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Zehntes Kapitel

Der Harmlose ist mit einem Jansenisten in der Bastille eingesperrt

Herr Gordon war ein frischer und heiterer Greis, der zwei große Dinge verstand: Unglück ertragen und Unglückliche trösten. Er ging mit offenem und mitfühlendem Ausdruck auf seinen Gefährten zu und sagte, indem er ihn umarmte: »Wer Sie auch sein mögen, der mein Grab mit mir zu teilen kommt, seien Sie sicher, ich werde mich selbst stets vergessen, um Ihre Leiden in diesem höllischen Abgrund, in den wir gestürzt sind, zu lindern. Lassen Sie uns die Vorsehung verehren, die uns hierhergeführt hat, lassen Sie uns in Frieden leiden und hoffen.« Diese Worte wirkten auf die Seele des Harmlosen wie englische Tropfen, die einen Sterbenden ins Leben zurückrufen und ihn die Augen erstaunt öffnen lassen.

Nach den ersten Begrüßungen schon flößte ihm Gordon, ohne daß er ihn drängte, ihm die Ursache seines Unglücks anzuvertrauen, durch die Milde seiner Reden und durch das Interesse, das zwei Unglückliche immer aneinander nehmen, den Wunsch ein, sein Herz zu öffnen. Er wollte die Last, die es bedrückte, loswerden. Den Grund seines Unglücks konnte er nicht begreifen; es erschien ihm wie eine Wirkung ohne Ursache, und der gute Gordon war ebenso erstaunt wie er selber.

»Es scheint,« sagte der Jansenist zum Huronen, »daß Gott große Pläne mit Ihnen vorhat, da er Sie vom Ontario-See nach England und Frankreich geführt hat, dann in der Niederbretagne taufen ließ und Sie nun zu Ihrem Heil hierhergebracht hat.« – »Meiner Treu,« antwortete der Harmlose, »ich glaube, es ist eher der Teufel, der sich in mein Geschick gemischt hat. Meine Landsleute in Amerika hätten mich niemals mit der Barbarei behandelt, die ich hier erdulden muß: sie haben davon überhaupt keine Vorstellung. Man nennt sie Wilde; es sind zwar grobe, aber anständige Leute. Die Menschen in diesem Lande jedoch sind raffinierte Schurken! Ich bin, ehrlich gesagt, sehr erstaunt über das Schicksal, das mich aus einer andern Welt hierhergeführt hat, um mit einem Priester zusammen hinter Schloß und Riegel gesetzt zu werden. Aber ich denke auch an die ungeheure Zahl jener Männer, die von einem Erdteil in den andern ziehen, um sich töten zu lassen; oder an jene, die unterwegs Schiffbruch leiden und von Fischen gefressen werden. Ich sehe die Gnade Gottes keineswegs in dem Geschick all dieser Menschen.«

Man brachte ihnen Essen durch eine kleine Öffnung in der Türe. Die Unterhaltung drehte sich um Vorsehung, Geheimbriefe und die Kunst, dem Mißgeschick, dem jeder Mensch in dieser Welt ausgesetzt ist, nicht zu erliegen. »Zwei Jahre bin ich nun hier,« sagte der Greis, »ohne andern Trost als den ich aus mir selbst und meinen Büchern hole. Ich bin nicht einen Augenblick schlechter Laune gewesen.«

»Ach! Herr Gordon,« schrie der Harmlose, »Sie lieben eben Ihre Patin nicht! Kennten Sie Fräulein von Saint-Yves wie ich, Sie würden verzweifelt sein.« Bei diesen Worten konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten; danach fühlte er sich etwas weniger bedrückt. »Wie kommt es,« rief er, »daß Tränen erleichtern? Mir scheint, sie müßten eigentlich eine entgegengesetzte Wirkung haben.«

»Mein Sohn,« sagte der gute Greis, »alles an uns ist physisch. Jede Ausscheidung erleichtert den Körper und alles, was diesen erleichtert, entlastet die Seele: wir sind die Maschinen der Vorsehung.«

