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Dreizehntes Kapitel

Die schöne Saint-Yves geht nach Versailles

Während unser Unglücklicher mehr zu Bildung als zu Trost gelangte, während sein so lange unterdrückter Geist sich mit Kraft und Schnelligkeit entfaltete, während die Natur sich in ihm vervollkommnete und ihn für die Unbill des Schicksals entschädigte – was wurde inzwischen aus dem Herrn Prior und seiner guten Schwester, was aus der schönen Klosterschwester Saint-Yves? Im ersten Monat war man unruhig; im dritten in tiefen Schmerz versunken: falsche Vermutungen, unsichere Gerüchte beunruhigten sie; nach sechs Monaten hielt man ihn für tot. Endlich erfuhren Herr und Fräulein von Kerkabon aus einem Brief, den ein Leibgardist in die Bretagne geschrieben hatte, daß ein junger Mann, der dem Harmlosen glich, eines Abends in Versailles angekommen war, daß er jedoch in der Nacht weggeführt worden sei und seitdem niemand mehr etwas von ihm gehört habe.

»Ach!« sagte Fräulein von Kerkabon, »unser Neffe wird irgendeine Dummheit begangen und sich schlimme Geschichten zugezogen haben. Er ist jung, er ist Niederbretone, er weiß nicht, wie man sich bei Hofe benimmt. Mein lieber Bruder, ich habe niemals weder Versailles noch Paris gesehen; hier ist eine schöne Gelegenheit, wir werden vielleicht unsern armen Neffen wiederfinden: er ist der Sohn unseres Bruders; unsere Pflicht ist es, ihm zu helfen. Wer weiß, ob wir es schließlich nicht doch fertigbringen, ihn zum Unterdiakon zu machen, wenn erst das Ungestüm der Jugend gedämpft sein wird? Er hatte viel Anlage zur Wissenschaft. Erinnerst du dich, wie er über das Alte und Neue Testament urteilte? Wir sind für seine Seele verantwortlich; wir haben ihn taufen lassen; seine geliebte Braut Saint-Yves verbringt die Tage mit Weinen. In der Tat, wir müssen nach Paris gehen. Wenn er in einem dieser furchtbaren Freudenhäuser, von denen man mir so viel erzählt hat, verborgen ist, werden wir ihn herausholen.« Den Prior rührten die Reden seiner Schwester. Er ging zum Bischof von Saint-Malo, der den Huronen getauft hatte, und bat ihn um Hilfe und Rat. Der Prälat billigte die Reise. Er gab dem Prior Empfehlungsbriefe an den Pater de la Chaise, den Beichtvater des Königs, der die erste Würde des Reiches bekleidete, an den Erzbischof von Paris, Harlay, und schließlich an den Bischof von Meaux, Bossuet.

Endlich reisten Bruder und Schwester ab; als sie in Paris angekommen waren, fühlten sie sich verirrt wie in einem weiten Labyrinth ohne Faden und Ausgang. Ihr Reisegeld war mäßig; dabei brauchten sie alle Tage Wagen, um auf die Entdeckungsreise zu gehen; sie entdeckten nichts.

