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19. Kapitel.
Ein Glückskind.

Am ersten August feierte die Gutsherrin ihren Geburtstag. Der Tag des Weltkriegsbeginn jährte sich. Herr von Breskow hatte Urlaub erhalten. Seine Anwesenheit war das schönste Geburtstagsgeschenk für seine Gattin. Von allen Gütern der Umgegend trafen Wagen mit Gratulanten ein. Sogar die Kinder waren mitgeladen. Frau von Breskows Geburtstag galt als Fest für die ganze Nachbarschaft.

Es war ein hübsches Bild, wie die schöngekleideten Knaben und Mädchen sich auf grüner Wiese tummelten, den Reifen schlugen und sich in Fangspielen haschten. Mit Wohlgefallen ruhten die Augen der Erwachsenen auf der jauchzenden Kinderschar. Die hübscheste von allen war unzweifelhaft die kleine Annedore. Das »Glückskind« wurde sie allgemein genannt, da die reiche Gräfin von Hülsen sie an Kindes Statt annehmen wollte. In ihrem weißen Kleide, diesmal mit mattblauer Schärpe, ein gleichfarbiges Seidenband durch das leichtgelockte dunkelblonde Haar geschlungen, und den vom Spieleifer heißen Wangen zog sie aller Augen auf sich. Besonders die Gräfin Maria ließ den Blick nicht von ihrem zukünftigen Pflegetöchterchen. Sie sehnte den Zeitpunkt herbei, wo sie es bei sich daheim haben würde. Der Vater hatte seine Einwilligung vorläufig nur für die Dauer des Krieges gegeben. Aber er mußte ihr die Kleine ganz überlassen, es war ja doch auch das Glück des Kindes.

»Du Glückskind!« sagten die andern Kinder ein wenig neidisch, als sie hörten, daß Annedore ein Komteßchen werden sollte.

Nur einer hatte in seiner reinen kleinen Seele auch nicht die Spur eines Neidgefühls – das war Hanni. Der empfand nur innige Freude darüber, daß es sein Peterchen künftig so gut haben sollte, und nebenbei heißes Weh über die baldige Trennung von ihr. Aber tapfer unterdrückte der Kleine dieses Gefühl. Das Schwesterchen, das sich so auf das Leben bei der Tante Maria freute, sollte es gar nicht wissen, wie sehr er unter den bevorstehenden Abschied litt.

Die große Sahnen-Erdbeerspeise war vertilgt.

»Was spielen wir jetzt?« hieß es.

»Räuber und Prinzessin«, schlug eines der Kinder vor.

»Au ja – wer soll die Prinzessin sein?«

»Das Glückskind – die Annedore natürlich«, von allen Seiten rief man es lachend.

So mußte denn Annedore als Prinzessin sich vor der Räuberbande verstecken. Dort drüben der wilde Rosenbusch am Gartengitter verbarg sie sicher. Das kleine Mädchen hockte am Staket nieder und spähte durch das Rosengezweig, ob sich auch kein Räuber nahe.

Da – hatte sie sich getäuscht?

Leise hatte sie soeben »Peter« rufen hören. Das konnte doch nur ihr Hannibruder gewesen sein. Aber sein Flachskopf wollte sich nirgends zeigen.

Jetzt – noch einmal – »mein Peterchen!« – so leise, so sehnsüchtig klang's.

Nein, das war nickt der Hanni, das war – jäh fuhr der Kinderkopf herum.

Draußen auf der Landstraße stand eine ärmlich gekleidete Frau mit staubigen Schuhen. Ihre Züge waren elend und blaß, aber trotzdem ...

Das konnte nur eine sein!

»Muttchen – mein Muttchen!« so jauchzte, lachte und weinte es zu gleicher Zeit. Und da war die Annedore auch schon über das Gitter herüber und hing der dürftig gekleideten Frau am Halse und küßte und streichelte sie unter Tränen.

»Muttchen – ich hab's gewußt, daß du wiederkommst – mein Muttchen!«

Fest hielten die Mutterarme ihr Kind an das Herz gedrückt, als wollten sie es nimmer wieder lassen.

»Peterchen – mein Liebling, mein kleiner, seh' ich euch endlich wieder!« Heiße Tränen strömten über Frau Kaschubas blasse Züge.

»Komm zu Hanni, Muttchen, flink – ach, was wird der Hanni bloß sagen!«

»Nein, Peterchen, gehe jetzt wieder, mein Herzchen. Nur sehen wollte ich euch ja, meine guten Kinder, nur noch ein einziges Mal von weitem sehen. Aber als du plötzlich hier so dicht bei mir warst, da übermannte mich mein Gefühl. Doch nun ist es genug, jetzt lauf' wieder zu den andern, Liebling.«

»Und du, Muttchen? Kommst du nicht mit ins Haus?« Nur um so fester hielt die Kinderhand die der Mutter umklammert.

