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Zehntes Kapitel

Zerschlagen, vernichtet in seinem innersten Leben erreichte Anatole sein Hotel, suchte, ohne die Bedienung eines Blickes zu würdigen, sein Schlafgemach und warf sich angekleidet auf sein Bett.

Er schloß die Augen, er ballte krampfhaft die Hände vor der Stirn, er biß die Zähne zusammen und murmelte vor sich hin: »Daß ich dieser Schlange nicht die Zunge ausriß! Schon in Neapel suchte er sie mit der scheinbar absichtslosesten Miene zu verleumden und hier vollendete er, was ihm dort übrig geblieben, mit der Schamlosigkeit, selbst einzugestehen, daß er von ihr zurückgewiesen worden! Er haßt sie, er sucht nach Rache! ... Und im Grunde ... wenn er wirklich die Wahrheit sprach, was tat sie? Als harmloses Mädchen in die Hände eines Unwürdigen zu geraten, war sie etwa die einzige, der dies geschehen? Wer erzählt mir, was das sittsamste, eben der Pension entlassene Mädchen hinter dem Rücken seiner Lehrerinnen schon erlebt haben mag! ... Und daß dieser Grieche, der die Unerfahrene zu gewinnen wußte, ihr folgte, daß er es verstand, sich in das Haus ihres Gatten zu drängen ... Rostoff hatte nicht die Stirn, zu behaupten, sie habe darum gewußt, sie habe ihren Gatten betrogen ...«

Eine Pause, während welcher Anatoles Seele zwei verschiedenen Advokaten lauschte, denn auch der Ankläger gewann in ihr Gehör.

»Wahr ist es, daß der Anblick dieses Abenteurers sie in eine Stimmung versetzt, von der sie sich nicht zu erholen vermochte! Sie ließ sich auch von diesem Griechen erzählen, ohne zu antworten! War sie reines Herzens, warum gestand sie nicht ein, sie kenne ihn? ... Es ist mir, als habe ich heute den Anker auf den Grund ihrer Seele geworfen, den sie stets mir zu verhüllen wußte. Sie ist nie aufrichtig gewesen; sie vermied stets, von ihrem früheren Leben zu sprechen, und daß dies nicht so ganz ohne Stürme gewesen, beweist die ungleiche Stimmung, mit der sie sich und mich schon gefoltert! Es gibt Momente, in welchen aus ihrem Auge etwas so geheimnisvoll Düsteres spricht! Ich wollte es auch nicht verstehen, wollte nicht hören, als sie mir mit so sonderbarem Ton sagte: ›Du bist bereit, dein Leben einem Weibe hinzugeben, das du noch so wenig kennst!‹ ... Und doch darf ich ihr keinen Vorwurf machen! Was berechtigte mich früher, ihre Erlebnisse kennen zu wollen, und habe ich sie nach diesen gefragt, als sie mir den Vorzug vor allen anderen gab? Sie gestand damals offen genug, sie könne und wolle eine neue Ehe nicht eingehen; ich zwang sie zum Gegenteil! Hat sie heute nicht das Recht, auf den geringsten Vorwurf von meiner Seite zu antworten: ›Warum trittst du mir in den Weg! Ich sagte dir ja, du willst mich und kennst mich doch so wenig!‹ ...«

Anatole kam während einer schlaflosen Nacht zu dem Entschluß, ihr das Verhältnis zu dem Griechen zu verzeihen. Was er aber für einen Entschluß hielt, war nichts als das unabweisbarste Bedürfnis seiner Seele, denn ohne sie sah er ein Nichts vor sich, das er nicht einmal zu denken vermochte. Es war ihm, als sei sie, selbst schuldig, eine Bedingung seines Lebens.

Anatole Montague war auf dem Punkt angelangt, wo eine einzige Begegnung, ein Lufthauch das Leben des felsenfestesten Mannes in Scherben wirft; er hatte den Frauenwert nie taxiert oder gering geschätzt, und jetzt zwang ihn sein eigenes Glück, den Wert der einen, um die es sich handelte, nicht auf die Goldwage zu legen!


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