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Neunzehntes Kapitel

Der Harmlose, die schöne Saint-Yves und ihre Verwandten sind wieder beisammen

Die großherzige und verehrungswerte Ungetreue war wieder bei ihrem Bruder, dem Abt von Saint-Yves, dem guten Prior vom Berge und der Dame von Kerkabon. Alle waren gleich überrascht; aber ihre Lage und ihre Empfindungen waren sehr verschieden. Der Abt von Saint-Yves beweinte sein Unrecht zu Füßen seiner Schwester, die ihm verzieh. Der Prior und seine zärtliche Schwester weinten ebenfalls, aber vor Freude. Der abscheuliche Amtmann und sein unerträglicher Sohn störten diese rührende Szene nicht. Auf das erste Gerücht von der Befreiung ihres Feindes hin waren sie abgereist. Sie eilten, ihre Dummheit und ihre Furcht in ihrer Provinz zu begraben.

Von hundert verschiedenen Regungen bewegt, warteten jene vier Personen, bis der junge Mann mit dem befreiten Freund zurückkäme. Der Abt von Saint-Yves wagte nicht, die Augen vor seiner Schwester zu erheben; die gute Kerkabon sagte: »Ich werde also meinen lieben Neffen wiedersehen?« – »Sie werden ihn wiedersehen,« sagte die reizende Saint-Yves, »aber es ist nicht mehr derselbe Mann; seine Haltung, sein Ton, seine Ideen, sein Geist, alles ist verändert. Er ist ebenso würdig geworden, wie er naiv und allem fremd war. Er wird die Ehre und der Trost Ihrer Familie sein; warum kann ich nicht auch das Glück der meinigen sein!« – »Auch Sie sind nicht mehr dieselbe,« sagte der Prior; »was ist Ihnen denn geschehen, das eine solch große Wandlung in Ihnen vollbracht hat?«

Mitten in dieser Unterhaltung kam der Harmlose mit seinem Jansenisten an der Hand. Nun wurde die Szene noch ungewohnter und interessanter. Sie begann mit den zärtlichen Umarmungen des Onkels und der Tante. Der Abt von Saint-Yves fiel fast in die Knie vor dem Harmlosen, der nicht mehr der Harmlose war. Die beiden Liebenden sprachen miteinander durch Blicke, die alle Gefühle ausdrückten, von denen sie durchdrungen waren. Man sah den Glanz der Befriedigung und der Dankbarkeit auf der Stirne des einen, Verwirrung in den zärtlichen und ein wenig unsteten Augen der anderen. Man war erstaunt, daß viel Schmerz dieser Freude beigemischt war.

Der alter Gordon wurde in wenigen Augenblicken der ganzen Familie teuer. Er war mit dem jungen Gefangenen zusammen unglücklich gewesen; das war eine große Sache. Er verdankte seine Befreiung den beiden Liebenden; das allein schon versöhnte ihn mit der Liebe. Die Schärfe seiner früheren Ansichten verschwand aus seinem Herzen: auch er war wie der Hurone Mensch geworden. Jeder erzählte seine Erlebnisse noch vor dem Abendessen. Die beiden Äbte und die Tante horchten auf wie Kinder bei Gespenstergeschichten und wie Menschen, die sich alle für so viel Ungemach interessieren. »Ach!« sagte Gordon, »es gibt vielleicht mehr als fünfhundert tugendhafte Menschen, die in denselben Ketten schmachten, die Fräulein von Saint-Yves zerbrochen hat; ihr Unglück ist unbekannt. Man findet genug Hände, die Unglückliche schlagen, aber selten welche, die helfen.« Dieser so wahre Gedanke steigerte sein Gefühl und seine Dankbarkeit: alles verdoppelte den Triumph der schönen Saint-Yves; man bewunderte die Größe und Festigkeit ihrer Seele. Die Begeisterung war vermischt mit jener Achtung, die man gegen seinen Willen für eine Person fühlt, von der man glaubt, sie habe Einfluß bei Hof. Nur der Abt von Saint-Yves sagte von Zeit zu Zeit: »Wie hat meine Schwester es angestellt, so schnell solchen Einfluß zu gewinnen?«

