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Zweites Kapitel

Eine Stunde darauf saß Anatole Montague an seinem gewohnten Platz im Café Anglais, um sein Frühstück einzunehmen.

Die Habitués dieses Etablissements am Boulevard des Capucines in Paris sind immer reiche Leute oder arme Verschwender fremden Geldes, nämlich Schuldenmacher. Anatole ist Mitglied des Jockeyklubs, und zwar eines der illustresten, dessen Auftreten unter der lebenslustigen Jugend tonangebend. Er hat die kostbarsten Pferde, und seine Farben sind auf dem Turf geachtet. Er hat die vorzüglichsten Diener in glänzenden Lloreen und bewohnt ein reizendes kleines Hotel in der Nähe des Trocadero. In seinem ganzen »Train« ist der feinste Stil, sein Hotel ist nach dem tadellosesten Geschmack eingerichtet; seine Pferde fressen aus Krippen von demselben Marmor, aus welchem man Götter und Göttinnen schafft.

Leute, die ihn näher kennen, wissen sich keiner jener Roheiten an und in ihm zu erinnern, in welchen die Jugend des Jockeyklubs ihr Genüge sucht. Er ist Lebemann vom reinsten Ton, Genußmensch, jedoch mit edlem Takt in seinen Genüssen wählend; von äußerster Freigebigkeit, ohne Wert auf diese zu legen oder Dank dafür zu erwarten, verschwenderisch sogar, wo andere großmütig sind, und hat hierzu alle Ursache. Er ist dreifacher Erbe, nachdem er bereits das Vermögen seiner verstorbenen Eltern verzehrt, und unmöglich ist es selbst den Eingeweihten, die Zahl der Millionen zu berechnen, welche ihm die noch bevorstehenden Erbschaften bringen werden, nachdem er die erste derselben schon mit der sicheren Aussicht angetreten, mit ihr fertig zu werden. Ihn langweilt nur eins an diesen beiden letzten Erbschaften, daß er nämlich genötigt sein wird, um sie in wahrscheinlich naher Zeit zu erheben, nach Westindien zu reisen.

Der Überdruß im Genuß und das Übermaß, mit welchem ihn das Schicksal an irdischen Gütern gesegnet, hat in Anatoles von Natur mehr ernstem Charakter eine gewisse Gleichgültigkeit gegen beides hervorgebracht. Mit dreißig Jahren hat er alles durchgekostet, ohne an irgend etwas Geschmack zu finden, vielmehr den Geschmack für alles verloren, ohne blasiert zu sein. Er hat sein Hotel geschlossen, ist auf Reisen gegangen, und der Zufall ließ ihn auf dem Dampfer von Palermo nach Neapel einer wunderbar schönen, aber krankhaft bleichen Dame begegnen, die, am Seeübel leidend, nur am Abend nach Sonnenuntergang einmal ihre Kajüte verlassen zu haben schien, um Luft zu schöpfen, und dann wieder verschwand.

Sonderbarerweise dachte Anatole zum ersten Male seit diesem flüchtigen Begegnen ernstlich über ein Weib nach.

Bei der Ankunft in Neapel sagte ihm der Schiffsarzt, die schöne Dame sei, soviel er beim Embarkieren in Palermo gehört, eine Russin. Übrigens sei sie von der Seekrankheit so angegriffen, daß sie um die Erlaubnis gebeten habe, erst eine Stunde später das Schiff verlassen zu können.

Anatole debarkierte und bezog sein Hotel. Erst nach acht Tagen begegnete er der schönen Reisenden, die er bereits zu vergessen begann, auf Santa Lucia. Er sah sie wieder und wieder auf der Promenade zum Posilipp, die ihr Lieblingsausflug zu sein schien; aber sie war schöner noch, als sie ihm auf dem Dampfer erschienen, zum Niederknien schön, und ihr Antlitz hatte einen Reiz so eigentümlicher, unnachahmbarer Natur, ihre Haltung, ihr Auftreten hatten etwas so besonders Graziöses und doch Imponierendes, daß Anatole es für der Mühe wert hielt, sich nach ihrem Namen erkundigen zu lassen.

