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Zwanzigstes Kapitel

Die schöne Saint-Yves stirbt, und was sich darauf ereignet

Man rief einen andern Arzt. Dieser war, anstatt der Natur zu helfen und sie in dem jungen Körper, in dem alle Organe nach Leben riefen, wirken zu lassen, einzig damit beschäftigt, seinem Kollegen entgegenzuarbeiten. In zwei Tagen wurde die Krankheit tödlich. Das Gehirn, das man für den Sitz des Verstandes hält, wurde ebenso heftig ergriffen wie das Herz, das, wie man sagt, der Sitz der Leidenschaften ist.

Welche unfaßliche Mechanik hat die Organe dem Gefühl und dem Denken unterworfen? Wie kann ein einziger schmerzlicher Gedanke den Lauf des Blutes stören? Und wie trägt das Blut wiederum seine Unregelmäßigkeiten in den menschlichen Verstand? Welches ist das unbekannte Fluidum, dessen Dasein gewiß ist, das, schneller und lebhafter als das Licht, in einem Augenblinzeln und rascher noch in alle Kanäle des Lebens springt, Sinneseindrücke, Gedächtnis, Traurigkeit, Freude, Verstand oder Irrtum erzeugt? Es hat – zu unserem Entsetzen – die Kraft, an das zu erinnern, was man vergessen möchte, und aus einem denkenden Tier ein Objekt der Bewunderung oder eines des Mitleids und der Tränen zu machen.

Dies sagte der gute Gordon; und dieser natürliche Gedanke, den die Menschen selten durchdenken, nahm nichts von seinem zärtlichen Interesse: denn er gehörte nicht zu jenen unglücklichen Philosophen, die sich zwingen, unempfindlich zu sein. Er war ergriffen von dem Schicksal dieses jungen Mädchens wie ein Vater, der sein geliebtes Kind langsam sterben sieht. Der Abt von Saint-Yves war verzweifelt, der Prior und seine Schwester vergossen Ströme von Tränen. Doch wer könnte den Zustand ihres Geliebten malen? Keine Sprache hat Worte, die sich decken mit diesem Übermaß von Schmerz; die Sprachen sind zu unvollkommen.

Die Tante, die fast leblos war, hielt den Kopf der Sterbenden in ihren schwachen Armen; ihr Bruder kniete am Fuße des Bettes; ihr Geliebter drückte ihre Hand, die er mit Tränen badete, und brach in Schluchzen aus: er nannte sie seine Wohltäterin, seine Hoffnung, sein Leben, die Hälfte seines Selbst, seine Geliebte, seine Gattin. Bei dem Wort »Gattin« seufzte sie, sah ihn mit unaussprechlicher Liebe an und stieß plötzlich einen Schreckensschrei aus; dann rief sie in einem jener Intervalle, da der Druck und die Last der Sinne sowie die aussetzenden Leiden der Seele Freiheit und Kraft lassen: »Ich, Ihre Gattin! Ach! mein Geliebter, dieser Name, dieses Glück, dieser Preis sind für mich nicht mehr gemacht; ich sterbe und ich verdiene es. O Gott meines Herzens! O du, den ich höllischen Dämonen geopfert habe, es ist vollbracht, ich bin gestraft, lebe glücklich.« Diese zärtlichen und furchtbaren Worte konnten nicht verstanden werden; aber sie trugen in alle Herzen Schreck und Rührung; sie hatte den Mut, sich zu erklären. Jedes Wort ließ alle Anwesenden erbeben vor Staunen, Schmerz und Mitleid. Alle waren einig im Abscheu gegen den mächtigen Mann, der eine furchtbare Justiz nur durch ein Verbrechen ausgeglichen und die ehrsamste Unschuld gezwungen hatte, seine Mitschuldige zu werden.

»Wie? Sie schuldig?« sagte ihr Geliebter; »nein, Sie sind es nicht; das Verbrechen lebt nur im Herzen – Ihr Herz aber gehört der Tugend und mir.«

Er beteuerte dies Gefühl mit Worten, die Leben in die schöne Saint-Yves zurückzubringen schienen. Sie fühlte sich getröstet und war erstaunt, noch geliebt zu werden. Der alte Gordon hätte sie verdammt in der Zeit, da er nur Jansenist war; da er aber weise geworden war, achtete er sie und weinte.

