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Erstes Kapitel

Wie der Prior unserer lieben Frau vom Berge und sein Fräulein Schwester mit einem Huronen zusammentrafen

Eines Tages verließ der heilige Dunstan, Irländer von Geburt und Heiliger von Beruf, Irland auf einem kleinen Berge, der nach der Küste Frankreichs trieb. Er kam auf diesem Fahrzeug in die Bucht von Saint-Malo. Als er am Ufer war, erteilte er seinem Berge den Segen, worauf dieser ein paar tiefe Verbeugungen vor ihm machte und auf demselben Wege, den er gekommen, nach Irland zurückschwamm.

Dunstan gründete eine kleine Priorei in dieser Gegend; er gab ihr den Namen »Abtei vom Berge«, den sie, wie jeder weiß, heute noch trägt.

Am Abend des 15. Juli im Jahre 1689 ging der Abt von Kerkabon, Prior unserer lieben Frau vom Berge, mit Fräulein von Kerkabon, seiner Schwester, am Ufer des Meeres spazieren, um frische Luft zu schöpfen. Der schon bejahrte Prior war ein sehr guter Geistlicher, der von seinen Nachbarn geliebt wurde, nachdem dies früher die Nachbarinnen getan hatten. Besonderes Ansehen schaffte ihm, daß er der einzige Pfründenbesitzer des Landes war, den man nicht in sein Bett tragen mußte, wenn er mit seinen Ordensbrüdern zu Nacht gegessen hatte. In der Theologie war er ziemlich beschlagen; wenn er es satt hatte, den heiligen Augustin zu lesen, unterhielt er sich mit der Lektüre von Rabelais. Jeder sprach Gutes von ihm.

Fräulein von Kerkabon, die nicht verheiratet war, obgleich sie große Lust dazu verspürt hatte, besaß im Alter von fünfundvierzig Jahren noch ziemlich viel Frische. Ihr Charakter war gut und vernünftig; sie liebte das Vergnügen und war fromm.

Der Prior sagte zu seiner Schwester beim Betrachten des Meeres: »Ach! hier schiffte sich unser armer Bruder im Jahre 1669 mit Frau von Kerkabon, unserer lieben Schwägerin, auf dem Segler ›Die Schwalbe‹ ein, um in Kanada Dienste zu tun. Wenn er nicht getötet worden wäre, könnten wir hoffen, ihn wiederzusehen.«

»Glaubst du,« sagte Fräulein von Kerkabon, »daß unsere Schwägerin von den Irokesen gefressen wurde, wie man uns gesagt hat? So viel ist sicher: wenn dies nicht geschehen wäre, würde sie in die Heimat zurückgekehrt sein. Ich werde sie beweinen, so lange ich lebe; sie war eine reizende Frau. Unser Bruder, der sehr viel Geist besaß, würde sicher sein Glück gemacht haben.«

Während beide von dieser Erinnerung bewegt wurden, sahen sie ein kleines Schiff mit der Flut in die Bucht von Rance einfahren. Es waren Engländer, die kamen, um einige Waren ihrer Heimat zu verkaufen. Sie sprangen an Land, ohne den Herrn Prior, noch sein Fräulein Schwester zu beachten, die es sehr übelnahm, daß man ihr so wenig Aufmerksamkeit schenkte.

Dieses war nicht so bei einem wohlgestalteten jungen Manne, der mit einem Satz über die Köpfe seiner Gefährten wegsprang und nun dem Fräulein gegenüberstand. Er grüßte sie mit einer Kopfbewegung, da er die Sitte der Verbeugungen nicht kannte. Sein Gesicht und seine Kleidung erregten die Aufmerksamkeit der Geschwister. Er war barhäuptig und nacktbeinig; an den Füßen trug er kleine Sandalen; der Kopf war mit langen, geflochtenen Haaren geschmückt; ein kleines Wams umschloß einen feinen und schlanken Wuchs; die Miene war kriegerisch und zugleich sanft. In der einen Hand hielt er eine kleine Flasche mit Barbadosbranntwein; in der andern eine Art Beutel, in dem ein Becher und ausgezeichneter Schiffszwieback war. Sein Französisch war sehr gut verständlich. Er bot dem Fräulein von Kerkabon und ihrem Herrn Bruder von seinem Barbadoswasser an; er trank mit ihnen; er ließ sie wieder trinken, und alles dies mit einem so einfachen und natürlichen Ausdruck, daß sowohl Bruder wie Schwester davon entzückt waren. Sie boten ihm ihre Dienste an und fragten, wer er sei und wohin er ginge. Der junge Mann antwortete, daß er darüber nichts wisse; daß er neugierig sei; daß er die Küste von Frankreich in der Nähe habe sehen wollen. Nun sei er da und werde bald wieder umkehren.

