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Neuntes Kapitel

Der Frühling war über Nacht ins Land gerückt. Seit drei Tagen erschlossen sich fast zusehends die Knospen der Bäume, sich in frischgrünes Laub verwandelnd; die Gebüsche grünten, und da heute gerade der Tag des Blumenmarktes war, schmückte sich der Madeleineplatz mit den frischen Töchtern des Lenzes.

Hunderte von offenen Equipagen rollten heut am Nachmittag im wärmsten Sonnenschein, die Boulevards herabkommend, an der schönen Madeleinekirche vorüber, in der man Gott und sich selbst mehr einen Salon als einen Tempel erbaut. Die eine und die andere der Equipagen hielt wohl flüchtig am Fuße der hohen Freitreppe, und heraus stieg eine in aller weltlichen Hoffart nach dem letzten Modejournal kostümierte Dame, mit langer, schwerer Schleppe die Stufen hinanrauschend, um dem Himmel en passant ein paar freundliche Worte zuzuflüstern und dann ins Bois de Boulogne zu fahren und sich nach einer neuen Sünde umzutun.

Auf dem Konkordienplatz rauschten zum ersten Male wieder die Wasser der beiden großen Fontänen, der Sonnenschein blitzte auf den goldenen Zeichnungen am Obelisk, an dessen Fuß ein Ludwig Philipp den Fiaker bestieg, um Frankreich Adieu zu sagen, und alles sah so lustig aus auf dem scheinheiligen Platz, auf welchem Ludwig XVI. durch sein Feuerwerk zu Ehren seiner Vermählung mit Marie Antoinette viertausend Menschenleben umbrachte, wofür die Revolution ihn selbst und seine Gattin auf diesem Platz hinrichten ließ. In den Elysäischen Feldern musizierten die Blinden und Lahmen, die Puppentheater eröffneten ihre Vorstellungen, die Ammen und Bonnen saßen bereits als dankbares Publikum in dem offenen Parterre und die Café chantants verkündeten den Beginn ihrer Saison. Die Promenade überfüllte sich und die Bukettieren boten überall ihre Veilchensträuße.

Auch von St. Germain rollten die Equipagen über die Brücke in die Elysäischen Felder; die Reiter kurbettierten dazwischen; alles wälzte sich hinaus in die Avenue, die damals noch de l'Impératrice hieß.

Es war einer der letzten Frühlinge des neuen Kaiserreichs, das mit kaltem Blut in einer Dezembernacht begann und in der Nachmittagsglut eines heißen Septembertages zerschmelzen sollte. Zwanzig Jahre hatten genügt, um die neue Aristokratie eines höhern Vagabundentums großzuziehen, die ersten Sprößlinge an die neuen Stammbäume zu setzen, und die Wappen der Equipagen sahen schon alt und ehrwürdig aus. Ewig jung indessen war jene andere Schöpfung des zweiten Empire geblieben, die Liederlichkeit, die freilich den Boden schon sorgfältig kultiviert vorfand, deren Schützerin und Pflegerin die luxuriöse Kaiserin und um deretwillen allenfalls die Söhne der in ihren Schlössern grollenden Legitimisten nach Paris kamen, um sich zugrunde richten zu lassen. Denn die »Bronze« der französischen Gesellschaft verblieb in den Provinzen, während in Paris alles nur Vergoldung ward.

Eine Equipage nach der andern rollt vom Arc de Triomphe in die breite Avenue; mit flatternden Gewändern jagt eine Kavalkade lustiger »Biches« zum Bois hinab. Der Hof selbst erscheint, um die Saison zu inaugurieren, und jetzt ist der Korso in seinem Flor. Wie eine große, glänzende, buntschillernde Schlange wälzt er sich zum See und um denselben. Die Schwäne rudern bereits auf der kleinen blauen Flut und kommen ans Ufer; zarte Hände werfen ihren weißen Schwestern mit den Schwanenhälsen süße Bissen zu; die Gondeln laden zur Fahrt ein, um den See herumreiten, die Ordnung schützend, die schnauzbärtigen Gesichter mit den hohen Bärenmützen, und die Kaskaden werfen ihre Silberfäden über das graue Gestein.

Alles lachte, alles jubelte im neuen Sonnenschein, die Toiletten leisteten das Unglaubliche, trotzdem alles von dem schnellen Hereinbrechen des Lenzes überrascht worden war. Paris war plötzlich aus seinem Wintertraum erwacht.

