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Fünfzehntes Kapitel

Die wenigen Monde hatte Anatole nicht genügen können, mit sich zum Abschluß zu kommen. Schwere Prozesse mit dem Herzen verlangen immer lange Instanzen. Er selbst in seinem Bemühen, eine hoffnungslose Leidenschaft, die von der Welt gebrandmarkt, zu ersticken, hoffte alles von dem letzten und entscheidenden Moment, wo Helene Sostaniew vor der Jury stehen werde.

Alles hatte er getan, um vergessen zu lernen. Er hatte sich auf seinem Schloß zum Erstaunen seiner Beamten um alle Interessen der Landwirtschaft bekümmert, er beteiligte sich an der Verwaltung, er machte Besuche bei der ganzen Nachbarschaft, lud diese zu sich, bemühte sich, die Töchter seiner Gutsnachbarn schön oder liebenswürdig zu finden, und doch errieten alle, mit denen er in Berührung kam, daß irgend etwas in ihm nicht in Ordnung sein müsse, daß seine Seele nicht mit dabei war.

Jetzt im Hochsommer, als die Sonnenglut alles lähmte oder erschlaffte und in den Schatten der vier Wände verscheuchte, jetzt nachdem er sich selbst ermüdet durch Überstürzung in dem Bedürfnis nach Zerstreuungen, als er die Monotonie, die Wiederkehr immer derselben ländlichen Belustigungen mit Überdruß empfand, machten ihm die Briefe seines Bevollmächtigten in Paris die Ausführung eines Planes dringlich, den er mit einem gewissen Abscheu beiseite gelegt.

Er begann alles zu ordnen; er sprach seinem Intendanten von einer wahrscheinlich jahrelangen Abwesenheit, die diesem nicht überraschend war, da Anatole seit Antritt dieses großen Besitztums sich nur einige Male, wenn er der Jagd halber kam, flüchtig um dasselbe gekümmert hatte.

Inmitten dieser Reisevorbereitungen brachte man ihm eines Tages die Mappe mit den Pariser Briefen und Zeitungen, auf die er schon mit Unruhe gewartet. Mit bleichem Gesicht und zitternder Hand griff er danach, verschloß sein Zimmer und war erst zum Diner wieder zu sprechen, das er nicht anrührte. Er trieb sich den Rest des Nachmittags, den Abend, bis spät in die Nacht in den Wäldern umher und war während der nächsten Tage unnahbar.

Das einzige, was man aus seinem Munde hörte, war die Mitteilung an seinen Intendanten, daß er zu Ende der Woche eine Reise antrete, von der er vor Jahresfrist nicht zurückkehren werde.

Er dachte nicht daran, den Nachbarn, mit denen er einen so freundschaftlichen Verkehr angeknüpft, seine Abschiedsbesuche zu machen; die leeren Höflichkeitsformeln ekelten ihn an, und schwerlich, meinte er, werde man ihn auf längere Zeit hier wieder sehen. Eine Karte genügte für den Abschied.

Einen ganzen Tag hindurch saß er und schrieb Briefe, suchte frühzeitig die Ruhe und erhob sich am nächsten Tage mit einer Öde im Herzen, als gebe es auf dieser ganzen Welt nichts mehr, was eines Gedankens wert sei.

Wieder kam die Briefmappe. Mit Unmut warf er die Zeitungen beiseite; es ekelte ihn an, auch nur eine derselben zu öffnen.

Unter den Briefen fiel ihm ein großes grobes Kuvert mit einem Gerichtssiegel in die Hand. Er betrachtete dasselbe mißtrauisch hin und her. Welche Beziehungen hatte er zu den Pariser Gerichten, die ihm sein Bevollmächtigter nicht erspart hatte!

Überdrüssig öffnete er. Ein Billett fiel ihm in die Hand. In dem Anschreiben des Gerichtes las er einen Namen, der sein Herz laut klopfen machte. Die Zeilen liefen vor seinen Augen durcheinander; das Schreiben entfiel seiner Hand, er griff nach dem offenen Billett – es waren Helenens Schriftzüge!

Sonst, wenn ihm nur eine Zeile von ihrer Hand zukam, hatte er diese enthusiastisch an seine Lippen gedrückt; heute sank angesichts dieses Billetts seine Stirn in die Hand, er starrte es an.