Man war gerade dabei, zu noch früher Stunde sich zu Tisch zu setzen, als plötzlich die gute Freundin aus Versailles erscheint, die nichts von allem Vorgefallenen ahnte. Sie fuhr in einer sechsspännigen Karosse vor; man kann sich denken, wem der Wagen gehörte. Sie tritt ein mit der Miene einer Person vom Hofe, die in wichtigen Angelegenheiten kommt, grüßt die Gesellschaft leichthin und zieht die schöne Saint-Yves beiseite: »Warum lassen Sie solange auf sich warten? Folgen Sie mir; hier sind die Diamanten, die Sie vergessen hatten.« Sie konnte diese Worte nicht so leise sagen, daß der Harmlose sie nicht gehört hätte: er sah die Diamanten; der Bruder wurde stutzig; der Onkel und die Tante empfanden nichts als die Überraschung von guten Leuten, die niemals eine solche Pracht gesehen hatten. Der junge Mann, der sich durch ein Jahr des Denkens entwickelt hatte, wurde unwillkürlich ernst und erschien einen Augenblick verstört. Seine Geliebte bemerkte es; tödliche Blässe ging über ihr schönes Gesicht, Schauder ergriff sie, kaum hielt sie sich aufrecht. »Ach, gnädige Frau,« sagte sie zu der verhängnisvollen Freundin, »ich bin verloren! Sie geben mir den Tod!« Diese Worte durchdrangen das Herz des Harmlosen; aber er hatte schon gelernt, sich zu beherrschen; er ging ihnen nicht weiter nach aus Furcht, seine Geliebte in Gegenwart ihres Bruders zu beunruhigen. Er erbleichte wie sie.

Die Saint-Yves war bestürzt über die Veränderung, die sie auf dem Gesicht ihres Geliebten bemerkte. Sie zieht die Dame aus dem Zimmer in einen kleinen Gang und wirft ihr die Diamanten vor die Füße. »Ach! nicht sie haben mich verführt, Sie wissen es wohl; er, der sie mir gegeben, wird mich nie wiedersehen.« Die Freundin hob die Ohrringe auf, und die Saint-Yves fügte hinzu: »Mag er sie zurücknehmen oder Ihnen geben; gehen Sie, machen Sie mich nicht noch beschämter.« Die Abgesandte ging endlich weg, ohne die Gewissensbisse, deren Zeuge sie war, begreifen zu können.

Die schöne Saint-Yves war niedergedrückt. Sie fühlte in ihrem Körper einen Aufruhr, der sie erstickte; sie mußte zu Bett. Um aber niemanden zu erschrecken, sprach sie kein Wort über ihr Leiden und bat nur um die Erlaubnis, sich legen zu dürfen; sie schützte Mattigkeit vor. Sie ging aber erst, nachdem sie die Gesellschaft durch tröstende und liebkosende Worte beruhigt und ihrem Geliebten Blicke zugeworfen hatte, die Feuer in seine Seele gossen.

Das Abendessen, das sie nicht durch ihre Gegenwart belebte, verlief anfangs trübsinnig. Aber es war jene interessante Niedergeschlagenheit, die fesselnde und nützliche Gespräche hervorbringt, und die den leichten Vergnügungen, die man gewöhnlich aufsucht und welche nichts als lästiger Lärm sind, so unendlich überlegen ist.

Gordon gab in wenigen Worten die Geschichte des Jansenismus, des Molinismus, der Verfolgungen, mit denen eine Partei die andere bedrückte, und der Widerspenstigkeit beider. Der Harmlose gab die Kritik. Er beklagte die Menschen, die nicht genug haben an dem Zwiespalt, den ihre Interessen entzünden: sie schaffen sich neue Leiden durch eingebildete Bedürfnisse und unfaßliche Absonderlichkeiten. Gordon erzählte, der andere urteilte; die Gäste hörten bewegt zu und wurden von einem neuen Licht erfüllt. Man sprach von der Dauer menschlicher Leiden und von der Kürze des Lebens. Man bemerkte, daß jeder Beruf ein Laster und eine Gefahr in sich berge, und daß, vom Prinzen bis zum letzten Bettler, alles die Natur anzuklagen scheine. Wie finden sich so viele Menschen, die sich für so wenig Geld zu Verfolgern, Häschern und Henkern ihrer Mitmenschen machen lassen? Mit welcher unmenschlichen Gleichgültigkeit unterzeichnet ein Mann von Rang die Zerstörung einer Familie, und mit welcher noch barbarischeren Freude führen seine Mietlinge sie aus!