Komtesse Sostaniew hieß sie. Das wußten alle übrigen Elegants von Neapel viel früher als Anatole, dem sie nicht allein aufgefallen sein konnte. Sie sollte aus Rußland sein, wie schon der Name vermuten ließ.

Anatole begegnete ihr täglich, ohne daß sie mehr Notiz von ihm nahm als von den übrigen Bewunderern, denen die Stunde ihrer Promenade schnell geläufig geworden war. Er sah dieses tief ernste, vornehme Antlitz von leicht angehauchter Marmorfarbe, diese wunderbaren, geheimnistiefen, dunklen Augen, diesen aristokratisch geschlossenen schönen Mund, dieses Bewußtsein einer Königin, wenn sie in einfacher, aber kostbarer Toilette im Hotelwagen vorüberfuhr. Und wiederum sah er, wie dieses ernste, schöne Antlitz, wenn es mit der Begleiterin sprach, so verführerisch, so glücklich lächeln konnte – mit demselben Lächeln eines klugen Kindes freilich, das den Eindruck, die Wirkung desselben vollkommen kennt. Aber dieses Lächeln war hinreißend, es drang wie Sonnenschein in die Seele dessen, der es sah, und Anatole, wenn er ihr begegnete, wußte nicht, ob er wünschen solle, sie ernst oder lächelnd zu sehen, denn sie war immer unsagbar schön.

Als er in der dritten Woche im Theater San Carlo saß, verwünschte er den Zufall, der ihm eine Loge unter ihr, anstatt ihr gegenüber angewiesen. Er beobachtete sie im ersten Zwischenakt von drüben und beneidete einige junge Freunde, die das Glück hatten, von der gegenüberliegenden Loge aus die schönste der Frauen belorgnettieren zu können.

Da fiel ein Handschuh von der oberen Loge vor ihn, auf die Brüstung der seinigen, als gerade Manrico eine seiner schönsten Nummern sang. Anatole starrte den Handschuh bleich und bebend an. Nur ihr konnte er gehören; er war beschädigt, durch das Applaudieren vielleicht, denn man applaudiert in Neapel mit einer gewissen Frenesie. Anatole hatte gesehen, wie sie diesen reizenden Gegenstand im Zwischenakt von der Hand gezogen und auf die Brüstung gelegt.

Warf ihm sein bisheriges Lebensglück hier den Handschuh hin, so war es jedenfalls einer der zierlichsten, der nur ihrer Hand würdig. Der Akt ging zu Ende und Anatole war zu einem Entschluß gekommen. Er betrat die Loge der Fremden und brachte ihr mit einer verbindlichen Floskel den Handschuh.

Die Fremde wußte anfangs nicht, ob sie annehmen, dann nicht, ob sie danken solle. Sie tat beides mit ernster, aber artiger Miene und verabschiedete ihn kalt. Anatole hatte nichts gewonnen, als daß er in nächster Nähe sich überzeugt, um wie viel sie wirklich schöner, als sie ihm auf der Promenade erschienen, und daß er aus diesem Zufall das Recht herleiten könne, sie beim nächsten Begegnen zu grüßen, ohne für zudringlich gehalten zu werden.

Taumelnd erreichte er seine Loge wieder. Nach der Oper trieb es ihn in das Café di Europa. Er wählte eines der oberen Kabinette, ließ sich die Austern aus dem See von Fusaro servieren, mit denen einst Lukull seine Gäste bewirtet, leerte eine ganze Flasche Champagner, und der sonst gegen die Frauen so gleichgültig gewordene Mensch erhitzte seine Gedanken bis zu dem Grade, daß er sich vorstellte, die schöne Fremde sitze ihm gegenüber und er trinke aus dem Glase, dessen Rand ihre Lippen berührt.