»Zu was! Zu was!« stöhnte er vor sich hin.

Und dennoch las er, gegen seinen Willen und dennoch von einer Macht, die stärker war als dieser, getrieben.

»Anatole!

Aus Gnade, nur aus Gnade, nichts anderes fordere ich von Dir: Lies diese flüchtigen Zeilen! Ich schreibe sie in einem Augenblick, wo meine Sinne, meine Seele kaum noch mir gehören – ja in einem Augenblick, den ich selber so karg messen muß, denn ich bin im Besitz eines Talisman, und die Angst verzehrt mich, daß man ihn mir rauben könne!

Vor Dir, Anatole, den ich geliebt, dessen Name mein letzter Hauch sein soll, will ich gerechtfertigt dastehen! Was ich hier sage, ist die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe; ich sage sie ohne Schonung für mich!

Ich bin schuldig, schuldig aber nur vor mir selbst. Gewiß ist es eine Schuld; ich will sie nicht beschönigen! Als ich sie auf mich lud, war ich jung und unerfahren; ich folgte dem Instinkt eines blutjungen leidenschaftlichen Herzens, der weder durch Erziehung noch durch einen Lehrer geregelt war, den wir Frauen uns leider oft zu spät erst selber geben! Ich liebte Gregor Cantopulos. Meine eigene Tante lehrte mich ihn lieben, weil sie, die plötzlich Verarmte, eine Erleichterung ihrer Lage in all den Unterstützungen fand, die er uns brachte.

Ich war ahnungslos; ich glaubte ihn lieben zu dürfen, zu müssen; er sprach stets von unserer baldigen Vermählung, von der ausreichenden Existenz, die er mir bereiten könne. Ein Jahr genügte, um ihn in seinem wahren Charakter kennen zu lernen. Ich bereute schwer, was ich getan; ich hatte den Mut, ihn von mir zu weisen.

Cantopulos blieb fort. Meine Tante versank in Not und Elend: wir verkauften und verpfändeten, was wir besaßen. Noch einmal erschien dieser verworfene Mensch; ich floh ihn, denn ich wußte, daß meine Beschützerin schwach genug sein werde, seine Hilfe wieder anzunehmen.

Da bat der Graf Sostaniew um meine Hand. Er war ein Ehrenmann und als solcher bekannt. Ich ward sein Weib. Mein Herz war nicht dabei, aber ich schätzte ihn. Er verpflichtete sich, meine Pflegemutter reichlich zu unterstützen, und ich reiste mit ihm auf seine Güter.

Mit Entsetzen, ja mit Grauen erkannte ich in dem bald nach unserer Ankunft eintreffenden Sekretär meines Gatten – Gregor Cantopulos! – Ich fand Gelegenheit, mit ihm allein zu sein. Ich beschwor ihn, nach Petersburg zurückzukehren; ich bot ihm, was ich durch die Freigebigkeit meines Gatten besaß; ich bot ihm mehr noch unter der Bedingung, daß er uns verlasse. Cantopulos verhöhnte mich; er sprach Worte, die mir das Haar sträubten; er glaubte mich in seiner Gewalt zu haben; er drohte meinem Gatten zu verraten, was dieser mit seinen strengen Lebensansichten nimmer erfahren durfte.

Sein Bleiben war für mich eine Qual, eine ewige Drohung. Da er mich unerschütterlich sah, betrog er meinen Gatten vor meinen Augen um große Summen, und ich mußte es geschehen lassen. Endlich war er frech genug, mir zu erklären, Graf Sostaniew stehe ihm im Wege, es gäbe Mittel, lästige Menschen zu beseitigen.

Ich wachte über das Leben meines Gatten; ich ging nicht von seiner Seite. Cantopulos schreckte mich durch neue Drohungen; er wagte es, als er mich eines Abends allein in meiner Wohnung wußte, mich zu überfallen; ich rettete mich aus seinen Armen, indem ich zum Fenster hinaussprang. Von da ab war er finster, schweigsam, und vergeblich sann ich auf Mittel, ihn zu entfernen. Das wußte er.