In der Mitte des glänzenden Zuges bewegte sich eine offene Equipage, deren Eleganz alle anderen schlug. Ein reich mit Gold bordierter Kutscher führte die beiden feurigen Rappen, ein Livreediener saß mit auf der Brust gekreuzten Armen neben ihm.

Man hätte die Equipage an dem Wappen der Montagues erkannt, auch wenn nicht Anatole auf seinem herrlichen Brandfuchs, dessen glänzender Schweif den Boden peitschte, neben derselben geritten wäre. Man begegnete und folgte der Equipage mit neugierigen oder gespannten Gesichtern; man flüsterte sich zu, wenn man an ihr vorüberkam; man warf Grüße hinüber und reckte die Hälse, um die Dame zu bewundern, die lächelnd, plaudernd ihr schönes Antlitz Anatole zugewendet hielt und der übrigen Gesellschaft nur flüchtige Aufmerksamkeit widmete.

Was man gestern überall mit so großem Interesse erzählt, bestätigte sich öffentlich schon heute. Montagues Antlitz strahlte vor Stolz und die Gräfin Sostaniew lächelte ihm vor aller Augen in so süßer Vertraulichkeit zu! Ohne Zweifel hatte Montague seiner Braut diese schöne, eben erst aus dem Atelier der Champs elysées gekommene Equipage zum Brautgeschenk gemacht.

Vergebens suchte man den jungen Herzog von Vermont. Man erzählte, er liege an seiner Wunde schwer danieder und büße die Kühnheit, die ihn verleitet, sich in das deklarierte Liebesverhältnis dieser beiden einmischen zu wollen.

Helene hatte sich eben in den Fond des Wagens zurückgelehnt; ihr Auge haftete an dem riesigen Veilchenbukett, das vor ihr im Wagen lag. Anatole hatte Zeit, die Grüße der an ihm vorüberkommenden Bekannten zu erwidern. Er dankte eben ziemlich gleichgültig dem eines Herrn, in welchem er Rostoff erkannte. Helene hatte diesen nicht bemerkt und Anatole hielt es nicht für der Mühe wert, sie auf ihn aufmerksam zu machen.

Eine vor dem Kiosk des Sees versammelte heitere Gesellschaft rief durch ihr Lachen Helene aus ihrer Schweigsamkeit. Sie fühlte sich dieser Schaustellung müde; sie hatte Anatoles Wunsch nachgegeben, sich heute öffentlich mit ihm der Gesellschaft zu zeigen, und wollte ihm eben den ihrigen aussprechen, sich der Promenade entziehen zu dürfen.

Ein zierliches, leichtes Gefährt, das im ganzen Zuge Sensation machte und auch Anatoles Auge auf sich zog, bewegte sich an ihnen vorüber. Hoch und in elegantester Haltung, in leichtem demi-habilé, den Zylinder auf dem Kopf, die glänzendsten Glacés an den Händen, lenkte vom Bock herab ein durch seine Schönheit auffallender junger Mann mit etwas gebräuntem Teint, großen dunklen Augen und schwarzem, gekräuseltem Schnurrbart zwei ins Gebiß schäumende, mutig ausgreifende Tiere. Als Folie diente ihm ein hinter ihm sitzender Diener in reicher Albanesentracht, mit schneeweißer Fustane, gelbledernen Beinschienen, einem weißen, über die rote Sammetjacke hängenden Schaffell, unter welchem der Türkensäbel hervorschaute, und einem hohen roten Fes auf dem bärtigen, braunen Gesicht.

Die Peitsche an den Zylinder legend, grüßte der junge Mann Anatole als flüchtige Bekanntschaft, würdigte auch die Dame im Wagen nur eines ebenso flüchtigen Blicks und fuhr vorüber, gefolgt von aller Augen, die in diesem Moment die Aufmerksamkeit für die schöne Witwe vollständig verloren.

»Der junge Grieche, der vor acht Tagen aufgetreten und bei den Damen enormes Furore macht«, sprach Anatole, nur halb zu Helene gewendet, da sein Pferd durch das bunte Arnautenkostüm etwas unruhig geworden. »Ich sah ihn im Klub um hohe Summen spielen; er muß ungeheures Vermögen besitzen, wenn er Verluste wie die erlittenen verschmerzen kann!«

Helene antwortete nicht. Anatole, noch bemüht, sein Pferd in ruhigen Schritt zurückzubringen, sah nicht, wie sie, blaß wie eine Leiche, sich halb abwendete und mit ihrer Robe beschäftigte. Sie beugte sich in den Wagen hinab, um das Blut ins Gesicht zurückzudrängen, und als sie sich wieder aufrichtete, gab sie sich die Miene, als sei sie unaufmerksam für den Gegenstand gewesen, von welchem Anatole gesprochen. Dieser blickte ihr erschreckt ins Antlitz.

