworenen zogen sich danach zurück und beantworteten die einzige ihnen gestellte Frage mit ja.

Gregor Cantopulos brach, als er aus dem Munde des Präsidenten sein Schicksal vernahm, in einen Laut verbissener Wut aus; er ballte die herabhängenden Hände und suchte wild mit den Augen am Boden. Er wollte die Hand erheben gegen den Gerichtsdiener, der eben die seine auf seinen Arm legte, um ihn abzuführen, biß aber in ohnmächtigem Grimm die Zähne zusammen und ließ es geschehen.

Während der Auflösung der Gerichtssitzung entwickelte sich noch eine stille, lautlose Szene, die kaum beachtet wurde, als das Publikum zufriedengestellt mit Beifallsgemurmel den Saal verließ.

Zoe stand da, ihre Tränen trocknend, das Antlitz ihrer einstigen Herrin zugewandt und mit einer seltsamen Spannung in den Gesichtszügen, als brenne ihr noch etwas auf dem Herzen. Als dieselbe abgeführt werden sollte, stürzte sie zu dem Beamten und schluchzend beschwor sie diesen, ihr zu gestatten, daß sie nur ein einziges Mal ihrer teuren, unvergeßlichen Herrin die Hand zum Abschied küssen dürfe.

Und ehe dieser noch zu einem Entschluß gekommen, hatte sich Zoe der Gräfin mit einem Sprung genähert. Sie ergriff ihre Hand, während das abgezehrte Antlitz der Gefangenen ihr ein mildes, schmerzvolles Lächeln widmete. Sie bedeckte diese Hand mit Küssen und flüsterte einige kaum verständliche Worte.

Es war, als vernehme Helene in diesen Worten ein Evangelium; es durchzuckte ihren Arm bei der Berührung mit Zoes Hand, ihren ganzen Körper, und als letztere unter Tränen zu ihr aufschaute, hörte sie die bleichen Lippen flüstern:

»Dank, tausendfachen Dank, du edles Herz! du hast mich nicht vergessen!«

Und die Hand dem Druck Zoes entreißend, führte sie dieselbe mit dem Taschentuch ans Auge und wandte sich ab, um in ihren Kerker zurückzukehren.

Lange, mit gespanntem, aufgeregtem Gesicht, einem eigentümlichen Ausdruck von Befriedigung und Reue schaute Zoe ihr nach, bis sie verschwunden und auch sie aufgefordert wurde, den Platz zu räumen.

»Es ist geschehen!« murmelte Zoe leise vor sich hin und die Augen schließend tappte sie hinaus.

* * *

Die Zeitungen brachten am nächsten Tage einen ganz ausführlichen Bericht von dieser Gerichtsverhandlung. Eine derselben fügte mit gesperrter Schrift hinzu:

»Während wir diesen Bericht in die Presse geben, kommt uns die Nachricht, daß die Gräfin Sostaniew im Gefängnis gestern abend ihrem Leben ein Ende gemacht hat, und zwar durch Gift. Unbegreiflich ist es, wie sie trotz der aufmerksamsten Überwachung in Besitz desselben gekommen. Sie steht jetzt vor dem höchsten Richter, dessen strafendem Arm sich noch kein Sünder zu entziehen vermocht!«


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