Liebes- und champagnertrunken kehrte er an dem Abend in sein Hotel zurück. Er dachte die ganze Nacht an sie, und wie er seine Erinnerung auch hin und her kehrte, er mußte ohne Eitelkeit doch immer wieder darauf zurückkommen, daß sie ihn zwar sehr ernst und fast strafend in der Loge empfangen, daß sie ihn allerdings auch sehr kühl entlassen, daß sie aber doch keinen entschieden ungünstigen Eindruck von ihm empfangen.

Um dies festzustellen, bedurfte Anatole eine ganze Nacht! Am nächsten Morgen, als er über die Piazza schlenderte, begegnete ihm bei der Foresteria ein junger Mann, der, wie er, planlos durch die Welt lief, seit einiger Zeit aber seiner kranken Lunge wegen in Neapel leben mußte.

»Haben Sie über Ihren Tag nicht bestimmt, so lade ich Sie ein, mit mir nach Pompeji zu fahren!« Herr von Rostoff, ein junger Russe, sprach das mit nervöser Stimme, asthmatisch nach Luft schnappend.

Anatole bedurfte der Zerstreuung. Beide traten auf dem Toledo in eine Trattorie, um nach mäßigem Frühstück die Totenstadt zu besuchen.

Der Himmel hat sich leicht bedeckt; es lag ein mattes, schleierartiges Dämmerlicht über der dächerlosen Römerstadt, an deren zum Teil noch gut erhaltenen Mosaikböden die Sonne sonst ihre Kraft zu prüfen pflegt. Der drohende Regen mochte die Fremden in der Stadt zurückgehalten haben, an denen es in Pompeji niemals fehlt. Es war unheimlich still, wie beide in den engen und krummen Römerstraßen auf dem schmalen Bürgersteig dahinschritten und teilnahmvoll mit den Augen den Spuren folgten, welche die Gefährte der seit achtzehnhundert Jahren verschütteten Kampanier in dem Gestein der Straße zurückgelassen.

»Mir ist, als müßte uns jedesmal, wenn wir um eine dieser Straßenkrümmungen biegen, ein edler Römer in seiner Toga, zum Forum schreitend, begegnen und mich, mir einen guten Tag wünschend, mit meiner lateinischen Sprache in Verlegenheit bringen ... Ist Ihnen eine Papiros gefällig, Herr von Montague? ... Wie schade, daß die Römer den Genuß des Tabaks noch nicht kannten, wenigstens erzählt uns Plinius nichts davon!«

»Dafür tranken sie vermutlich ihre edlen Vesuvweine noch unverfälscht, während wir uns beim Eremiten oder drüben im Wirtshaus, wenn wir ermüdet zurückkehren, eine Flasche Lacrymä Christi oder einen Syrakuser vorsetzen lassen müssen, der selbst jenen berühmten Tyrannen zum Erbarmen gebracht haben würde.«

»Wie unendlich schöner war doch mein erster Besuch hier in Pompeji – Verzeihung, wenn ich ungalant gegen Ihre liebenswürdige Begleitung erscheinen sollte«, fuhr Herr von Rostoff fort. »Wir saßen in Neapel beim Diner, eine recht lustige Gesellschaft, und kamen auf die Idee, Pompeji zur Nachtzeit bei Fackelbeleuchtung sehen zu wollen. Die Fackeln waren schnell besorgt, ein paar Körbe Champagner in den Wagen gepackt. Drei reizende Frauen schlossen sich uns an; es stand uns also ein märchenhafter Genuß bevor. Es dunkelte bereits, als wir vor Pompeji anlangten. Die Nacht fiel schnell über uns herab. Der Posten – damals herrschten noch die Bourbonen – wies uns zurück und erklärte, der Eingang zur Totenstadt sei schon um Sonnenuntergang geschlossen ... Was beginnen? Der Kommandant war nicht mehr zu sprechen; er hatte mit den Hühnern sich schlafen gelegt, was ihm nicht zu verdenken, da die Toten keine unterhaltende Nachbarschaft sind. Da kam einer von uns auf die rettende Idee, dem Posten vorzustellen, ich, der ich der Längste der Gesellschaft war, sei ein fremder Prinzipe, die übrigen seien mein Gefolge. Da nun der Fürst, nämlich ich, erst am Mittag eingetroffen und am zweiten Tag schon vom heiligen Vater in Rom erwartet werde, so lasse er den Kommandanten höflichst um die Gunst des Eintritts ersuchen. Das wirkte. Ein Unteroffizier mußte die Schlüssel bringen und uns begleiten. Bei Fackelschein durchzogen wir die Straßen, traten wir überall zu den Penaten der längst zu Asche Gewordenen. Hier und da flog eine Eule aus den Spalten und Rissen der offenen Gebäude und erschreckte die Damen, die nicht anders glaubten, als es umflattere sie der aus seiner Ruhe gestörte Geist eines Pompejaners. – Es war wunderbar! Das Herrlichste aber war, als wir drüben in der Villa des Diomed zu rasten beschlossen. Der Champagner ward herbeigeschafft, die Korke flogen, die reizenden, frischen Lippen unserer Damen kredenzten uns den Sekt, und die eine ging sogar so weit, daß sie in klassischer Begeisterung und als Dank für eine von mir in furchtbarem Küchenlatein dem toten Gastfreund Diomedes gehaltene Rede mir diese Lippen zum Kuß bot – –«