Der Prior meldete sich beim Pater de la Chaise, der eine Zusammenkunft mit Fräulein du Tron hatte und keine Priore empfangen konnte. Er ging zur Tür des Bischofs. Der Prälat hatte sich mit der schönen Frau von Lesdignières in kirchlichen Angelegenheiten eingeschlossen. Er lief nach dem Landhaus des Bischofs von Meaux: dieser prüfte eben mit Fräulein von Mauléon zusammen die »Mystische Liebe« der Frau Guyon. Dennoch gelang es ihm, diese beiden Prälaten zu sprechen. Beide erklärten ihm, daß sie sich nicht in die Angelegenheit seines Neffen mischen könnten, da er ja kein Unterdiakon sei. Endlich ward er auch bei dem Jesuiten vorgelassen. Dieser empfing ihn mit offenen Armen, versicherte ihm, er habe stets besondere Hochachtung für ihn gefühlt, obgleich er ihn nie gekannt hatte. Er beteuerte, die Gesellschaft Jesu sei den Niederbretonen immer besonders gewogen gewesen. »Aber«, sagte er, »hatte Ihr Neffe nicht das Unglück, Hugenotte zu sein?« – »Nein, gewiß nicht, hochwürdiger Vater.« – »Auch nicht Jansenist?« – »Ich kann Euer Hochwürden versichern, daß er kaum Christ ist: es ist noch nicht elf Monate, seit wir ihn getauft haben.« – »Das ist gut, sehr gut sogar; wir werden uns seiner annehmen. Wie steht es um Ihre Pfründe?« – »Oh, sie bringt sehr wenig ein und mein Neffe kostet uns viel.« – »Sind etwa Jansenisten in Ihrer Nachbarschaft? Nehmen Sie sich in acht, mein lieber Prior, sie sind gefährlicher als Hugenotten und Atheisten.« – »Mein hochwürdiger Vater, wir haben keine; man weiß im Kloster unserer lieben Frau vom Berge nicht einmal, was der Jansenismus ist.« – »Um so besser; beruhigen Sie sich, ich werde alles für Sie tun.« Er verabschiedete den Prior aufs zärtlichste und dachte nicht mehr an ihn.

Die Zeit verging; der Prior und seine Schwester verzweifelten.

Inzwischen drängte der widerwärtige Amtmann auf die Heirat seines großen Tölpels von Sohn mit der schönen Saint-Yves, die man für diesen Zweck aus dem Kloster genommen hatte. Sie liebte immer noch ihr teures Patenkind, ebensosehr wie sie den Gatten verabscheute, den man ihr bestimmte. Die Schande, in ein Kloster gesteckt worden zu sein, vermehrte ihre Leidenschaft; der Zwang, den Sohn des Amtmanns zu heiraten, setzte allem die Krone auf. Kummer, Zärtlichkeit und Schrecken verwirrten ihre Seele. Die Liebe ist, wie man weiß, erfinderischer und kühner in einem jungen Mädchen, als es die Freundschaft bei einem alten Prior und einer Tante von mehr als fünfundvierzig Jahren sein kann. Überdies hatte sie sich in ihrem Kloster durch heimlich gelesene Romane ausgebildet.

Die schöne Saint-Yves erinnerte sich des Briefes, den ein Gardist des Königs in die Niederbretagne geschrieben hatte, und von dem in der Provinz gesprochen worden war. Sie beschloß, sich selbst in Versailles zu erkundigen. Sie wollte sich den Ministern zu Füßen werfen, im Falle ihr Geliebter, wie man sagte, im Gefängnis wäre, und von ihnen Gerechtigkeit erflehen. Ich weiß nicht, was sie ahnen ließ, daß man bei Hofe einem hübschen Mädchen nichts verweigert; aber sie wußte nicht, welcher Preis dafür zu zahlen war.

Nachdem sie ihren Entschluß gefaßt hatte, ist sie getröstet, ruhig und nicht mehr so zurückweisend gegen den Dummkopf, der ihr zum Gatten ausersehen war. Sie empfängt ihren erbärmlichen Schwiegervater, liebkost ihren Bruder und verbreitet Heiterkeit im ganzen Hause. Dann, am Tag der Trauung reist sie heimlich um vier morgens ab und nimmt ihre kleinen Hochzeitsgeschenke sowie alles, was sie zusammenraffen konnte, mit. Ihre Vorbereitungen waren so gut getroffen, daß sie schon zehn Meilen entfernt war, als man gegen Mittag in ihr Zimmer trat. Der Schreck und die Überraschung waren groß. Der vielfragende Amtmann stellte an diesem Tag mehr Fragen als in der ganzen Woche; der Gatte stand dümmer da als je. Der Abt von Saint-Yves wollte in seinem Zorn seiner Schwester nacheilen. Der Amtmann und sein Sohn wollten ihn begleiten. So brachte das Schicksal beinahe den ganzen niederbretonischen Bezirk nach Paris.

