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Zwölftes Kapitel

An dem Ruhebett, auf das man Helene Sostaniew getragen, saßen Zoe und die Concierge des Hauses, eine alte Frau mit wohlwollenden Zügen und einer Miene, die von dem aufrichtigsten Mitgefühl für die Bewußtlose sprach, deren Freigebigkeit sie immer als ein Muster für alle rechtschaffenen Hausbewohner gerühmt.

Zoes Antlitz war sorgenvoll; all der Übermut, der ihrer Soubrettenphysiognomie zur Natur geworden, war angesichts des Vorgefallenen verschwunden; die Hand im Schoß saß sie da, den Schrecken im Herzen, eine Zukunft vor Augen, die sie sich noch nicht ganz klar machen konnte, das Gemüt von Selbstvorwürfen gefoltert, die sie vergeblich niederzukämpfen versuchte. Sie meinte es aufrichtig gut mit ihrer Herrin; sie gehörte zu jenen Geschöpfen, denen die Dienstbarkeit zum Bedürfnis geworden. Sie war gern abhängig, glaubte es sein zu müssen, und wenn sie die Geheimnisse ihrer Herrin an die Frau von Chambras verriet, so geschah es ohne bewußte böse Absicht, nur in dem Wunsch, auch dieser ihrer Protektorin, der sie Dank schuldig war, gefällig zu sein. Hätte sie befürchten müssen, daß die Marquise ihrer Herrin durch geheime Mitwissenschaft in deren Herzenssachen schaden könne, sie wäre verschwiegen wie das Grab gewesen.

Jetzt war das Unglück plötzlich wie ein Blitz in dieses Haus geschlagen. Ihre Herrin, ihre schöne, von ihr aufrichtig bewunderte Gräfin? Mit einer wahren Freude hatte sie stets den Toilettendienst bei dieser verrichtet, ohne Neid auf die makellose Schönheit, die sich ihren Augen, ihren Händen preisgab. Kein Mann hätte Helene mehr bewundern können als sie, und wenn ihr Geliebter – welche Pariserin hätte ihn nicht! – von ihrer Schönheit sprach, rief sie stets: »Ach, ich bin ja eine garstige Kreatur gegen meine Gräfin!«

Mit demselben Enthusiasmus hatte sie von der letzteren auch stets in der Conciergeloge gesprochen, wenn sie halbe oder ganze Stunden in derselben plauderte; aber auch dort hatte sie kein Geheimnis daraus gemacht, daß der schöne und reiche Montague ihre Herrin liebe, denn sie fand diese Verbindung durchaus »konvenabel«.

Und jetzt! Wer war dieser junge Mann von überraschend schöner Erscheinung, elegant, bewußt, nobel, der sich wie ein alter, intimer Bekannter den Eintritt zu ihrer Herrin erzwungen, ihr eine sehr geräuschvolle Szene bereitet und sich des kostbaren Brillantschmucks bemächtigt hatte, der, wie sie vermutete, ein Präsent Montagues war und den die Gräfin durch Hilferuf zu verteidigen gesucht?

Ohne Zweifel war's ein Gauner, der sich durch vornehme Manieren einzuführen verstand – Zoe hatte ja von dergleichen im Petit Journal, im »Rocambole« gelesen. Die Polizei war ihm auf den Fersen gewesen und hatte ihn auf der Tat ertappt. Aber wie war es zu erklären, daß ihre Gräfin in so tiefe Ohnmacht gesunken, als der Beamte nach Abführung des vornehmen Gauners so lange bei ihr blieb; was ferner bedeutete es, daß derselbe, als er fortgegangen, sie und die Concierge für die Person der Gräfin verantwortlich gemacht, daß er eine Wache vor das Entree gestellt, nachdem er sich überzeugt, daß die Wohnung keinen zweiten Ausgang habe!

Auch die Gräfin war so gut wie verhaftet; auch sie wäre mit fortgeschleppt worden, wenn sie nicht bewußtlos gewesen wäre, und sobald sie die Augen wieder öffnete ...

Zoe schloß die ihrigen. Was um des Himmels willen konnte die Gräfin verbrochen haben, um eine solche Behandlung zu verdienen! Und was mußte die Welt, die vornehme Welt sagen, wenn sie erfuhr ... Ja, wenn diesen Augenblick die Marquise hereingerauscht wäre! ... Und wo war Montague? Montague, der sich durch seinen Einfluß ihrer hätte annehmen können, müssen! ...