Mitten in das Jammern und die Befürchtungen, während die Gefahr, in der dieses teure Mädchen schwebte, alle Herzen erfüllte und alle bedrückte, wird ein Kurier vom Hofe gemeldet. Ein Kurier? Von wem? Warum? Er kam von dem Beichtvater des Königs für den Prior vom Berge; aber nicht der Pater de la Chaise selber schrieb, sondern der Frater Vadbled, sein Kammerdiener, ein zu jener Zeit äußerst wichtiger Mann, der den Erzbischöfen den Willen des hochwürdigen Paters übermittelte, Audienzen erteilte, Pfründen versprach und manchmal Haftbefehle übersandte. Er schrieb dem Abt vom Berge, daß Seine Hochwürden von den Abenteuern seines Neffen unterrichtet seien, daß seine Gefangennahme nur ein Mißverständnis gewesen, daß solche kleinen Zufälle öfters vorkämen, daß man sie nicht beachten solle; endlich, daß es erwünscht sei, wenn der Prior am nächsten Tage seinen Neffen vorstelle. Er möge auch den guten Gordon mitbringen. Er selber, der Frater Vadbled, werde sie darum bei Seiner Hochwürden und bei Herrn von Louvois einführen, der in seinem Vorzimmer ihnen ein Wort sagen würde.

Er fügte hinzu, daß man dem König die Geschichte des Harmlosen und seinen Kampf gegen die Engländer erzählt habe, daß der König sicher geruhen würde, von ihm Notiz zu nehmen, wenn er durch die Galerie ginge, vielleicht ihm sogar einen Gruß zunicken werde. Der Brief schloß – um ihm zu schmeicheln – mit der Versicherung, daß alle Damen des Hofes sich beeilen würden, seinen Neffen zu empfangen und ihn mit den Worten: »Guten Tag, Herr Harmlos« zu begrüßen. Beim Souper des Königs werde man gewiß auch von ihm sprechen. Der Brief war unterschrieben: »Ihr wohlgeneigter Vadbled, Jesuitenfrater.«

Nachdem der Prior den Brief sehr laut gelesen hatte, wurde sein Neffe wütend; aber er beherrschte seinen Zorn einen Augenblick und sagte nichts zu dem Boten. Nur an den Gefährten seines Unglücks wandte er sich und fragte ihn, was er von diesem Stil denke. Gordon antwortete: »Man behandelt die Menschen wie Affen! Man schlägt sie und läßt sie dann tanzen.« Nun überließ sich der Harmlose ganz seinem Charakter, der in großen Erregungen der Seele immer zurückkehrt. Er zerriß den Brief in Stücke und warf sie dem Boten ins Gesicht: »Da habt Ihr meine Antwort.« Sein Onkel, der erschrak, glaubte den Blitz und zwanzig Verhaftbefehle auf ihn fallen zu sehen. Er schrieb sofort und entschuldigte, so gut er konnte, das, was er die Unbesonnenheit eines jungen Mannes nannte und was das Aufbrausen einer großen Seele war.

Aber schmerzlichere Sorgen bemächtigten sich aller Herzen. Die schöne, unglückliche Saint-Yves fühlte schon ihr Ende herannahen; Ruhe war in ihr, aber jene schreckliche Ruhe der erschöpften Natur, die nicht mehr die Kraft zu kämpfen hat. »Oh, mein teurer Geliebter,« sagte sie mit sinkender Stimme, »der Tod straft mich für meine Schwäche; aber ich sterbe mit dem Trost, Sie frei zu wissen. Ich habe Sie geliebt, während ich Sie verriet, und ich liebe Sie, während ich Ihnen auf ewig Lebewohl sage.«

Sie prunkte nicht mit eitler Festigkeit; sie begriff nicht diesen elenden Ruhm, einige Nachbarn sagen zu lassen: Sie ist mutig gestorben. Wer kann mit zwanzig Jahren seinen Geliebten, sein Leben und das, was man »Ehre« nennt, aufgeben ohne Verzweiflung und äußersten Schmerz? Sie fühlte das ganze Grauen ihres Zustandes und ließ es fühlen durch jene Worte und sterbenden Blicke, die mit so großer Gewalt sprechen. Sie weinte mit den anderen in den Augenblicken, da sie die Kraft zum Weinen hatte.