Der Herr Prior vermutete nach seiner Aussprache, daß er kein Engländer sei; er nahm sich die Freiheit, zu fragen, aus welchem Lande er käme. »Ich bin Hurone,« antwortete der junge Mann.

Fräulein von Kerkabon war erstaunt und entzückt, einen Huronen zu sehen, der ihr Höflichkeiten erwiesen hatte. Sie lud den jungen Mann zum Abendessen. Er ließ sich nicht zweimal bitten, und alle drei gingen zusammen in die Abtei unserer lieben Frau vom Berge.

Das kurze, runde Fräulein betrachtete ihn eifrig mit ihren kleinen Augen. Von Zeit zu Zeit sagte sie zu dem Prior: »Dieser große Knabe hat einen Teint von Lilien und Rosen! Welch schöne Haut für einen Huronen!« – »Du hast recht, Schwester,« sagte der Prior. Sie stellte hundert Fragen zugleich, der Reisende antwortete immer richtig.

Das Gerücht, daß ein Hurone im Kloster sei, verbreitete sich schnell. Die gute Gesellschaft des Bezirkes beeilte sich, dort das Abendbrot einzunehmen. Der Abt von Saint-Yves kam mit seiner Schwester, einer sehr hübschen und wohlerzogenen Niederbretonin. Es kamen der Amtmann und der Steuereinnehmer mit ihren Frauen. Man setzte den Fremden zwischen Fräulein von Kerkabon und Fräulein von Saint-Yves. Jeder betrachtete ihn mit Bewunderung; jeder sprach mit ihm und fragte ihn zugleich. Der Hurone blieb davon unberührt. Es schien, als ob sein Wahlspruch der des Lord Bolingbroke sei: Nihil admirari. Schließlich jedoch quälte ihn der Lärm derart, daß er, zwar sanft aber doch mit einiger Festigkeit, sagte: »Meine Herren, in meinem Lande spricht einer nach dem andern; wie wollen Sie, daß ich Ihnen antworte, wenn Sie mich hindern, Sie zu hören?« Vernunft läßt die Menschen immer für einige Augenblicke in sich gehen; es wurde sehr still. Der Herr Amtmann bemächtigte sich stets der Fremden, in welchem Hause er sich auch befand. Er war der größte Frager der Provinz. Nun riß er seinen Mund einen halben Fuß weit auf und sagte: »Mein Herr, wie heißen Sie?« – »Man hat mich immer den Harmlosen genannt,« antwortete der Hurone; »dieser Name ist mir in England bestätigt worden, weil ich immer offen sage, was ich denke, ebenso wie ich alles tue, was ich will.«

»Wie konnten Sie als geborner Hurone nach England kommen?« – »Weil man mich dorthin gebracht hat. Ich wurde in einem Kampfe Gefangener der Engländer, nachdem ich mich recht gut verteidigt hatte. Die Engländer lieben die Tapferkeit; sie sind so mutig und ehrenhaft wie wir. Sie schlugen mir vor, mich zu meinen Verwandten zu bringen oder mit ihnen nach England zu kommen. Ich nahm das letzte an, weil ich es von Natur leidenschaftlich liebe, Länder zu sehen.«

»Aber mein Herr,« sagte der Amtmann in seinem großartigsten Ton, »wie konnten Sie Vater und Mutter so leicht verlassen?« – »Weil ich weder Vater noch Mutter gekannt habe«, antwortete der Fremde. Die Gesellschaft wurde gerührt, und alle wiederholten: »Weder Vater noch Mutter!« – »Wir werden sie bei ihm vertreten,« sagte die Herrin des Hauses zu ihrem Bruder, dem Prior; »wie interessant dieser Herr Hurone ist!« Der Harmlose dankte ihr mit einer edlen und stolzen Herzlichkeit und gab ihr zu verstehen, daß er nichts nötig habe.