»Helene, was ist dir?« rief er in höchster Besorgnis.

Sie bedurfte noch einiger Sekunden, um sprechen zu können.

»Du bemerkst nicht, Anatole, wie peinlich mir schon lange diese kritisierende Aufmerksamkeit ist, deren Gegenstand wir sind! Ich fühle mich ernstlich unwohl; ich war es schon, als ich meine Wohnung verließ! Willst du mich sehr verbinden, so laß uns nach Hause fahren! Da wir ja diese Gesellschaft doch auf längere Zeit verlassen, hat sie kein Interesse mehr für mich.«

»Wie du willst, Helene!« Anatole rief dem Kutscher den Befehl zu, am Ende des Sees die große Avenue einzuschlagen und nach Hause zu fahren. »Wir mußten dieses Opfer bringen, Helene,« setzte er hinzu, »und jetzt, da es geschehen ist ... Aber du bist ernstlich unwohl, du machst mich besorgt!«

»Es wird vorübergehen!« hauchte Helene und lehnte sich ermattet zurück. Schweigend ritt Anatole neben ihr her. Wohl stieg auch ihm ein kleiner Gedanke des Unmutes auf, der Gebrechlichkeit und Wandelbarkeit der Frauen gegenüber, die den Mann zum gehorsamen Spielball aller möglichen täglichen Zufälle und Anfälle macht; indes seine Neigung für Helene war eine so tiefe und aufrichtige, daß er sie in zärtlicher Besorgnis in die Stadt zurückbegleitete und erst vor ihrer Wohnung Abschied nahm mit dem Versprechen, noch am Abend sich persönlich von ihrem Wohlbefinden überzeugen zu wollen, während Helene schweigend ihm mit mattem, halb verschleiertem Auge die Hand reichte.

»Habe Mitleid«, sprach sie, ohne aufzuschauen. »Überlaß mich heute mir selbst, ich bitte dich! Wir sehen uns morgen!«

Anatole war's bei diesem Abschied seltsam ums Herz. Sie versagte ihm den Blick, den er suchte; kein Druck erwiderte den seinen, als sie sich trennten. Er hatte ein Gefühl, wie wenn sich etwas von ihm loslöste, was sein eigenstes Leben geworden.

Vergeblich Zerstreuung suchend, irrte er am Abend umher. In seinem Hotel litt es ihn nicht; es ward ihm immer deutlicher, daß Helenens sonderbares Benehmen beim Abschied Gründe haben müsse, die ihm unerfindlich waren. Spät am Abend betrat er den Klub. Man bestürmte ihn mit Gratulationen. An den Spieltischen galt es wieder hohe Summen. Das Hasard ist in den Klubs ausdrücklich verboten, nicht das Wetten, das schon Millionen verschlungen und die kostbarsten Inventare, Marställe und Kunstgalerien ins Hotel Drouot, unter den Hammer gebracht hat.

Der junge Grieche war auch heute der Matador. Er verlor große Summen und strich sich lächelnd den glänzenden Schnurrbart; er gewann und verzog keine Miene. Anatole, in einer nervösen Stimmung, die ihn nicht verlassen wollte, fand an nichts Interesse. Er suchte einen einsamen Winkel für seine ungeselligen Gedanken.

Während er sich kein Hehl daraus machte, daß es ihm eine Unmöglichkeit, ohne sie zu sein, hatte Helene ihm beim Abschied heut eine Miene gezeigt, die ihm bewies, daß, wenn sie ihn wirklich liebte, sie mehr Gewalt über diese Neigung besaß, als er über die seinige. Daß sie heiß, glühend empfinden konnte, hatte sie ihm ohne Rückhalt gezeigt. War ihre Kälte nur Laune, dafür war der Moment zu taktlos gewählt! Gerade einige Tage vor Ausführung ihres gemeinschaftlichen Vorhabens! Bereute sie das letztere, warum zeigte sie sich nicht aufrichtig? Sie selbst hatte ihn ja zu dieser Idee überredet.