Der Harmlose, der, wie wir schon oft betont haben, viel natürlichen Verstand besaß, wurde sehr nachdenklich bei diesem Gedanken. Es schien ihm, daß er den Keim dieser Idee schon lange in sich gehabt habe. Er fragte seinen Leidensgenossen, wieso seine Maschine schon zwei Jahre hinter Schloß und Riegel sei. »Durch die wirksame Gnade«, antwortete Gordon. »Ich gelte als Jansenist; ich habe Arnould und Nicole gekannt; die Jesuiten haben uns verfolgt. Wir glauben, daß der Papst nur ein Bischof ist wie die anderen Bischöfe. Deshalb hat der Pater de la Chaise vom Könige, seinem Beichtkind, den Befehl erhalten, mich ohne jede gerichtliche Formalität der Freiheit, dieses köstlichsten Gutes, zu berauben.«

»Es ist doch sehr seltsam,« sagte der Harmlose; »alle Unglücklichen, die ich getroffen habe, sind es nur durch den Papst geworden. Was Ihre wirksame Gnade betrifft, so gestehe ich, daß ich nichts davon begreife. Aber ich sehe es als eine große Gnade an, daß Gott mich in meinem Unglück einen Mann wie Sie hat finden lassen. Sie gießen tröstliche Gefühle in mein Herz, deren ich mich nicht für fähig gehalten hätte.«

Jeden Tag wurde die Unterhaltung interessanter und belehrender. Die Seelen der beiden Gefangenen kamen einander näher. Der Greis wußte viel, und der junge Mann wollte viel lernen. Nach einem Monat studierte er Geometrie; er verschlang sie. Gordon ließ ihn die Physik von Rohault lesen, die damals noch in Mode war. Sein natürlicher Verstand erkannte sofort die Unsicherheiten in diesem Buche.

Dann las er den ersten Band der »Erforschung der Wahrheit« Von Malebranche (1674).. Diese neue Weisheit erleuchtete ihn. »Wie!« rief er, »unsere Einbildung und unsere Sinne täuschen uns bis zu einem solchen Grade?! Wie! Die Dinge bilden nicht unsere Ideen, und wir können sie uns nicht selber gestalten?« Als er den zweiten Band gelesen hatte, war er nicht mehr so befriedigt. Er schloß daraus, es sei leichter, zu zerstören als aufzubauen.

Sein Gefährte war erstaunt, daß ein junger Ignorant diesen Gedanken hatte, den nur geübte Seelen zu denken vermögen. Er bekam eine hohe Meinung von seinem Geiste und schloß sich noch näher an ihn an.

»Ihr Malebranche,« sagte eines Tages der Harmlose, »scheint mir die Hälfte seines Buches mit dem Verstand und die andere Hälfte mit seiner Phantasie und seinen Vorurteilen geschrieben zu haben.«

Einige Tage später fragte ihn Gordon: »Was denken Sie eigentlich von der Seele, von der Art, wie wir unsere Gedanken empfangen, von unserm Willen, der Gnade und der freien Wahl?«

»Nichts«, erwiderte der Harmlose. »Wenn ich etwas darüber dächte, wäre es dies, daß wir unter der Macht des ewigen Wesens stehen wie Sterne und Elemente; daß es alles in uns bewirkt; daß wir kleine Räder der ungeheuren Maschine sind, deren Seele dieses Wesen ist; daß es nach allgemeinen Gesetzen handelt und nicht nach besonderen Gesichtspunkten; dies allein scheint mir verständlich; alles übrige ist für mich ein dunkler Abgrund.«

»Aber, mein Sohn, das hieße ja Gott zum Urheber der Sünde machen.«

»Nun, mein Vater, Ihre wirksame Gnade macht Gott ebenfalls zum Schöpfer der Sünde: denn es ist gewiß, daß alle, denen sich diese Gnade versagt, sündigen müßten. Wer uns dem Bösen ausliefert, ist der nicht Urheber des Bösen?«