»Nein, mein Peterchen, ich gehe wieder. Ich habe gesehen, daß es euch gut geht, mehr wollte ich nicht. Von Professor Kruse in Danzig hörte ich, daß mein Peterchen ein kleines Komteßchen werden soll. Da darf die Mutter mit ihrer Armut nicht dazwischentreten. Lauf, Liebling, und der liebe Gott schütze euch!«

Einen Augenblick stand das kleine Mädchen ganz still. Vor seinen Augen tauchte die schöne Grunewaldvilla der Tante Maria mit dem Palmenhaus und den livrierten Dienern auf. Das Balkonzimmerchen mit den weißen Möbeln und den schönen Spielsachen – nur für einen Augenblick, einen ganz kurzen. Eigentlich war es gar kein Kampf für die Kinderseele. »Nein, Muttchen, nein, ich gehe nicht mit der Tante Maria! Ich bleibe bei dir!« so rief Annedore stürmisch.

Sanft machte Frau Kaschuba sich von den sie umstrickenden Armen frei.

»Das wäre eine schlechte Mutterliebe, die das Glück ihres Kindes stören würde – – –«

»Gefangen – Hurra, die Prinzessin ist gefangen!« klang es da jauchzend von jenseits des Gitters. Von allen Seiten stürmten die kleinen Räuber herbei.

Einer aber lief nicht mit den andern. Der stand bewegungslos – mit angehaltenem Atem und schreckhaft erweiterten Augen – ein kleiner Flachskopf. Totenbleich war der Hanni. Aber plötzlich kehrte das Leben in seine Adern zurück:

»Muttchen!« – – – Nicht jauchzend und nicht weinend, wie bei der lebhaften Schwester klang's. Ganz, ganz leise flüsterte es der Hanni vor sich hin. Und doch lag eine Welt von Seligkeit in dem einen kleinen Wort.

Und dann war auch der Hanni draußen bei seinem Muttchen, und sie herzte und küßte ihren kleinen Jungen, während Hektor, der natürlich nicht fehlen durfte, sie in tollen Sätzen umsprang.

Mit weitaufgerissenen Augen schauten die übrigen Kinder, wie der Hans und die Annedore, die doch sogar ein Komteßchen werden sollte, die arme Frau da draußen küßten und liebkosten. Was – das war die Mutter von den zweien? Die sah ja aus wie eine Bettlerin? Manch Näschen rümpfte sich da in unverständigem Hochmut.

Die Breskowschen Jungen aber stürzten ins Haus: »Der Hans und die Annedore haben ihre Mutter wiedergefunden, draußen vor dem Gartentor ist sie!« einer trompetete immer lauter als der andere.

In begreiflicher Erregung eilten Herr und Frau von Breskow hinaus. Tante Maria blieb zurück. Das Herz tat ihr plötzlich wieder weh. Sie wußte es sofort, daß sie die kleine Annedore nun verloren hatte.

Den vereinten Bitten des Gutsbesitzers und seiner Frau gelang es schließlich, Frau Kaschuba dazu zu bewegen, näher zu treten. Glückselig zogen Annedore und Hanni die Mutter ins Haus.

Bald saß die ärmlich gekleidete Frau mitten unter den eleganten Geburtstagsgästen. Und nachdem sie sich erfrischt, bat Frau von Breskow sie herzlich, ihnen doch ihre Erlebnisse mitzuteilen.

Mit geballten Fäusten lauschte Annedore, und mit schwimmenden Augen der Hanni dem Bericht ihres Muttchens. Aber auch die Gäste alle hörten voller Interesse zu – die arme Frau in den zerrissenen Kleidern war der Mittelpunkt des vornehmen Kreises geworden.

Frau Kaschuba erzählte, wie die russischen Kosaken in ihr Heimatsdorf eingedrungen, Häuser, Scheunen und Ställe niedergebrannt und die wenigen dort Zurückgebliebenen als Gefangene nach Rußland geführt hatten. Sie berichtete von dem entsetzlichen Aufenthalt in dem schmutzigen russischen Kerker, bis es noch schlimmer kam. Da transportierte man die Ärmsten, die ohne jedes warme Kleidungsstück waren, nach dem eisigen Sibirien. Dort fiel ein großer Teil von ihnen dem Klima, dem Hunger und ansteckenden Krankheiten zum Opfer. Auch sie selbst war monatelang krank gewesen, wie durch ein Wunder war sie nur dem Tode entgangen. Eines Tages aber mußten sie wieder die Eisenbahn besteigen und viele Tage durch weite russische Steppen fahren. Diesmal aber mit ungleich leichterem Herzen. Hieß es doch, daß man deutsche und russische Gefangene austauschen wolle, und daß sie die Erlaubnis erhalten sollten, über Schweden heimzukehren. Nach tagelangen Irrfahrten, ohne Geld, auf die Mildtätigkeit der Menschen angewiesen, so hatten sie schließlich elend und abgerissen wieder das Vaterland betreten.