Eines Tages fuhr ich mit der Frau unseres Popen zur Distriktsstadt. Ich wußte, daß mein Gatte mit dem Intendanten draußen bei der Ernte sein werde und war also beruhigt. Meine Rückkehr verspätete sich, da unser Kutscher, betrunken wie er war, mit unserer Troika auf den elenden Wegen Unglück hatte. Als wir in den Hof fuhren, brachte man die Leiche meines Gatten!

Ich war bewußtlos vor Schmerz; eine furchtbare Ahnung nannte mir Cantopulos als den Mörder, und doch sagten einige unserer Leute aus, derselbe sei mit ihnen auf dem Erntefeld gewesen. Ein Stallknecht, der in den Tabunen beschäftigt war, erklärte, als er, Cantopulos auf dem Feld zurücklassend, auf den Hof zurückgekehrt, habe er den Grafen mit einem fremden Herrn, einen Kasten unter dem Arm, gegen den Wald zuschreiten gesehen.

Es ist stets meine Überzeugung gewesen, daß Cantopulos dennoch der Mörder gewesen, und daß er diesen Mugik mit dem meinem Gatten gestohlenen Geld bestochen. Wahrscheinlich ist er noch am Leben und zum Geständnis der Wahrheit zu bringen. Das Bekenntnis meiner Kammerfrau Iwanowna auf ihrem Sterbebett bestätigt mich in diesem Glauben; Gott vergebe ihr die entsetzliche Vermutung, daß ich mit Cantopulos im Einverständnis gewesen!

Sie hat es geglaubt, Iwanowna, oder sie wollte es glauben, wie ich aus ihren späteren Reden hörte, weil sie gesehen, daß Cantopulos an jenem Abend nach meiner Wohnung geschlichen, ohne zu wissen, wie ich meine Rettung bewerkstelligte. Sie, eine schlaue, stets lauernde Person, hat auch wahrscheinlich weiter gelauscht, um hinter Geheimnisse zu kommen, deren Existenz sie vermutete.

Als Cantopulos einsah, daß mein Abscheu gegen ihn, mein fester Wille, ihn um die Früchte seiner scheußlichen Tat betrogen, als ich ihm drohte, ihn den Gerichten als wahrscheinlichen Mörder meines Gatten zu überliefern, lachte er mir ins Gesicht. Es werde ihm, höhnte er, in diesem Falle ebenso leicht sein, mich den Gerichten und der Welt als seine Mitschuldige zu bezeichnen, denn man kenne in Petersburg das Verhältnis, in dem wir zueinander gestanden, und die Gutsnachbarschaft habe uns beide ja schon lange im Verdacht geheimen Einverständnisses.

Jetzt erst fiel es mir wie ein Schleier von den Augen, jetzt auch verstand ich erst Iwanownas Benehmen! Dieser Verworfene mochte sich einen Schein gegeben haben, an den die Welt nur allzu bereitwillig glaubt, wenn es sich um eine Frau handelt! In meiner Todesangst war ich dieser Frechheit gegenüber ratlos. Cantopulos besaß die Stirn, mich mit anzuklagen, wenn er zur Rechenschaft gezogen wurde!

Ich war dem Wahnsinn nahe. Iwanowna war das Mitgefühl selbst gegen mich. Ich hielt ihre Aufopferung für mich damals für aufrichtig. Wie ich zu spät einsehen lernte, wollte diese schlaue Person nur ein Geheimnis erlauschen, mit dem sie mir eine Summe abzwingen könne, die ihr eine sorgenfreie Existenz bereite.

Da half mit der Zufall. Die Tochter eines unserer Bauern, ein bildschönes Mädchen, war zurückgekehrt. Graf Sostaniew selbst hatte die Erlaubnis zu ihrer Entfernung gegeben, weil Cantopulos ihr nachstellte; nach seinem Tode durfte sie wiederkehren. Cantopulos verlangte eines Tages bei mir Gehör. Er war sehr aufgeregt. Er erklärte sich bereit, gegen eine Summe von fünfundzwanzigtausend Rubel das Gut zu verlassen.

Ich nahm an, er fühle sich unsicher und halte es für besser, das Weite zu suchen. Ich atmete auf. Ich zahlte ihm das Geld. Iwanowna, die Lauscherin, mußte unglücklicherweise gesehen haben, wie er in einer Ecke des Korridors die Banknoten zählte. Sie hat mir das später vorgeworfen. Cantopulos war noch an demselben Abend mit jener Dirne verschwunden.