Beide waren eben plaudernd durch die Vorhalle in das Atrium eines pompejanischen Edlen getreten. Anatoles Auge ruhte auf dem halbzerbröckelten Mosaik des Bodens. Rostoffs plötzliches Innehalten zog seine Aufmerksamkeit ab. Er folgte dem Blick seines Begleiters und sah zwei Damen in dunklen Gewändern den Bogengang daher auf das Atrium zuschreiten.

Während Rostoff dastand und die Damen überrascht, vielleicht auch ein wenig verlegen anstarrte – denn der helle Schall zwischen den Mauern mußte ihnen seine leichtfertigen Worte zugetragen haben – trat Anatole bescheiden zur Seite. Die jüngere und größere der beiden Damen zog eben den Schleier über ihr Gesicht, doch zu spät, um noch unerkannt vorüberschreiten zu können. Ihr dunkles Gewand rauschte über den Steinboden vor Anatole vorüber. Dieser zog in freudigem Erschrecken mit einer respektvollen Verbeugung den Hut.

Eine knapp höfliche Bewegung des Kopfes dankte ihm. Kein Blick traf ihn durch den Schleier; von der älteren Dame gefolgt, rauschte die überraschende Erscheinung in die Vorhalle und verschwand.

Rostoff starrte Anatole fragend an.

»Donnerwetter, das war ja meine schöne, unnahbare Landsmännin!« flüsterte er, als die Damen schon die Straße erreicht haben mochten.

Anatole stand noch in sprachloser Überraschung da, den Blick ihnen nachgewendet. Sein Herz pochte so laut, daß er darüber Rostoffs Worte kaum verstand.

»Und Sie kennen sie, während sie von uns Russen, ihren Landsleuten, nichts wissen will?«

»Wenn hier in diesem Atrium die einstige Herrin des Hauses leibhaftig, von ihren Sklavinnen umgeben, erschienen wäre, ich hätte nicht mehr ...«

»Aber Sie kennen sie!« unterbrach Rostoff seinen Freund. »Wie kommen Sie dazu? Beantworten Sie doch meine Frage!« Dabei legte er dringlich die Hand auf Anatoles Schulter.

»Durch einen Zufall! ... Lassen Sie uns gehen!«

Anatole kam erst jetzt zu dem klaren Bewußtsein, daß ihm nichts erwünschter sein könne, als den Damen zu folgen, und zog seinen Freund mit sich fort. Mit zerfahrenem Blick schaute er nach beiden Richtungen der Straße; er eilte nach rechts, schaute um die Krümmung der engen Gasse – Rostoff atemlos hinter ihm – er rannte nach links und tat dasselbe – Rostoff wieder hinter ihm. Dann lief er aufs Geratewohl diesem voraus, aber von den Damen war keine Spur.