Dieser einfache Gedankengang brachte den guten Mann in große Verlegenheit; er fühlte, daß er sich vergeblich anstrenge, um aus dieser Klemme zu kommen. Er häufte so viel Worte an, die Sinn zu haben schienen und keinen hatten (im Geschmack der Lehre von der physischen Willensbestimmung), daß der Harmlose Mitleid empfand. Diese Frage rührte offenbar an den Ursprung von Gut und Böse. Der arme Gordon mußte schließlich die Büchse der Pandora, das von Ariman zerbrochene Ei des Ormuzd, die Feindschaft zwischen Typhon und Osiris und die Erbsünde zu Hilfe nehmen. In dieser tiefen Nacht liefen sie nebeneinander her, ohne sich je zu finden. Doch hatte dieses Abenteuer der Seele die Wirkung, ihren Blick von der Betrachtung ihres eigenen Elends abzulenken. Das allgemeine Unglück der Menschheit verminderte durch einen seltsamen Zauber ihr Gefühl für die eigenen Schmerzen. Sie wagten nicht zu klagen, wenn alles litt.

In der Ruhe der Nacht jedoch löschte das Bild der schönen Saint-Yves alle metaphysischen und ethischen Gedanken aus dem Geiste ihres Liebhabers. Er wachte auf mit Tränen in den Augen. Der alte Jansenist vergaß seine wirksame Gnade, den Abt von Saint-Cyran und Jansenius, um einen jungen Mann zu trösten, den er in einer Todsünde befangen glaubte.

Nach ihrer Lektüre und ihrem Philosophieren sprachen sie wieder von ihren Erlebnissen. Dann lasen sie, da dies zu nichts führte, weiter. Der Geist des jungen Mannes stärkte sich zusehends. Besonders in der Mathematik wäre er sehr weit gekommen ohne die zerstreuenden Gedanken an Fräulein von Saint-Yves.

Er las Geschichtsbücher; sie machten ihn traurig. Die Welt erschien ihm zu schlecht, zu elend. In der Tat, was ist Geschichte anderes als eine Schilderung von Verbrechen und Unglücksfällen? Die Menge unschuldiger, friedlicher Menschen verschwindet immer auf dieser großen Bühne. Die Helden sind nichts als ehrgeizige, widernatürliche Charaktere. Es scheint, Geschichte gefällt, wie die Tragödie, nur dann, wenn sie belebt wird durch Leidenschaften, Gewalttaten und großes Unglück. Man muß Clio mit dem Dolche bewaffnen wie Melpomene.

Obgleich nun die Geschichte Frankreichs wie alle anderen von Gewalttaten strotzt, erschien sie ihm in ihren Anfängen so abschreckend, in der mittleren Zeit so trocken, und selbst zur Zeit Heinrichs IV. so klein, immer so bar aller großen Geschehnisse, so fern aller strahlenden Entdeckungen anderer Völker, daß er gegen die Langeweile kämpfen mußte beim Lesen dieser dunkeln, in einem Winkel der Erde zusammengeballten Drangsale.

Gordon dachte wie er. Beide lächelten mitleidig, wenn von den Herrschern von Fezensac, von Fesansaguet und von Astarac die Rede war. Dieses Studium hätte in der Tat nur Sinn gehabt für die Nachkommen dieser Herrscher, wenn sie welche besessen hätten. Die schönen Epochen der römischen Republik machten ihn eine Zeitlang gleichgültig gegen die übrige Erde. Das Bild des siegreichen Rom, der Gesetzgeberin der Völker, beschäftigte seine ganze Seele. Er wurde heiß bei der Betrachtung dieses Volkes, das siebenhundert Jahre durch den Enthusiasmus der Freiheit und des Ruhmes regiert wurde.

So vergingen Tage, Wochen und Monate, und er hätte sich in diesem Aufenthalt der Verzweiflung sogar für glücklich gehalten, wenn er nicht verliebt gewesen wäre.

Sein gutes Herz litt auch bei dem Gedanken an den Prior Unserer lieben Frau vom Berge und die zartfühlende Kerkabon. »Was werden sie denken,« wiederholte er oft, »wenn sie gar nichts von mir hören? Sie werden mich für undankbar halten.« Diese Idee quälte ihn. Er beklagte die, welche ihn liebten, viel mehr als er sich selbst beklagte.


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