Die schöne Saint-Yves ahnte wohl, daß man ihr folgen werde. Sie war zu Pferde; sie fragte alle Kuriere geschickt aus, ob sie nicht einen dicken Abt, einen riesigen Amtmann und einen jungen Tölpel getroffen hätten, die eilends auf der Landstraße nach Paris reisten. Als sie am dritten Tage erfuhr, daß sie nicht mehr weit seien, nahm sie einen anderen Weg. Sie hatte so viel Geschick und Glück, daß sie in Versailles ankam, während man sie vergebens in Paris suchte.

Aber wie sollte sie sich in Versailles verhalten? Wie konnte sie, jung, schön, ohne Rat und Halt, unbekannt, allem ausgesetzt, es wagen, einen Gardisten des Königs aufzusuchen? Sie dachte daran, sich an einen Jesuiten der unteren Klasse zu wenden; es gab welche für alle Stände. Wie Gott, so sagten sie, den verschiedenen Tiergattungen verschiedene Nahrung gegeben hat, so gab er dem König seinen Beichtvater, jenen Priester, den alle Pfründenbesitzer das Oberhaupt der gallikanischen Kirche nannten. Dann kamen die Beichtväter der Prinzessinnen. Die Minister hatten keine: sie waren nicht so dumm. Es gab Beichtväter für das große Gefolge. Besonders wichtig war das Amt der Jesuiten der Kammerfrauen, durch die man die Geheimnisse ihrer Herrinnen erfuhr. Die schöne Saint-Yves wandte sich an einen dieser letzten, der sich Pater Tout-à-tous nannte. Sie beichtete ihm, setzte ihm ihre Abenteuer, ihre Lage, ihre Gefahr auseinander und beschwor ihn, sie bei irgendeiner frommen Frau unterzubringen, damit sie aus dem Bereich aller Verführungen käme.

Der Pater Tout-à-tous brachte sie zu der Frau eines Offiziers des Mundschenkenamtes, einem seiner eifrigsten Beichtkinder. Sobald sie dort war, bemühte sie sich, das Vertrauen und die Freundschaft dieser Frau zu erwerben. Sie erkundigte sich nach dem bretonischen Gardisten und ließ ihn bitten, zu ihr zu kommen. Nachdem sie von ihm erfahren hatte, daß ihr Geliebter nach einer Unterredung mit einem hohen Beamten weggeführt worden war, lief sie zu diesem Beamten: der Anblick einer schönen Frau stimmte ihn milde; denn man muß zugeben, daß Gott die Frauen nur dazu gemacht hat, die Männer zu zähmen.

Der Schreibmensch wurde zur Milde gerührt und gestand ihr alles: »Ihr Geliebter ist in der Bastille seit bald einem Jahre, und ohne Sie würde er vielleicht sein ganzes Leben dort zubringen.« Die zarte Saint-Yves fiel in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich gekommen war, sagte die Schreiberseele: »Ich bin nicht in der Lage, Gutes zu tun; meine ganze Macht beschränkt sich darauf, manchmal Böses zu tun. Ich rate Ihnen, zu Herrn von Saint-Pouange zu gehen, der sowohl Gutes wie Böses tut. Er ist der Vetter und Günstling des Herrn von Louvois. Dieser Minister hat zwei Seelen: Herr von Saint-Pouange ist die eine; Frau Dufresnoy die andere; aber sie ist jetzt nicht in Versailles. Es bleibt Ihnen nichts, als den Beschützer anzurufen, den ich Ihnen nenne.«

Das Herz der schönen Saint-Yves war geteilt zwischen Freude und Schmerz, zwischen Hoffnung und trauernder Furcht. Von ihrem Bruder verfolgt, in Gedanken an ihren Geliebten bebend, schwach und doch wieder Mut fassend, so eilte sie zu Herrn von Saint-Pouange.


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