»Ich bemerke, Herr Harmlos,« sagte der feierliche Amtmann, »daß Sie besser Französisch sprechen, als es einem Huronen zugehört.« – »Ein Franzose,« sagte er, »den wir in meiner Kindheit in Huronien gefangennahmen, und für den ich viel Freundschaft empfand, lehrte mich seine Sprache; ich lerne sehr schnell, was ich lernen will. Bei meiner Ankunft in Plymouth traf ich einen jener französischen Flüchtlinge, die Sie, ich weiß nicht warum, Hugenotten nennen. Dieser brachte mir einige Fortschritte in Ihrer Sprache bei. Und sobald ich mich klar und verständlich ausdrücken konnte, kam ich herüber, um Ihr Land zu sehen, denn ich liebe die Franzosen, wenn sie nicht zu viele Fragen stellen.«

Der Abt von Saint-Yves fragte ihn, trotz dieser kleinen Mahnung, welche der drei Sprachen ihm am besten gefalle, die huronische, englische oder französische? »Die huronische ohne Zweifel«, antwortete der Harmlose. – »Ist es möglich?« rief Fräulein von Kerkabon, »ich hatte immer geglaubt, Französisch sei nach dem Niederbretonischen die schönste aller Sprachen.«

Nun fragten sie ihn um die Wette, wie Tabak auf huronisch heiße. Er antwortete: »Taya.« Was man für »essen« sage? »Essenten.« Fräulein von Kerkabon wollte unbedingt wissen, wie man »lieben« nenne. Er antwortete: »Trovander«, und versicherte, nicht ohne Grund, daß diese Worte so viel wert seien wie die französischen und englischen, die ihnen entsprächen. »Trovander« erschien allen Gästen sehr hübsch.

Der Herr Prior, der in seiner Bibliothek eine huronische Grammatik hatte, die ihm der ehrwürdige Pater Sagar Théodat, ein berühmter Franziskaner-Missionar, geschenkt hatte, stand auf, um das Wort nachzusehen. Er kam zurück ganz außer Atem vor lauter Zärtlichkeit und Freude. Nun war er sicher, daß der Harmlose ein echter Hurone war. Man stritt noch etwas über die Vielheit der Sprachen. Darin waren alle einig: ohne das Abenteuer des Turmbaus zu Babel würde die ganze Erde Französisch gesprochen haben.

Der vielfragende Amtmann, der bis dahin ein wenig mißtrauisch gegen den Huronen gewesen war, empfand nun einen tiefen Respekt. Er redete höflicher mit ihm als vorher, was der Harmlose gar nicht bemerkte.