Die Behörden glaubten an die Umstände, unter welchen Graf Sostaniew gestorben. Er besaß keine nächsten Verwandten; den übrigen war sein Tod natürlich willkommen. Mich litt es nicht mehr auf den Gütern. Die mir von meinem Gatten ausgesetzte Summe ward mir gezahlt; ich verließ Rußland und reiste nach meiner Heimat, um die Hälfte des mir gewordenen Vermögens der Kirche meines Heimatsorts zu schenken. Ich verlangte ja so wenig für mich; ich behielt genug, um eine stille Existenz zu führen und mir zunächst auf Reisen Ruhe vor den Schatten der Vergangenheit zu suchen.

Ich fühlte stets eine moralische Mitschuld an dem Tode meines Gatten. Freilich hatte ich ihn nicht zu hindern vermocht, so sehr ich gewacht; ich empfand den Vorwurf, in feiger Rücksicht für mich selbst den Mörder nicht seiner Strafe überliefert zu haben, denn in meinen Augen war Cantopulos der Mörder.

Ohne es zu ahnen, hatte ich meinen bösen Geist in der Person Iwanownas an meine Seite gefesselt. Sie begann damit, mir einen Vorwurf daraus zu machen, daß ich die Hälfte meines Vermögens jener Kirche übergeben. Später wagte sie hinzuzusetzen: wenn man reinen Gewissens sei, so tue man dergleichen nicht. Die Habsüchtige glaubte sich selbst verkürzt durch dieses fromme Opfer! Sie versuchte, nach und nach sich eine Autorität über mich anzumaßen; sie begann, in halben Worten von Cantopulos und mir zu sprechen, mir anzudeuten, daß sie von meiner früheren Beziehung zu ihm gehört, und endlich, während ich, von dieser Person gejagt, von Stadt zu Stadt floh, ohne vor ihr Ruhe zu finden, sprach sie mir in Neapel von der Summe, welche ich diesem Menschen gegeben, um ihn zu entfernen, einer Summe, die selbst der Reichste nicht zahle, ohne genügende Veranlassung hierzu zu haben.

Das Maß war übervoll. Ich verabschiedete sie in Neapel; ich entschädigte sie reichlich, um sie einstweilen vor Sorgen zu schützen. Als Dank dafür schied sie mit Drohungen von mir, die mir bewiesen, daß sie heimliche Zeugin des Mordes an meinem Gatten gewesen sein müsse.

Auch ich verließ Neapel. Ich wollte mich in dem dunkelsten Winkel der Welt verstecken; ich befand mich auf der Flucht vor dem Schicksal. Ich sah nur eine Rettung: nach Rußland zu reisen und den Mörder anzuklagen! Das konnte mich vor dem Schein der Mitschuld retten, den man so gern auf mich wälzte. Selbst Rostoff, einer unserer früheren Gutsnachbarn, der sich in Neapel bei mir eindrängte, hatte boshafte Worte fallen lassen, als ich seine Galanterien mit Ekel zurückwies. Der Schein lag vielleicht schon auf mir, aber wo sollte ich Stütze. Hilfe finden, um, ein schwaches Weib, in diesem grauenhaften Dilemma zu bestehen! Wer verteidigte meine Unschuld, wenn Iwanowna aussagte, sie habe Cantopulos am Abend in mein Zimmer schleichen gesehen: wer bezeugte mir, daß ich mich, ihm entflohen, die Nacht hindurch ängstlich im Gartenpavillon verschloß! Wer rettete mich, wenn Cantopulos, gestand er seine Tat ein, mich des Einverständnisses zieh und Iwanowna beschwor, daß er von mir vor seinem Verschwinden jene Summe empfangen!

Unter dem Fluch jammernd, der mich, fast ein Kind noch, mit jenem entsetzlichen Menschen zusammengeführt, unschuldig und mich dennoch, seit Iwanowna von mir gegangen, stets verfolgt glaubend, kam ich nach Nizza mit der Absicht, in der Schweiz ein abgeschiedenes Plätzchen zu finden.