»Ich habe in meiner Jugend«, sagte der gute Gordon, »einen Verwandten des Marschalls von Marillac gekannt, der wegen der Angelegenheit dieses berühmten Unglücklichen in der Provinz verfolgt wurde und sich deshalb in Paris unter angenommenem Namen verbarg. Er war ein Greis von zweiundsiebzig Jahren. Seine Frau, die ihn begleitete, war ungefähr desselben Alters. Sie hatten einen leichtsinnigen Sohn gehabt, der mit vierzehn Jahren aus dem elterlichen Haus geflohen war; er wurde Soldat; dann Deserteur und ging durch alle Grade der Ausschweifung und des Elends; schließlich kam er unter einem Namen, den er von einem Landgut her hatte, zu der Leibwache des Kardinals von Richelieu (denn dieser Priester hatte ebenso wie der Kardinal Mazarin eine Leibwache); er gelangte in dieser Häscherkompagnie zu einem Befehlshaberposten. Dieser Abenteurer wurde beauftragt, den Greis und seine Gattin zu verhaften; er entledigte sich dieses Befehls mit der ganzen Härte eines Mannes, der seinem Herrn gefallen will. Als er sie wegführte, hörte er die beiden Opfer die lange Reihe von Unglücksfällen, die sie seit der Wiege erlebt hatten, beklagen. Als das größte Unglück, das sie betroffen, bezeichneten der Vater und die Mutter die Verirrungen und den Verlust ihres Sohnes. Er erkannte sie; er brachte sie nichtsdestoweniger ins Gefängnis, indem er ihnen versicherte, Seiner Eminenz müsse vor allem gedient werden. Die Eminenz belohnte seinen Eifer ... Ich habe einen Spion des Paters de la Chaise seinen eigenen Bruder verraten sehen in der Hoffnung auf eine kleine Pfründe, die er nicht erhielt; und ich habe ihn sterben sehen, nicht aus Gewissensbissen, aber aus Schmerz, von dem Jesuiten betrogen worden zu sein! Das Amt eines Beichtvaters, das ich lange ausgeübt habe, hat mich in die inneren Angelegenheiten vieler Familien sehen lassen; ich habe wenige getroffen, die nicht vor Kummer vergingen, während sie nach außen unter der Maske des Glücks in Freude zu schwimmen schienen. Ich habe immer bemerkt, daß große Leiden die Frucht zügelloser Begierden sind.«

»Was mich betrifft,« sagte der Harmlose, »so denke ich, daß eine edle, dankbare und feinfühlige Seele glücklich leben kann; ich rechne darauf, mit der schönen und großherzigen Saint-Yves ein ungemischtes Glück zu genießen, denn ich schmeichle mir,« fügte er mit einem freundschaftlichen Lächeln für den Bruder hinzu, »daß Sie sie mir nicht wie im vorigen Jahre verweigern, und daß ich mich dabei auf anständigere Weise benehmen werde.«

Der Abt zerfloß in Entschuldigungen für die Vergangenheit und in Beteuerungen ewiger Anhänglichkeit.

Der Onkel Kerkabon sagte, es würde der schönste Tag seines Lebens sein. Die gute Tante rief ekstatisch und vor Freude weinend: »Ich hatte es immer gesagt, du würdest nie Unterdiakon werden! Dieses Gelöbnis ist mehr wert als jenes; hätte es nur Gott gefallen, daß ich damit beehrt worden wäre! Aber ich werde deine Mutter sein.« Dann begann man um die Wette mit Lobpreisungen der zärtlichen Saint-Yves.