Das Fräulein von Saint-Yves war neugierig, zu hören, wie man sich im Lande der Huronen liebe. »Man begeht gute Handlungen,« antwortete er, »um den Personen zu gefallen, die Ihnen gleichen.« Alle Gäste gaben erstaunt ihren Beifall kund. Fräulein von Saint-Yves errötete und wurde sehr fröhlich. Fräulein von Kerkabon errötete auch, aber sie war nicht so fröhlich. Sie war ein wenig gereizt, daß die Schmeichelei nicht ihr galt. Aber sie war so gutmütig, daß ihre Neigung zu dem Huronen dadurch nicht im geringsten verändert wurde. Sie fragte ihn mit großer Güte, wieviel Geliebte er denn im Huronenlande gehabt habe? »Ich habe nie mehr als eine gehabt,« sagte der Harmlose, »das war Fräulein Abacaba, die Freundin meiner lieben Amme. Binsenrohr ist nicht aufrechter, Hermelin nicht weißer, Lämmer sind nicht sanfter, Adler nicht weniger stolz und Hirsehe nicht so schnellfüßig wie Abacaba. Sie verfolgte eines Tages einen Hasen in unserer Nachbarschaft, ungefähr fünfzig Meilen von unserem Wohnsitz. Ein schlecht erzogener Algonquin, der hundert Meilen entfernt wohnte, kam und nahm ihr den Hasen. Ich erfuhr es, lief hin und schlug den Algonquin mit einem Keulenschlag nieder. Dann trug ich den an Händen und Füßen Gefesselten vor die Füße meiner Geliebten. Die Eltern Abacabas wollten ihn aufessen; aber ich hatte keinen Sinn für solche Festmähler. Ich gab ihm die Freiheit wieder, und er wurde mein Freund. Abacaba war so gerührt über meine Handlung, daß sie mich all ihren Liebhabern vorzog. Sie würde mich noch lieben, wenn sie nicht von einem Bären gefressen worden wäre. Ich habe den Bären gestraft; ich habe lange sein Fell getragen; aber es hat mich nicht getröstet.«

Fräulein von Saint-Yves fühlte bei dieser Erzählung eine heimliche Freude, daß der Harmlose nur eine einzige Geliebte gehabt hatte und daß Abacaba tot war. Aber sie wußte selbst nicht die Ursache ihres Vergnügtseins. Alle starrten auf den Harmlosen. Man lobte ihn sehr, daß er seine Kameraden verhindert hatte, einen Algonquin aufzuessen.

Der unbarmherzige Amtmann, der seine Fragewut immer noch nicht unterdrücken konnte, ging schließlich in seiner Neugier so weit, wissen zu wollen, zu welcher Religion der Herr Hurone sich bekenne; ob er die anglikanische, gallikanische oder hugenottische gewählt habe. »Ich habe meine Religion wie Sie die Ihre.« – »Ach,« rief die Kerkabon, »ich sehe wohl, diese unglücklichen Engländer haben nicht einmal daran gedacht, ihn zu taufen!« – »Oh! mein Gott,« sagte Fräulein von Saint-Yves, »wie ist es möglich, daß die Huronen nicht katholisch sind? Haben die ehrwürdigen Jesuitenväter nicht sie alle bekehrt?« Der Harmlose versicherte, daß man in seinem Lande niemanden bekehre. Ein wahrer Hurone wechsle seine Meinung nie. In seiner Sprache gäbe es nicht einmal das Wort: Unbeständigkeit. Diese letzte Äußerung gefiel Fräulein von Saint-Yves ungemein gut.

»Wir werden ihn taufen, wir werden ihn taufen,« sagte die Kerkabon zu dem Prior; »du wirst viel Ehre davon haben, mein lieber Bruder; ich will unbedingt seine Patin sein; der Herr Abt von Saint-Yves wird ihn über das Taufbecken halten. Es wird eine glänzende Festlichkeit werden; die ganze Niederbretagne wird davon sprechen, und wir werden unendlich viel Ehre davon haben.« Die ganze Gesellschaft stimmte mit der Herrin des Hauses überein. Alle Gäste riefen: »Wir werden ihn taufen!« Der Harmlose antwortete, in England lasse man die Leute nach ihrem Gefallen leben. Er gestand, daß der Vorschlag ihm keineswegs gefalle, und daß das Gesetz der Huronen dem Gesetz der Niederbretonen mindestens ebenbürtig sei. Schließlich erklärte er, er wolle am nächsten Tage wieder abreisen. Man leerte noch vollends seine Flasche Barbadoswasser. Dann gingen alle zu Bett.

Als der Harmlose in sein Zimmer geführt worden war, konnten sich Fräulein von Kerkabon und Fräulein von Saint-Yves nicht enthalten, durch das große Schlüsselloch zu schauen, um zu sehen, wie ein Hurone schlafe. Sie sahen, daß er die Bettdecke auf dem Boden ausgebreitet hatte und in der schönsten Haltung der Welt darauf ruhte.


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