Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Geistiger Fortschritt des Harmlosen

Der Harmlose machte rasche Fortschritte in den Wissenschaften, besonders in der Wissenschaft vom Menschen. Die Ursache seiner schnellen Geistesentwicklung lag beinahe ebenso in seiner ungebundenen Erziehung wie in der Beschaffenheit seiner Seele: da er in seiner Kindheit überhaupt nichts gelernt hatte, besaß er auch keine Vorurteile. Sein Verstand war völlig gerade, weil er durch keinen Irrtum gekrümmt worden war. Er sah die Dinge wie sie sind, während wir, durch die Ideen, die man uns in der Kindheit einflößt, sie unser ganzes Leben lang sehen, wie sie nicht sind. »Ihre Verfolger sind verabscheuenswert,« sagte er zu seinem Freund Gordon. »Ich bedaure Sie, daß Sie unterdrückt wurden, aber noch mehr bedaure ich Sie, daß Sie Jansenist sind. Jede Sekte scheint mir eine Vereinigung von Irrtümern. Sagen Sie mir, gibt es auch Sekten in der Geometrie?«

»Nein, mein liebes Kind,« seufzte der gute Gordon; »alle Menschen sind sich einig über die Wahrheit, wenn sie klar aufgezeigt werden kann. Nur über die dunkeln Wahrheiten sind die Meinungen geteilt.«

»Sagen Sie lieber die dunkeln Unwahrheiten. Wenn es überhaupt eine Wahrheit in dem Haufen von Argumenten, den man seit Jahrhunderten gesammelt hat, gäbe, würde man sie zweifellos schon entdeckt haben; die Welt wäre wenigstens über diesen Punkt einig geworden. Wäre diese Wahrheit notwendig wie die Sonne für die Erde, würde sie strahlen wie diese. Es ist eine Albernheit, eine Beleidigung des menschlichen Geschlechtes und ein Attentat auf das unendliche und höchste Wesen, zu sagen: Es gibt eine für den Menschen wesentliche Wahrheit, Gott hält sie nur verborgen.«

Alles, was dieser junge, nur von der Natur unterrichtete Unwissende sagte, machte auf den Geist des alten unglücklichen Gelehrten tiefen Eindruck. »Wäre es möglich,« rief er, »daß ich mich einer Wahnidee zuliebe unglücklich gemacht habe? Ich bin meines Unglücks sicherer als der wirksamen Gnade. Ich habe meine Tage zugebracht mit dem Denken über die göttliche und menschliche Freiheit; aber ich habe die eigene verloren; weder der heilige Augustin noch der heilige Prosper werden mich aus dem Abgrunde ziehen, in dem ich mich befinde.«

Treu seinem Charakter sagte der Harmlose schließlich: »Wollen Sie, daß ich in vollem Vertrauen zu Ihnen spreche? Jene, die sich dieser nichtigen Schulzänkereien halber verfolgen lassen, erscheinen mir nicht sehr weise. Die Verfolger aber scheinen mir Ungeheuer.«

Über die Ungerechtigkeit ihrer Gefangenschaft waren die beiden Eingekerkerten einer Meinung. »Ich bin hundertmal mehr zu bedauern als Sie,« sagte der Harmlose; »ich bin frei geboren wie die Luft. Ich hatte zwei Leben: die Freiheit und meine Liebe; man raubt sie mir. Beide sind wir hier in Fesseln, ohne den Grund zu wissen oder ihn erfragen zu können. Ich habe zwanzig Jahre als Hurone gelebt; man sagt, es seien Barbaren, weil sie sich an ihren Feinden rächen; aber sie haben nie ihre Freunde unterdrückt. Kaum hatte ich den Fuß auf französische Erde gesetzt, vergoß ich mein Blut für Frankreich; ich habe vielleicht eine Provinz gerettet, und zum Dank verschlingt mich dieses Grab für Lebendige, in dem ich ohne Sie vor Wut gestorben wäre. Es gibt also keine Gesetze in diesem Lande? Man verurteilt die Menschen, ohne sie zu hören! In England ist das anders. Ach! nicht mit den Engländern hätte ich mich schlagen sollen!« So vermochte selbst seine aufkeimende Philosophie nicht die in ihren Grundrechten verletzte Natur zu zähmen; sie ließ seinem gerechten Zorne freien Lauf.

Sein Gefährte widersprach ihm nicht. Abwesenheit steigert immer unbefriedigte Liebe; Philosophie vermindert sie nicht. Er sprach ebenso oft von seiner teuren Saint-Yves wie von Moral und Metaphysik. Je reiner seine Gefühle wurden, desto mehr liebte er. Er las einige neue Romane; er fand wenige, die seine Seelenlage schilderten. Er fühlte, daß sein Herz immer über das hinausging, was er las. »Ach!« sagte er, »beinahe alle diese Schriftsteller haben nichts als Geist und Kunst.« Schließlich wurde der gute Jansenistenpriester unmerklich der Vertraute seiner Neigung. Er kannte die Liebe bis dahin nur als eine Sünde, deren man sich bei der Beichte anklagt. Er erfuhr nun, daß sie ein edles und zartes Gefühl ist, das die Seele ebenso erheben wie schlaffmachen – ja manchmal sogar Tugenden hervorbringen kann. Kurz, das äußerste Wunder geschah: ein Hurone bekehrte einen Jansenisten.


 << zurück weiter >>