Es litt ihn nicht an der einsamen Stätte. Er sprang auf und schritt zerstreut durch die Säle. Hier weckte ihn eine Hand, die sich auf seinen Arm legte.

»Herr von Rostoff!« rief er, diesen erkennend. Es war ihm, als habe dieser Mann ihm seine Hand auf das Herz gelegt, denn dasselbe pochte laut.

»Schon seit mehreren Tagen gehe ich mit der Absicht um, Ihnen meinen Besuch zu machen!« Rostoff legte dabei mit mehr Vertraulichkeit als Berechtigung seinen Arm leicht in den Anatoles. »Sagen Sie mir, haben Sie schon soupiert?«

»Nein«, war Anatoles zerstreute Antwort, obgleich er an nichts weniger gedacht hatte, als gerade hieran.

»Darf ich Sie einladen, so ein bißchen zur Feier unseres Wiedersehens, obgleich ich nicht zu berechnen wage, wie viel Ihnen daran gelegen sein mag?«

Rostoff sprach das in seinem gewohnten mokanten Ton. Anatole nahm die Einladung an, mehr in Gedankenlosigkeit als mit der Absicht zu soupieren, und beide saßen sich alsbald vertraulich gegenüber.

»Es gibt Leute, die ein für andere beleidigendes Glück haben«, sagte Rostoff, nachdem er versichert, daß der Aufenthalt in Palermo ihm gute Dienste getan. »Sie waren heut im Bois der Gegenstand des Neides; man folgte Ihnen mit dem allgemeinsten Interesse! Ja, ja, wer so viel Chance hätte wie Sie! Und wer hätte es denken können, als uns die schöne Sostaniew in Neapel so plötzlich verschwand! Ich hatte schon die mißtrauische Idee, daß zwischen Ihnen und ihr eine Verabredung bestehe, da auch Sie bald darauf abreisten.«

»Sie wußten, daß ich ihr damals gerade so fern stand wie Sie!« war Anatoles Antwort.

»Hm, Sie sagen es!« Rostoff machte eine seiner spöttischen Grimassen. »Ich war sehr überrascht, in den Pariser Zeitungen zu lesen, daß die schöne Komtesse sich hier in allen Salons bewundern lasse, während sie in Neapel sich in der Einsamkeit gefiel und für niemand zugänglich war. Ich kann Ihnen übrigens sagen, daß ihre frühere Begleiterin – Sie erinnern sich der älteren Frau in ihrer Begleitung – keineswegs gestorben, sondern, wie ich in der russischen Gesandtschaft hörte, des Umherreisens müde, nach Rußland zurückgekehrt ist.«

Anatole schien dies wenig zu interessieren; er zerkrümelte, vor sich hinblickend, das Brot in seiner Hand. Rostoff sprach von Helene in einem Ton, der verriet, daß er von dem intimen Zusammenhang zwischen ihm und ihr noch nicht ganz unterrichtet sei. Anatole sah inzwischen nicht, wie Rostoff, sein Glas an den Mund führend, mit halb geschlossenen Augen ihn listig beobachtete.

»Es soll,« fuhr er eintönig fort, »zwischen der Gräfin und jener Frau zu einem Zerwürfnis gekommen sein, dessen Ursache unbekannt. Junge Witwen haben natürlich ihre Launen, namentlich wenn sie so schön sind wie diese ... Aber Sie scheinen zerstreut, lieber Montague! Mein Thema interessiert Sie wider Erwarten nicht! Sprechen wir von etwas anderem!«

Anatole blickte aus seiner Zerstreuung auf.

»Sahen Sie den jungen Griechen auf der Promenade?« fragte Rostoff. »Die Weiber waren toll; er brachte Sie um einen guten Teil Ihres Furore, wenigstens ward es durch sein Erscheinen geteilt! Ein Mordskerl, dieser Cantopulos! Er spielte vorhin drüben um kolossale Summen und soll total ausgeleert das Feld geräumt haben, nachdem er sogar seine beiden Araber verspielt. Existenzen wie diese sind doch nur in Paris möglich!«

»Sie kennen ihn?« fragte Anatole, von unwillkürlichem Interesse erfaßt und Rostoff mit Spannung anschauend.

»Ob ich ihn kenne!« Rostoff füllte sein Glas wieder. Anatole bedeckte schroff ablehnend das seine mit der Hand.