Zoes Gedanken suchten in der Vergangenheit, da sie sich vor der allernächsten Zukunft entsetzten. Sie gedachte jetzt des oft so sonderbaren Wesens der Gräfin, ihrer Angst vor dem Alleinsein, ihrer schlaflosen Nächte und wie sie die schöne Frau, die doch so glücklich hätte sein sollen, zuweilen einen unterdrückten Angstruf hatte ausstoßen gehört. Sie gedachte namentlich jener Mitternacht, da sie angeblich von ihrer kranken Mutter zurückkehrte und sie ihre Herrin in einem Zustande fand, der ihr viel zu denken gegeben, ohne daß sie auf den Grund der Sache hatte kommen können.

»Es muß was sein! Ja, ja, es muß was sein!« fiel es ihr jetzt in dieser traurigen Situation immer wieder aufs Herz. »Aber was kann man Unrechtes getan haben, wenn man schön, reich, gefeiert ist wie sie!«

Ein Arzt aus der Nachbarschaft war auf den Ruf der Concierge dagewesen. Der hatte den Zustand für die Wirkung einer großen Gemütsbewegung erklärt, eine Tisane verschrieben, die noch unberührt dastand, und war gegangen, wahrscheinlich mit nicht sehr günstigen Begriffen von der gesellschaftlichen Stellung dieser Patientin, seit er die Wache am Entree gesehen.

Die Gräfin hatte nicht einmal einen Hausarzt, zu dem man hätte senden können; sie hatte sich nie einen solchen aufbürden lassen wollen. Aber auch von den Bekannten der Gräfin, die sonst täglich ins Haus kamen, ließ sich heute niemand sehen. Die Damen waren alle mit ihrer Saisontoilette beschäftigt und hatten keine Zeit. Doch Montague! ... Zu Montague mußte gesandt werden; er mußte kommen! ...

Da, nach zweistündiger todesähnlicher Bewußtlosigkeit, regte sich die Gräfin. Zoe war es beim Anblick des ersten Lebenszeichens, als müsse sie wünschen, daß die Ärmste das Auge nicht öffne, um nicht zu dem zurückzuerwachen, was so entsetzlich, daß es sie fast dem Tod in die Arme geworfen. Furchtsam blickte Zoe auf; sie sah die erschreckende Entstellung dieser sonst so schönen Züge, sah die sich eben halb öffnenden Augen tief in ihre Höhlen zurückgezogen, einen Zug von Schmerz um den Mund, der sie um so tiefer erschütterte, als dieser Mund eben die Sprache wiederfinden sollte, und was anderes als Jammer konnte diese Sprache sein!

Zoe gab besorgt der Concierge einen Wink, sich leise in das andere Zimmer zurückzuziehen, denn ehe ihre Herrin das Bewußtsein völlig wiedergefunden, konnten Worte fallen, die nicht für das Ohr dieser guten, aber wie alle Conciergen geschwätzigen Frau geeignet waren.

Danach erhob sie sich und trat an das Ruhebett.

»Ich bin's – Zoe!« sagte sie leise, aber verständlich, sich halb über die Daliegende beugend.

Helene öffnete erschreckend beide Augen; mit starrem, gläsernem Ausdruck schaute sie der Zofe ins Gesicht.

»Du! ... Und was willst du?« fragte eine heisere Stimme.

»Die Gräfin sind unwohl; ich glaubte nicht von Ihrer Seite gehen zu dürfen.«

Helene streckte sich, als fühle sie Schmerz in den Gliedern. Sie starrte auf ihren Anzug, auf das geöffnete Mieder; ihre Lippen bewegten sich, als sei ihr Gaumen vertrocknet.

»Ich habe Durst, Zoe!« sprach sie mit Anstrengung.

Zoe griff zu der Tisane und reichte ihr davon.

»Nicht das! Wasser, Zoe! O, mich dürstet so!«

Beruhigter eilte Zoe zur Karaffe. Ihre Herrin erwachte so ruhig; das gab auch ihr einige Zuversicht wieder.

Aber kaum kehrte sie mit der Karaffe und dem Glase in der Hand zurück, als Helene einen so gellenden Schrei ausstieß, daß Zoe erschreckt das Glas aus der Hand fallen ließ. Ein markerschütterndes Jammern folgte diesem Schrei. Helene wand sich auf dem Lager; sie zerwühlte mit beiden Händen das Haar; dann richtete sie sich auf, blickte mit der Wildheit des Irrsinns im Gemach umher, rieb sich mit Verzweiflung Stirn und Augen, schlug sich mit der Hand die Brust, öffnete den Mund zum Sprechen, ohne ein Wort hervorzubringen, und von Angst gejagt, sprang sie jäh vom Bette.