In ihr Heimatsdorf waren schon verschiedene zurückgekehrt, die bereits mit dem Aufbau ihrer Häuser begonnen hatten. Dort sprach Frau Kaschuba auch die Base Stine, bei der sie ihre Kinder gut aufgehoben glaubte. Aber zu ihrem Entsetzen hörte die arme Frau, daß die Base die Kinder bei der Flucht verloren habe und nichts von ihrem Verbleib wisse. Nur daß ihr Mann im Schützengraben gegen die Russen kämpfe und seine Adresse erfuhr sie in ihrer Heimat. Furchtbare Tage hatte die arme Mutter in der Ungewißheit um das Schicksal ihrer beiden Kleinen durchlebt, bis sie von ihrem Mann endlich auf ihre Anfrage die Nachricht erhielt, daß es den Kindern gut ginge, und wo sie sich befänden. Sie hatte sich sofort wieder aufgesetzt und war nach Danzig gefahren, um zuerst ihr Töchterchen wiederzusehen. Doch vergebens. Von Professor Kruse erfuhr sie, daß die Kleine ebenfalls auf Gut Tiemendorf wäre, und wie das Schicksal des Kindes sich gewandt habe. Nun sei sie gekommen, um nur einen Blick auf die geliebten Kinder zu werfen. Dann wollte sie wieder fort und sich durch ihrer Hände Arbeit den Lebensunterhalt schaffen.

Gerührt hatten die Umsitzenden dem schlichten Bericht gelauscht.

»Nein, Frau Kaschuba,« sagte Frau von Breskow mit Tränen in den Augen, »die Mutter hat die ersten Rechte an den Kindern. Ich sowohl, wie meine Schwester, wir treten selbstverständlich jetzt zurück, wenn es uns auch schwer ankommt.«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau, für all die Liebe, die Sie meinen heimatlosen Kindern haben zukommen lassen. Aber es wäre ein Unrecht von mir, wollte ich ihr Schicksal an mein armseliges Dasein ketten. Um unser Hab und Gut sind wir gekommen. Unser Häuschen und unsere Felder sind verwüstet. Ich weiß noch nicht, wie ich mich selbst durchs Leben schlage. Da ist es das Beste, ich überlasse die Kinder auch fernerhin Ihrer Güte, wenn Sie meine Kleinen behalten wollen. Ich wäre eine schlechte Mutter, würde ich sie aus dem sicheren Leben hier hinaus in mein Ringen ums tägliche Brot reißen.« Noch bleicher als zuvor war Frau Kaschuba. Man sah ihr an, wie schwer ihr diese entsagungsvollen Worte wurden.

Da aber rief Annedore, daß es laut durchs Zimmer schallte: »Nein – nein – ich bleibe bei meinem Muttchen! Ich will kein Komteßchen sein und in einer feinen Villa wohnen, wenn mein Muttchen arm und allein ist. Lieber will ich auch nur trockenes Brot essen, wenn ich bloß wieder bei meinem Muttchen sein kann!« Alle sahen auf das »Glückskind«, das in kindlicher Liebe ein Leben in Armut dem Reichtum vorzog.

Hanni sprach nicht. Nur seine großen Augen redeten. Und in denen konnte man es deutlich lesen, daß er ebenfalls wie seine Schwester dachte.

»Frau Kaschuba«, nahm da die Gutsherrin das Wort. »Sie haben gesprochen, wie nur eine Mutter es vermag, die selbstlos an nichts anderes, als an das Wohl ihrer Kinder denkt. Aber Sie haben genug Opfer gebracht. Ihre Kinder, Ihr höchstes Gut, sollen Ihnen nicht auch noch genommen werden. Königliche Hoheit hat dem kleinen Hans zur Belohnung für seine mutige Tat eine namhafte Summe zum Wiederaufbau seines Vaterhauses ausgesetzt. Und bis das Haus fertig ist, bleiben Sie mit Ihren Kindern hier auf Tiemendorf. Ich kann jetzt im Krieg, wo mein Mann fort ist, eine tüchtige Kraft, die in der Landwirtschaft Bescheid weiß, gut gebrauchen. Schlagen Sie ein!« Sie reichte ihr die Hand hin, und Tränen der Dankbarkeit perlten darauf aus Frau Kaschubas Augen.

Da zwang auch Gräfin Maria das selbstische Weh in ihrer Brust zurück. »Um Ihr Töchterchen machen Sie sich keine Sorgen, Frau Kaschuba«, sagte sie leise. »Für die kleine Annedore sorge ich, auch wenn sie nicht in meinem Hause ist. Denn ich habe das warmherzige Kind lieb gewonnen.«

»Ich besuche dich, Tante Maria, so oft du willst, komme ich zu dir«, versprach Annedore eifrig.

Da lächelte Tante Maria wieder.

Annedore aber dachte: »Jetzt erst bin ich ein richtiges Glückskind, weil ich bei meinem Muttchen bleiben darf!« – – – –

*

In einem Dorfe nahe der russischen Grenze steht ein nagelneues, weißes Häuschen mit lustigem roten Ziegeldach und grünen Fensterläden. Dort wohnen glückliche Menschen. Sie haben nur den einen Wunsch, daß der böse Krieg erst zu Ende und auch ihr Vater wieder bei ihnen sein möge.

Die beiden Flüchtlingskinder haben ihre Heimat wiedergefunden.

*


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