»Erzählen Sie!«

»Ich fürchte, Ihnen unangenehm zu werden!«

»Mir?« rief Anatole lachend. »In welcher Beziehung stände ich zu diesem Menschen, den ich beim ersten Anblick für einen Abenteurer hielt! Sie wissen, welche Bedeutung für uns das Wort grec hat.«

»Ganz recht, und dieser macht keine Ausnahme! Ihre Hand darauf, daß Sie mir nicht zürnen, wenn ich erzähle!«

Anatole reichte ihm mechanisch, kalt lächelnd die Hand.

»Gedenken Sie Ihres Versprechens!« ... Rostoff sprach in eigentümlich warnendem Ton. »Also, dieser Cantopulos, der, nach seinem hiesigen Auftreten zu urteilen, Millionen besitzen muß, ist ein von blutarmen griechischen Eltern, die sich aber fanariotischer Abstammung rühmten, in Odessa geborener Mensch. Er ward als Knabe nach Petersburg gebracht und dort auf Kosten des Staats oder eines hohen Beamten erzogen, von dem man behauptete, er habe in Beziehung zu der schönen Mutter des Burschen gestanden. Gregor Cantopulos ward der Sekretär dieses hochgestellten Mannes. Er wohnte in demselben Hause, in welchem damals ein bildschönes Mädchen, die Komtesse Skawa, lebte, die vor nicht lange nach Petersburg gekommen. Schön, wie der Bursche war, unternehmend und hochstrebend, verliebte er sich in das Mädchen, und ... das Mädchen liebte ihn wieder.«

»Nun, und weiter?« Anatole starrte den Russen starr und befremdet an, als dieser eine absichtliche Pause machte.

»Die Liebschaft mochte wohl ein Jahr gedauert haben, denn Cantopulos war ohne Mittel zum Heiraten. Das Mädchen gab sich ihm mit einer Rückhaltlosigkeit und Unbefangenheit hin, welche die Nachbarschaft erstaunte. Da hieß es plötzlich, es habe ein reicher Aristokrat um die Hand der schönen und unbesonnenen Komtesse angehalten, und trotzdem sie dieselbe anfangs ausschlug, ward sie seine Gattin. Gregor Cantopulos verschwand aus Petersburg; man erzählte sich, er sei von dem Gatten der Komtesse ohne Kenntnis dieser früheren Beziehungen als Sekretär engagiert worden und lebe jetzt auch auf den Gütern des Grafen ... Sostaniew.«

Anatoles Hand umklammerte zitternd und krampfhaft das Messer, mit dem er eben zuhörend gespielt. Er starrte auf, als dieser Name an sein Ohr schlug; er durchbohrte den Erzähler mit stechendem Blick; seine Lippen zitterten unter einem Wort, das er, sich seines Versprechens erinnernd, nicht über dieselben brachte.

»Ich erzähle nur auf Ihren Wunsch, Herr von Montague,« fuhr Rostoff gleichgültig fort, »und bedaure aufrichtig, sollte ich mit meinen Worten eine Wunde in Ihrem Herzen berühren, deren Vorhandensein mir nur Ihre Miene jetzt eben verrät, denn wer vermutet eine solche bei Männern wie Sie! Ich verleumde nicht, mein Ehrenwort darauf! Wäre ich ein Verleumder, ich hätte Ihnen schon in Neapel erzählen können. Was ich jetzt eben spreche, betrifft ja nur den Gregor Cantopulos.«

»Und aus wessen Munde haben Sie das?« rief Anatole mit bleichem Antlitz und noch fortbebenden Lippen.

»Ich schonte die Gräfin in Neapel und erzählte Ihnen dort angeblich vom Hörensagen; heute muß ich Ihnen zu meiner Rechtfertigung hinzufügen, daß ich der Nachbar der Sostaniewschen Güter im südlichen Rußland bin und in der Zeit, von der ich spreche, in Petersburg lebte. Daß ich ehrlich und aufrichtig spreche, mag Ihnen das Geständnis beweisen, daß ich, der Gräfin in Neapel begegnend, allerdings versuchte, mich ihr zu nähern, vielleicht in etwas zu großer Vertraulichkeit auf unsere Nachbarschaft fußend, aber von ihr zurückgewiesen wurde. Man kann nicht offener sein, wie Sie sehen!«

Kalter Schweiß war auf Anatoles Stirn getreten; er stützte dieselbe in beide Hände. Rostoffs Ton, in welchem er Dinge erzählte, die sich wie ein Dolch in seinem Herzen herumdrehten, war von so überlegter, beherrschender, jeden Einwand niederschlagender Ruhe, daß Anatole das Haupt stützen mußte, das er vor ihm beugte.