Andere mögen das prahlerische Sterben jener rühmen, die unempfindlich in die Zerstörung gehen; es ist dies das Los aller Tiere. Wir sterben gleichgültig wie sie nur, wenn Alter und Krankheit uns ihnen gleichmachen durch das Stumpfwerden der Organe. Wer einen großen Verlust erleidet, hat großen Schmerz. Zeigt er ihn nicht, kommt es daher, daß er seine Eitelkeit bis in die Arme des Todes trägt.

Als der verhängnisvolle Augenblick nahte, brachen die Anwesenden in laute Klagen aus. Der Harmlose verlor die Besinnung. Starke Seelen haben, wenn sie lieben, heftigere Empfindungen als andere. Der gute Gordon kannte ihn genügend, um nicht zu fürchten, daß er den Tod suchen würde, wenn er ins Bewußtsein zurückkehre. Man versteckte alle Waffen; der unglückliche junge Mann bemerkte es. Er sagte zu seinen Verwandten und zu Gordon, ohne zu weinen, zu seufzen oder sich zu bewegen: »Glauben Sie denn, daß es irgend jemanden auf der Erde gibt, der das Recht und die Macht hat, mich zu verhindern, mir das Leben zu nehmen?« Gordon hütete sich wohl, jene faden Gemeinplätze vor ihm auszubreiten, mit denen man zu beweisen versucht, daß man seine Freiheit nicht dazu benützen dürfe, das Sein aufzuheben, wenn man unglücklich ist; daß man sein Haus nicht verlassen dürfe, wenn man nicht mehr darin wohnen könne; daß der Mensch auf der Erde sei wie ein Soldat auf dem Posten. Wie wenn es dem Wesen aller Wesen darauf ankäme, ob die Ansammlung einiger Materienteilchen an diesem oder jenem Orte sei. Dies alles sind ohnmächtige Gründe, die ein verzweifelter, in sich fester Wille zu hören verschmäht, und auf die Cato nur mit einem Dolchstoß antwortete.

Das düstere und schreckliche Schweigen des Harmlosen, seine verdunkelten Augen, seine zitternden Lippen, das Beben seines Körpers, alles brachte in die Seelen der Betrachter jene Mischung von Mitleid und Schrecken, die alle Kräfte der Seele fesselt, jede Erörterung ausschließt und sich nur in abgebrochenen Worten äußert. Die Wirtin und ihre Familie waren herbeigeeilt; man bebte vor seiner Verzweiflung, man behielt ihn im Auge, man beobachtete alle seine Bewegungen. Schon war der erkaltende Körper der schönen Saint-Yves in einen unteren Saal gebracht worden, aus den Augen ihres Geliebten, der sie noch zu suchen schien, obgleich er nicht mehr imstande war, irgend etwas zu sehen.

Mitten in diesem Schauspiel des Todes, während der Leichnam an der Türe des Hauses ausgestellt ist, während zwei Priester mit zerstreuter Miene ihre Gebete neben einem Weihwasserbecken murmeln, Vorübergehende nachlässig einige Tropfen Weihwasser auf die Bahre sprengen und andere gleichgültig weitergehen, während die Verwandten weinen und ein Liebender bereit ist, sich das Leben zu nehmen, kommt Saint-Pouange mit der Freundin aus Versailles.

Aus seiner nur einmal befriedigten Begierde war Liebe geworden. Die Zurückweisung seiner Wohltaten hatte ihn gekränkt. Der Pater de la Chaise würde nie daran gedacht haben, in dieses Haus zu kommen; aber Saint-Pouange hatte das Bild der schönen Saint-Yves täglich vor Augen; er brannte darauf, eine Leidenschaft zu stillen, die durch einen einmaligen Genuß den Stachel des Wunsches in sein Herz getrieben hatte. So schwankte er nicht, diejenige selbst aufzusuchen, die er wahrscheinlich nicht dreimal hätte wiedersehen wollen, wenn sie von selbst gekommen wäre.