»Zoe, Zoe!« rief sie der ratlos Dastehenden zu, während sie mit wilder Hast und fliegenden Händen das Mieder zu schließen suchte. »Ich will fort! Auf der Stelle! Ich müßte schon hundert Meilen von hier sein! Hilf mir! Verlaß mich nicht, Zoe! Jede Minute ist kostbar!«

Und in Todesangst rannte sie im Zimmer umher, ohne zu wissen, was sie ergreifen solle. Sie nahm die überflüssigsten Toilettengegenstände in den Arm und rannte zur Tür; als sie aber die Hand auf das Schloß gelegt, zog sie diese zurück, als habe sie ein glühendes Eisen berührt. Regungslos, mit allen Zeichen der höchsten Furcht auf dem entstellten Antlitz, starrte sie die Tür an, zitternd an allen Gliedern. Ihr reiches Haar war über Rücken und Schultern herabgefallen, ihr Kleid in Hast und Unordnung nur halb geschlossen! ihr Auge war unheimlich, wie sie dastand, und plötzlich entfielen die zusammengerafften Gegenstände ihrem Arm.

»Zoe!« flüsterte sie bebend. »Zoe, ist ... er noch da? Da drüben im Zimmer?« Dabei schaute sie das Mädchen mit flackernden, scheuen Augen an.

»Gräfin, ich beschwöre Sie, beruhigen Sie sich!« sagte Zoe. »Es ist niemand drüben; nur die Concierge, die ich hinaussandte, als Sie erwachten.«

Furchtsam und verwirrt näherte sie sich ihrer Herrin und legte ihr beschwörend die Hand auf den Arm.

Helene stand tief sinnend, vor sich niederschauend da. Sie wagte es nicht mehr, Zoe anzublicken.

»Es steht mir jetzt alles vor!« flüsterte sie vor sich hin. »Es war der Henker meines armen Lebens, der heute vor mir erschien, ehe ich ihn vermeiden konnte! Jetzt ist es zu spät! Durch Flucht würde ich mich schuldig bekennen! Ich muß jetzt mein Haupt unter die öffentliche Schmach beugen, muß den Mut haben, vor dem Richter zu erscheinen! ... Mögen sie kommen! Wenn nicht durch Strafe, die ich nicht zu fürchten brauche, büße ich durch öffentliche Schande die Torheit, ein Leben genießen zu wollen, das von unverdientem Fluch verfolgt wird! ...«

Wie an allen Gliedern gelähmt, wankte Helene rückwärts zu dem Ruhebett, sank ächzend auf dasselbe und barg mit lautem Schluchzen das Antlitz in den Händen.

Zoe ließ die erste Heftigkeit des Schmerzes austoben, dann näherte sie sich leise und legte die Hand auf Helenens Schulter.

»Gräfin, fassen Sie sich!« flüsterte sie.

Helene lauschte. Sie bebte von neuem.

»Sie sind da, nicht wahr?« fragte sie, das Antlitz tiefer in den Händen bergend.

»Wir sind allein! ... Was auch kommen möge, ich weiß ja, daß Sie schuldlos, daß Sie, so schön, so edel, so gut, nicht imstande ... Aber ich verstehe nicht, daß Sie ohne jeden Schutz sich einer Unbill fügen ... Befehlen Sie, daß ich Herr von Montague benachrichtigen lasse ...«

»Montague!« lag es lautlos auf Helenens Lippen, während beide Hände zur Brust fuhren, um zu beschwichtigen, was das Herz so plötzlich wieder in Zittern versetzte ... »Nein, nein, nicht ihn!« rief sie schnell und ängstlich, Zoes Arm ergreifend und sie festhaltend. »Ich will niemand, niemand lästig fallen! Sie wären imstande, mir den Rücken zu wenden, wenn sie hören, was hier vorgefallen; sie würden mir auch nicht helfen können, wenn sie schon wollten, selbst er nicht, Montague! ...«

Bei dem Namen überfiel sie ein Zucken, das ihren Körper schüttelte. »Anatole!« drang es aus ihrer Seele herauf. Mühsam erhob sie sich wieder; sie rang die Hände. Ein Tränenstrom rann über ihre Wangen.

»Nein, nein, es ist Wahnsinn, der Gedanke, dies überleben zu können, dieser Schmach mein Antlitz zu zeigen!« rief sie, im Zimmer umhereilend, die Stirn an die Mauer lehnend, laut aufschluchzend. Dann von einem rettenden Gedanken plötzlich ergriffen, wandte sie sich ins Zimmer zurück.