Gute, teilnahmsvolle Menschen, so glaubte ich, suchten mich dort an sich zu ziehen. Frau von Chambras umgab mich mit mütterlicher Sorgfalt. Es war mir wieder, als erwärme die Sonne auch mich, wie alle übrigen Sterblichen; ich fühlte allmählich und so wohltuend wieder einen Zusammenhang zwischen mir und der Welt; die Furcht vor dem Gespenst meiner Einbildung, das ich fliehen zu müssen glaubte, entließ meine Sinne aus ihren Banden; die freundlichen, teilnehmenden, schmeichelnden Worte klangen wieder an mein Ohr. Da erwachte denn noch einmal die Lebenslust in mir. Die Welt erschien mir noch einmal wieder schön, viel schöner als jene russischen Steppen, die ich durchfahren mußte, um mit Menschen zu verkehren.

Ich ließ mich verleiten, dieser Familie nach Paris zu folgen. Ich sah alles leben, leben! Ich sah Dich, Anatole! Es erfaßte mich wie ein Strudel, aus dem mir nur dann und wann das Ungeheuer der Vergangenheit seine Fratze zeigte. Ich hatte Augenblicke, in welchen es mich wieder mit grauenhafter Angst packte; ich hörte die leisen Tritte meiner Verfolger hinter mir, fühlte eine kalte Hand auf meiner Schulter!

Ich floh, gejagt von dem Fluch der Mitwissenschaft, vor dem Gespenst des Scheins, das mein Schatten geworden. Ich hatte nicht den Mut, aufrichtig zu sein, nicht gegen meinen Gatten, nicht gegen Dich! Ich log, denn ich schwieg!

Aber ich liebte Dich, Anatole! Um Deinetwillen stürzte ich mich immer wieder in dieses phosphorleuchtende Meer der Gesellschaft! Ich wollte Dir gefallen und sah doch voraus, daß Iwanownas Warnung sich erfüllen werde – Iwanownas, deren drohende Worte mir oft in meinen wüsten Träumen im Ohr hallen –, daß ich das Ende meiner Mittel sehen werde, wenn ich dieses verschwenderische Leben fortführe. Aber ich mußte es, um mich zu betäuben; ich sah ein, daß die Einsamkeit, die ich hatte suchen wollen, mich zur Verzweiflung treiben werde.

Ich liebte Dich, Anatole! Ich umarmte Dich! Und wenn ich glücklich in Deiner Liebe gewesen war, schreckten Iwanownas Worte mich wieder, mit denen sie von mir geschieden: ›Fürchte mich, Du wirst noch von mir hören!‹

Da führte mir das Schicksal, vor welchem ich auf der Flucht in Deinen Armen rasten zu können wähnte, jenen entsetzlichen Menschen wieder in den Weg. Auch Iwanowna hatte in ihrer letzten Stunde ihre Drohung wahr gemacht; sie schied mit einer Lüge aus der Welt, die ihr Gott droben nicht anrechnen möge.

Du weißt, was seitdem mit mir Armem geschehen. Ich schweige von dem, was ich gelitten. Der Schatten, der von Helene Sostaniew zurückgeblieben, gehört nicht mehr unter die Lebenden. Nach all den Martern, die ich ertragen, bin ich zu schwach, um mich der neuen Folter zu unterwerfen, die meiner noch harrt. Selbst der Gedanke, meine Unschuld bestätigt zu sehen, kann mir nicht mehr die Kraft verleihen, all das noch zu erdulden, was mir bevorsteht. Anatole! Die Hand, die soeben die Feder niederlegt, die Dir den Scheidegruß derjenigen sendet, die Dich so unaussprechlich geliebt, sie führt jetzt eben den letzten Labetrank an die Lippen, der mich erlösen soll, und alles, was ich an Gerechtigkeit von der Welt verlange, ist der kleine Dienst, Dir dieses Lebewohl zu senden! Mit reinem Herzen trete ich vor Gott, meinen einzigen Richter!

Vor ihm allein noch kann ich mich rechtfertigen. Die Welt hat schon gerichtet, und was nützt es, mit ihr den Kampf um meine Unschuld aufzunehmen! Vor ihr kann ich Dein Weib nicht sein, denn mit mir wärst auch Du gerichtet!«

Am nächsten Tage schiffte Anatole Montague sich in Havre nach Westindien ein – allein, aber mit dem Gedanken an diejenige, die ihm unvergeßlich geblieben.


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