»Nehmen Sie die Versicherung, daß ich es jetzt bereue, gesprochen zu haben«, fuhr Rostoff in gleicher Weise fort. »Mir lag nur daran, diesen Abenteurer zu demaskieren, und das konnte nicht ohne Erwähnung einer Person geschehen, die ...«

»Weiter! Weiter! Sagen Sie alles!« schrie Anatole plötzlich auf. »Sie sehen, ich bin ruhig, aber um es zu bleiben, muß ich alles wissen, alles! Es ist ja so gleichgültig, ob ein Todesurteil halb oder ganz gesprochen, wenn es doch vollzogen wird!«

Anatole war die Erinnerung an den heutigen Nachmittag zurückgekehrt. Trotz seiner mit wildem Herzschlag galoppierenden Gedanken ward ihm doch ein Moment klar: Helenens sonderbare Stimmung knüpfte sich an die Begegnung des Griechen; sie war vorher heiter, unbefangen gewesen. Er, ohne Ahnung, hatte nicht beobachten können, welchen Eindruck diese Begegnung auf sie gemacht, aber die Folgen hatte er empfunden. Und Helene, dieses wunderbare, unvergleichliche Weib, Helene, an der sein Herz mit allen Fasern hing, Helene, um deren Besitz ihn eine ganze Welt beneidete, sie war imstande gewesen ... Aber wiederum: war ihr Leben früher rein und makellos gewesen, wie sie es in Paris führte, warum diese unerklärliche Ungleichheit ihrer Stimmung, ihr oft so ganz seltsames, ungereimtes Wesen! ... Und warum sonst dieses Benehmen heute beim Abschied gegen ihn, der ihr seine ganze Existenz zu Füßen gelegt! ...

»Weiter! Ich beschwöre Sie!« knirschte er abermals, ohne zu Rostoff aufzuschauen. »Erzählen Sie alles! Alles!«

Rostoff schien kein Mitleid zu fühlen, wie gleißnerisch er auch seinen Ton zu färben wußte. Hämisch schielte er zu Anatole hinüber. Was diesen Mann zu Mitteilungen veranlaßte, die er früher in Neapel verschwiegen, war ersichtlich – der Neid, die Eifersucht. Mit derselben Schadenfreude holte er jetzt zum letzten Schlage aus.

»Sie haben recht, Herr von Montague, aber ich bin im Grunde zu Ende! Wie ich Ihnen schon früher sagte, starb der Graf Sostaniew nach kurzer Ehe im Duell. Ich bin weit entfernt zu glauben, daß während derselben zwischen Cantopulos und der jungen Gräfin ein tadelnswertes Verhältnis fortbestanden, obgleich man es vermutete. Nach dem Tode des Grafen verschwand der junge Grieche, und das sprach in aller Augen zugunsten der Gräfin; einige Zeit darauf mußte auch sie die Güter verlassen, die den Verwandten des Grafen zufielen, und da ihr der letztere eine ganz bedeutende Summe vermacht, ging sie auf Reisen, während die Behörden vergeblich dem Verwandten nachzuforschen suchten, der ihn im Zweikampf getötet haben sollte. Wahrscheinlich hat sich derselbe außer Landes geflüchtet. Sie begreifen jetzt mein Erstaunen, als ich Gregor Cantopulos, den ich später in Syrakus ganz herabgekommen in einer Garküche stehen sah, hier in der Rolle eines Grandseigneur begegnete, die er mit Meisterschaft zu spielen versteht!«

Minutenlang lauschte Anatole, vor sich hinblickend, als erwarte er, daß Rostoff von neuem beginnen werde. Dann plötzlich erhob er sich mit leichenblassem Antlitz und unsicherem, scheuem Auge.

»Ich danke Ihnen, mein Herr!« sprach er kaum verständlich mit einer halben Verbeugung und verließ das Gemach.

Ohne ihm nachzublicken, kalt vor sich hinlächelnd, griff Rostoff in die vor ihm stehende Fruchtschale, nahm eine Malagatraube heraus und pflückte eine Beere.

»Der ist noch nicht kuriert!« murmelte er vor sich hin. »Gregor Cantopulos, den Rest wirst du ihm geben! ...«


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