»Zoe! Sieh mich an!« rief sie, dieser das vom Schmerz zermarterte Antlitz zeigend. »Sieh mich an, mich, die Gräfin Sostaniew, der noch vor wenigen Tagen alles zu Füßen lag, deren Ohr man mit Schmeichelworten bis zum Überdruß belästigte, von der man in diesem Augenblick wahrscheinlich schon mit Verachtung sich abwenden wird! Zoe, sieh mich an, sag' mir, kannst du Mitleid mit mir haben?«

Zoe legte bittend, mit Tränen in den Augen, die Hände zusammen.

»Könnt' ich Ihren Schmerz teilen, mit Freuden sollt' es geschehen!« rief das Mädchen exaltiert.

»Nein, du kannst es nicht! Danke dem Himmel, daß dir der tausendste Teil davon erspart ist!«

Helene irrte wirr und hastig mit den Augen über den Boden, als suche sie Worte. Fieberhaft wechselte es plötzlich rot und bleich in ihrem Antlitz, sie preßte beide Hände an die Stirn. Dann lauschte sie mit dem Ausdruck des Wahnsinns.

»Noch ist es Zeit!« rief sie mit wildem, irrendem Auge. »Zoe!« Sie streckte den Arm nach dieser aus und riß sie mit Heftigkeit an sich. »Schwöre mir, daß du tun willst, was ich von dir verlange, aber jetzt, ohne Zaudern, auf der Stelle!«

»Alles!« stammelte Zoe erschreckt.

»Alles! Gedenke deines Schwurs!«

Sie erfaßte das Mädchen mit beiden Händen an den Schultern, zog es an sich und flüsterte ihm mit heißem Atem einige Worte ins Ohr.

Zoe fuhr entsetzt zurück.

»Nimmermehr!« schrie sie mit Abscheu sich losreißend und den Arm abwehrend von sich streckend.

»Siehst du? Du logst, als du versprachst!« Helene erfaßte mit Heftigkeit Zoes Arm wieder, als wolle sie das Mädchen zum Gehorsam zwingen.

»Es wäre ein Verbrechen!« rief Zoe, vergeblich bemüht, sich loszumachen und mit Schaudern die Verzweifelte anblickend.

»Du mußt! Du hast es gelobt! Du ...«

Helenens heisere Stimme erstickte plötzlich.

Das Geräusch einer Tür, schwere Tritte im Korridor und grobe Männerlaute unterbrachen sie. Mutlos ließ sie des Mädchens Arm sinken und beide standen einen Moment regungslos da.

»Es ist zu spät!« flüsterte Zoe vor sich hin. »Sie kommen!«

Mit einem Schrei stürzte Helene in den Hintergrund des Zimmers, warf sich über das Ruhebett, barg das Antlitz auf demselben, und das Aneinanderschlagen ihrer Zähne durchdrang Zoes Glieder mit so eisigem Entsetzen, daß auch sie gelähmt zusammensank und ebenfalls, den Moment des Schreckens erwartend, das Antlitz in den Händen barg.

Eine halbe Stunde später nahm ein vor der Tür stehender, geschlossener Wagen eine wankende, tief verschleierte Gestalt auf.

Ein Mann in einfacher, dunkler Kleidung folgte ihr in denselben, und erst als er sich entfernt, trat die alte Concierge, die Hände ringend, aus ihrer Loge, durch deren Fenster sie zitternd der Verschleierten nachgeblickt. Ein Kreuz auf der Brust schlagend, hoch aufatmend, als das Gefürchtete vorüber, mit schlotternden Knien stieg sie die Treppe hinan.

»Armes Kind, daß auch Ihnen so etwas passieren mußte!« sprach sie, die Hände faltend, als sie Zoe auf dem Vorplatz begegnete, die in höchster Verwirrung ihre notwendigsten Kleidungsstücke auf dem Arm zusammengerafft hatte und von einem am Korridor stehenden Beamten gefolgt, der offiziell die Wohnung schloß, die Treppe hinabeilen wollte. »Armes Kind! Einen solchen Dienst so plötzlich zu verlieren!«

Zoe antwortete nicht, sie sah auch nicht. Ihre Augen waren von Tränen geblendet. Erst als sie die Loge der Concierge erreicht, warf sie alle ihre Kleidungsstücke und einen in der Flucht vollgestopften Reisesack auf den Boden und brach in lautes Wehklagen aus.

Hier fand sie Anatole, der, von Unruhe getrieben, die ihm sonst vergönnte Abendstunde nicht hatte abwarten können und nach langem Sinnen zu der Überzeugung gekommen, daß Rostoff ein boshafter Verleumder sei, zu Helenens Wohnung eilte.