Er steigt aus der Karosse; das erste, was er erblickt, ist eine Bahre. Er wendet den Blick weg mit der Abneigung eines Mannes, der in Vergnügungen lebt und denkt, man müsse ihm jedes Schauspiel ersparen, das ihn zur Betrachtung menschlichen Elendes bringen könne. Er will hinaufgehen. Die Frau aus Versailles fragt aus Neugier, wer hier begraben werden solle. Man nennt den Namen des Fräuleins von Saint-Yves. Bei diesem Namen erbleicht sie und schreit laut auf. Saint-Pouange dreht sich um. Überraschung und Schmerz erfüllen seine Seele. Der gute Gordon war da, die Augen von Tränen überflutet. Er unterbrach seine traurigen Gebete, um dem Hofmanne von der entsetzlichen Katastrophe zu erzählen. Er spricht zu ihm mit der Gewalt, die Schmerz und Tugend verleihen. Saint-Pouange war von Natur nicht schlecht. Der Strom der Geschäfte und der Vergnügungen hatte seine Seele davongetragen, die sich selbst noch nicht kannte. Er war noch nicht in der Nähe des Alters, das gewöhnlich das Herz der Minister verhärtet. Er hörte Gordon mit niedergeschlagenen Augen zu und trocknete einige Tränen, über die er selber erstaunt war: er lernte die Reue kennen.

»Ich will«, sagte er, »unbedingt jenen außergewöhnlichen Menschen sehen, von dem Sie sprechen; er rührt mich fast ebenso wie dieses unschuldige Opfer, dessen Tod ich verursacht habe.« Gordon folgte ihm bis in das Zimmer, wo der Prior, die Kerkabon, der Abt von Saint-Yves und einige Nachbarn den jungen Mann, der wieder in Ohnmacht gefallen war, ins Leben zurückriefen.

»Ich habe Ihr Unglück verursacht,« sagte der Unterminister, »ich werde mein Leben dazu verwenden, es gutzumachen.« Der erste Gedanke, der dem Harmlosen kam, war, ihn und sich selber zu töten. Nichts wäre verständlicher gewesen. Aber er war ohne Waffen und wurde genau bewacht. Saint-Pouange ließ sich nicht zurückschrecken durch die Vorwürfe, die Verachtung und den verdienten Abscheu, die die Fortweisung begleiteten. Die Zeit mildert alles. Herrn von Louvois gelang es schließlich, aus dem Harmlosen einen ausgezeichneten Offizier zu machen, der später mit dem Beifall aller braven Bürger unter anderem Namen in Paris und der Armee aufgetaucht ist: Krieger und unentwegter Philosoph zugleich.

Nie sprach er von diesem Abenteuer, ohne zu seufzen; und doch war es sein Trost, davon zusprechen. Er hielt das Andenken der zärtlichen Saint-Yves bis zum letzten Augenblick seines Lebens in Ehren. Der Abt von Saint-Yves und der Prior bekamen jeder eine gute Pfründe; die gute Kerkabon sah ihren Neffen lieber in militärischen Würden als im Unterdiakonat. Die Fromme von Versailles behielt die Diamantohrgehänge und bekam noch ein schönes Geschenk dazu. Der Pater Tout-à-tous erhielt Schachteln mit Schokolade, Kaffee, Kandis, eingezuckerten Zitronen, mit den »Betrachtungen« des hochwürdigen Paters Croiset und den »Blumen der Heiligen« – in Maroquin gebunden. Der gute Gordon lebte mit dem Harmlosen bis zu seinem Tode in vertrautester Freundschaft; er bekam ebenfalls eine Pfründe und vergaß für immer die »wirksame Gnade« und die »mitwirkende Hilfe«. Er nahm den Wahlspruch an: »Zu irgend etwas ist Unglück immer gut.« Wie viele guten Leute in der Welt könnten jedoch eher sagen: »Unglück ist zu nichts gut.«


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