»Aber sie war's doch! Sie war's! Ich erkannte sie!« rief Anatole vor sich hin, während Rostoff sich auf dem schmalen Trottoir an seine Fersen heftete.

»Allerdings war sie's – die schöne Sostaniew!« rief er aus. »Ich hätte sie durch zehn Schleier erkennen wollen!«

»Sie kann doch nicht in den Himmel gefahren, nicht in die Erde gesunken sein!«

»Auch sehe ich keinen Aschenregen, der sie plötzlich hätte verschütten können, wie das hier bekanntlich schon früher passiert ist!« bestätigte Rostoff, mit der Nase in der Luft, indem er keuchend folgte.

Vergeblich war alles Suchen. Offenbar mußten die beiden Damen, die sich mit Zurücklassung des Fahrers in das Labyrinth der Totenstadt gewagt, furchtsam in einem der Häuser Schutz gesucht haben. Ihre Spur war verwischt, und mutlos hielten die beiden Herren auf dem Forum inne, um sich hier gegenseitig zu versichern, daß sie keine Gespenster gesehen.

»Welch eine herrliche Gelegenheit wär's gewesen, mich ihr hier durch Sie vorstellen zu lassen, lieber Montague!« rief Rostoff in etwas sarkastischem Ton, sich auf einer umgestürzten Säule niederlassend. »Wie wär's, wenn wir uns an den Ausgang postierten, wo wir jedenfalls ihren Wagen finden werden?«

»Unmöglich! Ich wünsche das Glück, ihr flüchtig bekannt geworden zu sein, nicht durch eine Taktlosigkeit zu verscherzen!«

»Hm! Sie scheint verdammt stachelig zu sein; es kann ihr hier niemand nahekommen. Übrigens dürfen Sie sich nicht rühmen, lieber Montague, daß sie von Ihnen vorhin viel Notiz genommen hätte«, setzte er boshaft hinzu, wieder mit demselben Lächeln.

»Das beweist Ihnen, wie flüchtig eben unsere Bekanntschaft ist! Bei ruhiger Überlegung wär's mir wirklich unangenehm, wenn sie ahnte, daß wir sie verfolgt haben.«

»Bah! Nicht so schüchtern! Ein Weib, das sich mit so provozierender Schönheit allein auf Reisen wagt, muß dergleichen schon gewohnt sein!«

Rostoff zündete sich abermals eine Papiros an und blies den Rauch in dichten Wolken vor sich hin.

»Sie sehen ganz blaß aus, lieber Freund!« fuhr er fort. »Es scheint mir, daß der Eindruck, den dieses schöne Weib auf Sie gemacht, nicht so flüchtig ist wie die Bekanntschaft! Hüten Sie sich! Sie kennen meine Landsmänninnen nicht!«

»Wieso?« Montague fragte tonlos, zerstreut, während er die Spitze seines Stockes in den Schutt zu seinen Füßen bohrte.

»Nun, sie sind unzuverlässig, weniger leidenschaftlich als genußsüchtig, vorurteilslos in Übung ihrer Pflichten und anspruchsvoll in Wahrnehmung ihrer Rechte ... Aber freilich, mir fällt da eben ein, was der Fürst Pavarin von ihr erzählte, der ganz toll in sie verliebt ist und, ein junger Roué von der bei den Frauen glücklichsten Sorte, ihrem spröden Herzen den Tod geschworen hat.«

Anatole lauschte mit minder heftig pochendem Herzen. Er hielt, vor sich niederblickend, den Atem an, um keines von Rostoffs Worten zu verlieren.

»Und was erzählte er?« Rostoff ließ so lange warten, daß Anatole die Frage entfuhr.

»Nun, sie ist gar keine geborene Russin, vielmehr die Tochter eines galizischen Edelmanns.«

»Also tun Sie ihr unrecht, denn ihr so streng zurückhaltendes Benehmen deutet auf keine der Eigenschaften, die Sie Ihren Landsmänninnen soeben nachsagten.«

Rostoff machte eine Grimasse vor sich hin.