Sprachlos hörte er von dem Geschehenen. Kein Wort kam über seine Lippen, als Zoe und die Concierge, noch unter dem ganzen Einfluß des Schreckens, abwechselnd sich in die Rede fallend, um zu ergänzen oder zu berichtigen, ihre Erzählung beendet.

Erst als Zoe aufsprang und ihn beschwor, ihrer Herrin zu Hilfe zu eilen, die sicher durch die ihr angetane Schmach zu einem Akt der Verzweiflung gegen sich selbst getrieben werde, erst da erhob er sich mit dem festen Vorsatz, etwas zu tun.

Er wankte hinaus. Aber auf der Straße angekommen, fand er sich in einer Verwirrung, daß er nicht wußte, welche Richtung er einschlagen solle, viel weniger, was er zu tun habe. Helfen – aber wie und wo! Die Fäden seiner Gedanken zerrissen, sobald er sich einer Idee klar werden wollte; nur in einem behielten sie ihren entsetzlichen Zusammenhang: Helene war mit dem Griechen verhaftet worden! Was Rostoff von ihrer Beziehung zu diesem Abenteurer gesprochen, bestätigte sich also, und – wenn er ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte! Wenn Rostoff ihm verschwiegen, was die Gerichte veranlassen konnte, eine Dame zu verhaften, die den höchsten Gesellschaftskreisen angehörte, einen Schritt zu wagen, der in diesem das peinlichste Aufsehen, ja Entrüstung hervorrufen mußte.

Anatole kam zu keinem Entschluß. Deutlicher gestaltete sich in ihm die Ahnung, daß der Sache etwas Schlimmes zugrunde liegen müsse, daß Helenens Beziehung zu dem Abenteurer eine selbst vor den Gerichten strafbare sei, daß zwischen ihnen ein Band existiere, welches diesen mit so großer Ostentation aufgetretenen Fremden berechtigte, sich bei ihr einzudrängen, sich sogar jenes Schmuckes zu bemächtigen, den sie, freilich mit Widerstreben, erst vor einigen Tagen als ein Geschenk seiner Liebe angenommen.

Und welche Rolle sollte er in dem bevorstehenden Drama spielen! Er selbst hatte gestern öffentlich auf der Promenade bestätigt, was die Marquise von Chambras so eilfertig überall verbreitet. War Helene schuldig, so zeigte man mit Fingern auf ihn; war sie es nicht, so war ihre Stellung in der Gesellschaft durch nichts wieder zu gewinnen, denn ihre geheime Beziehung zu diesem Abenteurer, der, wenn man ihm sonst nichts anhaben konnte, jedenfalls des Diebstahls überführt werden mußte, reichte hin, um sie für alle Zeit zu kompromittieren. Und dieses unselige Duell! Vor einigen Tagen erst hatten sich alle Journale damit beschäftigt, und heute war die Gräfin Sostaniew wiederum die Heldin eines Dramas, das ...

Der schwer verletzte Stolz, der Gedanke, daß Anatole Montague, der reichste Kavalier, wenn auch vielleicht nicht persönlich, doch mit seinem fleckenlosen Namen vor den Assisen erscheinen solle, trat immer mächtiger gegen die Versöhnlichkeit des Herzens auf. »Du liebst dieses Weib!« rief es in ihm, »und sieh, du wagst es nicht, aufzublicken! Du verschmähtest die Schönsten, die Besten unter den Frauen, und du liebst ein Weib, das dich selbst warnte, als es dir zurief: ›Du kennst mich so wenig!‹«

Diese Mahnung war's, die ihn, sich selbst unbewußt, in die entlegensten Gassen getrieben, in denen er nichts weniger hätte suchen können, als eine Vermittlung zugunsten Helenens. Und hier in dieser Abgelegenheit fiel es ihm endlich ein: es ist Zeit, dein Hotel zu gewinnen, ehe die Nachricht sich verbreitet, daß Montagues – – Braut als Verbrecherin verhaftet! ...

Der Stolz macht feig angesichts eines Gegners, mit dem ein Kampf unmöglich. Anatole würde Himmel und Erde in Bewegung gesetzt haben, um für die Unglückliche einzutreten, denn er war innerlich noch von ihrer Unschuld überzeugt; aber die skandalösen Umstände, unter welchen ihre Verhaftung geschehen war, ihre intime Verbindung mit diesem Abenteurer, von der alle Welt jetzt erfahren mußte – jede Möglichkeit einer Rettung ihrer und seiner Ehre war undenkbar.

Anatole erreichte sein Hotel, schützte bei der Dienerschaft ein Unwohlsein vor und verschloß sich in sein Arbeitszimmer, um von niemand gesehen zu werden.


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