Ihr Geliebter hatte das Herz zu voll von dem, was sie für ihn getan hatte; er liebte sie zu sehr, als daß die Geschichte mit den Diamanten einen tieferen Eindruck auf sein Herz gemacht hätte. Aber jene Worte, die er so deutlich gehört hatte: »Sie geben mir den Tod«, erschreckten ihn noch im geheimen und verdarben seine ganze Freude, während die Lobpreisungen seiner schönen Geliebten seine Liebe immer steigerten. Schließlich war man nur noch mit ihr beschäftigt; man sprach nur von dem Glück, das diese beiden Liebenden verdienten; man plante ein gemeinsames Leben in Paris; man machte Zukunftspläne; man gab sich all jenen Hoffnungen hin, die der geringste Schimmer von Glück so leicht entstehen läßt. Aber der Harmlose hatte im Grunde seines Herzens ein Gefühl, das diese Illusion verwarf. Er las noch einmal diese Verschreibungen mit der Unterschrift Saint-Pouange und die Befehle mit jener von Louvois. Man schilderte ihm diese beiden Männer, wie sie waren, oder wie man glaubte, daß sie seien. Jeder sprach von den Ministern und dem Ministerium mit der Tischgesprächsfreiheit, die man in Frankreich für die kostbarste Freiheit hält, welche man auf Erden genießen kann.

»Wäre ich König von Frankreich,« sagte der Harmlose, »so würde ich als Kriegsminister einen Mann von höchster Geburt wählen, weil er dem Adel Befehle zu erteilen hat. Ich würde verlangen, daß er selbst Offizier gewesen wäre, daß er alle Grade durchlaufen hätte, daß er mindestens Generalleutnant geworden und würdig sei, Marschall von Frankreich zu heißen; denn ist es nicht nötig, selbst gedient zu haben, um die Einzelheiten des Dienstes besser zu kennen? Und würden die Offiziere nicht mit hundertmal mehr Freudigkeit einem Kriegsmanne gehorchen, der wie sie seinen Mut erwiesen hätte, als einem Mann des Kabinetts, der – mag er noch so geistreich sein – doch die Operationen eines Feldzugs höchstens erraten kann? Ich würde nicht böse sein, wenn mein Minister freigebig wäre, selbst wenn mein Schatzmeister dadurch manchmal in Verlegenheit käme. Ich wünschte, daß er leichte Arbeit hätte, und sogar, daß er sich durch jene Heiterkeit des Geistes auszeichne, die zu einem den Geschäften überlegenen Manne gehört, dem Volke so sehr gefällt und alle Pflichten weniger peinlich macht. Diesen Charakter müßte der Minister haben, weil solche Gemütsverfassung, wie man immer gesehen hat, mit Grausamkeit unvereinbar ist.«

Herr von Louvois wäre vielleicht nicht befriedigt gewesen von den Wünschen des Harmlosen; seine Verdienste waren anderer Art.

Während man noch bei Tisch war, nahm die Krankheit des armen Mädchens einen unheilvollen Charakter an; ihr Blut war entzündet, ein zehrendes Fieber war ausgebrochen, sie litt, aber sie klagte nicht, aus Sorge, die Freude der Gäste zu stören.

Ihr Bruder wußte, daß sie nicht schlief, und ging an ihr Bett. Ihr Zustand überraschte ihn. Alle liefen herbei; der Geliebte stand an der Seite des Bruders. Er war ohne Zweifel der Erregteste und Zärtlichste von allen; aber er hatte gelernt, mit den glücklichen Gaben, die die Natur an ihn verschwendet hatte, rücksichtsvolle Besonnenheit zu verbinden, und ein rasches Empfinden für äußeren Anstand begann in ihm die Vorherrschaft zu erlangen.

Man ließ sofort einen Arzt aus der Nachbarschaft holen. Das war einer von jenen, die ihre Kranken im Vorbeilaufen besuchen, die die Krankheit, welche sie vor sich haben, mit der verwechseln, von welcher sie kommen, und die ihre blinde Praxis bei einer Wissenschaft anwenden, der sogar die ganze Reife eines gesunden und überlegten Urteils nicht ihre Ungewißheit und ihre Gefahren nehmen kann. Er verdoppelte das Leiden durch die Überstürzung, mit der er ein Rezept verschrieb, das damals gerade in Mode war. Mode bis in die Medizin! Diese Manie war zu allgemein in Paris.

Die betrübte Saint-Yves selbst trug noch mehr als ihr Arzt dazu bei, die Krankheit gefährlich zu machen. Ihre Seele tötete ihren Körper. Die Flut von Gedanken, die sie bewegten, goß ein gefährlicheres Gift in ihre Adern als das brennendste Fieber.


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