»Ihr Vater soll durch seine ausschweifende Lebensweise so total verarmt gewesen sein, daß bei seinem Tode ihm kein Halm auf seinen Äckern mehr gehörte. Die Tochter kam zu einer Verwandten nach Petersburg, ebenfalls blutarm, da das Gericht selbst auf ihre Garderobe Beschlag gelegt hatte. Man sagt, sie habe in Petersburg Furore gemacht, obgleich sie dort in beschränkten Verhältnissen lebte. Ein Jahr darauf schloß sie eine Konvenienzheirat mit dem Grafen Sostaniew, einem Mann von fünfundfünfzig Jahren, aber noch ein Riese von Gestalt. Der nahm sie zum Verdruß ihrer Verehrer mit sich auf seine Güter und ließ alle die Bewunderer, welchen die Schönheit des Mädchens nicht verborgen geblieben, mit langer Nase an der Newa zurück.«

»Und dieser Graf?« Anatoles Stimme verriet eine Ungeduld, so daß der Erzähler ihn groß anblickte.

»Nun, mein Gott, der Graf Sostaniew ist – gestorben, kaum ein Jahr nach der Heirat, in einem Duell, wie man in der Zeitung las.«

Rostoff grub, inzwischen vor sich niederblickend, Figuren in den Sand.

»Um ... ihretwillen?«

» Pas précisement ... wenigstens hat man nichts davon gehört! Soviel man sich erinnert, hat er einen Streit mit einem entfernten Verwandten gehabt, der ihn auf seinen Gütern mit Ansprüchen auf eine große Summe überfiel, um die er bei einer Erbschaft zu kurz gekommen sein wollte. Beide sollen hart aneinandergekommen sein und sich ohne Zeugen geschossen haben. Graf Sostaniew blieb tot am Platz. Seiner schönen Gattin hatte er für seinen Todesfall schon in den Ehepakten ein großes, bares Vermögen ausgesetzt, das ihr gestattete, Rußland zu verlassen und nun schon seit mehreren Jahren ihren Schmerz auf Reisen zu zerstreuen. Das ist alles, was man weiß.«

»Und was doch entschieden nur zu ihren Gunsten spricht.«

»Nun ja, meinetwegen!« war Rostoffs schmunzelnde Antwort. »Der junge Fürst wollte jedoch von einer Liebschaft wissen, die sie in Petersburg mit einem Menschen gehabt, der nicht gerade comme il faut, und welcher sie zugunsten einer so glänzenden Partie entsagt habe.«

»Kennen Sie, lieber Freund, eine schöne Frau, der man nicht irgend was Nachteiliges anzuheften bemüht wäre?«

»Sehr richtig! Ein schönes Weib ist eine Herausforderung für ihr ganzes Geschlecht, eine Beleidigung für alle Männer, denen sie nicht gehören kann ... Ich bedaure dich, armer Montague«, setzte Rostoff für sich hinzu, als ihm ein Seitenblick auf den Nachbarn die tiefe Erregtheit desselben verraten. »Und dennoch würde ich dein größter Neider sein, wenn es dir gelänge!«

Wieder grub er, vornübergebeugt, im Sande.

Eine Pause trat ein. Anatole erhob sich aus seiner gebeugten Haltung und warf verstohlen forschende Blicke umher. Rostoff beobachtete heimlich seine Unruhe.

»Sie wünschen, daß wir aufbrechen? Ich lade Sie zu einem kleinen Diner drüben im Gasthause ein, so gut wir es eben werden haben können ... Vielleicht,« setzte Rostoff listig hinzu, »haben wir von der Terrasse aus das Glück, unsere Schöne vorüberfahren zu sehen, und das wird sie uns schließlich nicht so übel anrechnen dürfen.«

Rostoff traf Anatoles Gedanken, und doch fand dieser im Ausgange der Totenstadt weder den dort gesuchten Wagen, noch hatte er das ihm von seinem Begleiter in Aussicht gestellte Glück, die Gräfin vorüberfahren zu sehen. Zerstreut und mißgestimmt langte er gegen Abend wieder in seinem Hotel an.


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