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10. Kapitel.
Wie aus fünfen ein halbes Dutzend wurde.

Auf dem Gute Tiemendorf saß man beim Nachmittagskaffee auf der rosenumrankten Veranda. Es war eine stattliche Schar Knaben, die sich da heiß und hungrig um den wachstuchbelegten Tisch drängte. Blauäugig, hellhaarig und braungebrannt, mit kräftigen Muskeln und überschäumendem Jugendfrohsinn – fünf an der Zahl. Der Älteste, Lothar, ging schon ins sechzehnte Lebensjahr, während Jörg, das Nesthäkchen, noch ein kleiner Daumenlutscher von vier Jahren war.

»Das gibt mal tüchtige Soldaten,« dachte Herr von Breskow in berechtigtem Vaterstolz, »die Jungen wissen ihre Fäuste zu gebrauchen.« Er trug selbst feldgraue Uniform und war heute nur auf einen Sprung aus der nahen Garnisonstadt, wo er als Hauptmann der Reserve Truppen ausbildete, herübergekommen, um nach dem Erntestand zu sehen. Bald würde auch er ins Feld rücken. Er konnte es wie alle andern kaum erwarten, herauszukommen. Nur seine zurückbleibende Frau machte ihm Sorge. Die hatte sich von dem Schicksalsschlag, der ihnen im vorigen Jahre ihr einziges siebenjähriges Töchterchen an einer tückischen Krankheit entrissen, noch nicht wieder erholen können. Blaß und still waltete sie ihres Amtes als Gutsherrin und Mutter. Selbst jetzt, während sie kaum Hände genug hatte, um all die Honigschnitten für ihre Sprößlinge zu streichen, wollte kein Lächeln ihr Gesicht erhellen. Und doch mußte einem das Herz im Leibe lachen, wenn man sah, wie es der hungrigen Gesellschaft mundete.

»Der Briefträger – der Briefträger –!« Drei Paar Jungenbeine setzten sich zu gleicher Zeit in Bewegung. Jeder wollte als erster die Post und die Zeitungen ergattern. Denn auf dem abgelegenen Gut brannte man auf Nachrichten vom Kriegsschauplatz wie allenthalben im deutschen Land. Edmund, der zweite, der die längsten Beine hatte, kam bereits mit den Postsachen zurück.

»Briefe für den Vater.«

Herr von Breskow öffnete sie.

»Kinder,« rief er, eins der Schreiben in der Hand, »was würdet ihr dazu sagen, wenn ihr wieder ein Schwesterchen bekämt?«

Die fünf saßen starr, die geöffneten Mäulchen vergaßen vor lauter Staunen, in das Honigbrot zu beißen. Machte der Vater Scherz?

Da aber sagte die Mutter, lebhafter als es sonst jetzt ihre Art war: »Hast du von der Elbinger Flüchtlingsstelle Nachricht, Georg?«

»Ja, morgen schon trifft unser neues Töchterchen ein. Sieben Jahr ist es, gerade so alt, wie unsere Irma war. Es stammt von einem kleinen Landgut an der Grenze. Die Eltern sind höchstwahrscheinlich beim Einfall der Russen ums Leben gekommen. Jede Spur fehlt von ihnen. Nun wird es mir leichter werden, dich hier zurückzulassen, mein gutes Herz, wenn ich ins Feld hinaus muß. Solche kleine Marjell ist doch ganz was anderes als fünf wilde Schlingel, was, Mutter?« Liebevoll schlang der Gutsbesitzer den Arm um seine Gattin.

Deren bleiches Gesicht hatte sich mit zarter Röte überzogen. »Morgen schon, Georg? Ei, da muß ich schnell das Zimmer von Irmchen noch herrichten lassen. Und ihre Wäsche und Kleider wollen wir für das kleine Mädchen einräumen. Auch die Puppen, den Puppenwagen und die Küche vom Boden herunterschaffen.«

Herr von Breskow hatte seine Frau seit dem Tode ihres Töchterchens nicht mehr so lebhaft gesehen. Also hatte er mit seinem Vorschlag, ein kleines, elternloses Mädchen von den ostpreußischen Flüchtlingen ins Haus zu nehmen, das Richtige getroffen. Seine Frau wurde von ihrem Schmerz abgelenkt und bekam wieder ein Töchterchen, für das sie sorgen konnte.

Die fünf jungen Herren von Breskow hatten sich inzwischen von ihrem Staunen erholt. Eine Flut von Fragen hagelte auf den Vater herab.

»Wie heißt das Mädel? Geht es schon in die Schule? Hat es blonde Zöpfe wie Irma? Ist es auch so lustig? Na, hoffentlich ist es keine Plärrliese!« so machten sich die übervollen Herzen Luft.

»Hanni heißt die Kleine – Hanni Kaschuba, weiter kann ich euch auch nichts berichten. Einen Bruder hat sie noch, der zu einem Professor Kruse nach Danzig gekommen ist, schreibt mir die Flüchtlingsstelle. Nun seid lieb und nett mit der kleinen Marjell, daß sie sich bald bei uns einlebt und heimisch fühlt. Lothar und Edmund, ihr beiden Großen, könnt sie morgen mit dem Jagdwagen von der Bahnstation abholen. Ich muß heute abend noch in die Garnison zurück.«

»Hurra – Hurra – –!« Lothar und Edmund sprangen so ungestüm jubelnd über das Ehrenamt, das ihnen wurde, von ihren Plätzen auf, daß die Stühle umpolterten.

»Hurra!« brüllten auch die Kleinen, um den Krach noch etwas größer zu machen.

»Mutti, wenn Jörg doß is, denn heirat' er die neue Hanni«, ließ sich plötzlich das Nesthäkchen nachdenklich vernehmen.

»Ach, Unsinn, du bist viel zu klein für sie, ich bin doch schon acht Jahr – etsch!« übertrumpfte ihn Werner.

»Ihr könnt sie alle beide nicht heiraten, erst kommen wir Großen ran.« Fritz, der mittelste, wachte stets ängstlich darüber, daß er zu den beiden Großen mitgerechnet wurde, und nicht zu den zwei Kleinen.

»Ei, Lothar und Edmund, wie ist's denn mit euch beiden, wollt ihr auch die Hanni heiraten?« lachte die Mutter. Wirklich, sie lachte zum ersten Male wieder.

»Erst muß ich mal sehen, ob sie nett ist«, meinte der Älteste, während Edmund, der jedes Ding gründlich tat, mit seiner Überlegung noch nicht fertig war.

»Also für die Kleine ist ausgesorgt«, der Vater lachte dröhnend. »Ihr heiratet sie alle fünfe. So, und nun ist die Vesperstunde zu Ende, und es geht wieder an die Arbeit. Kommt, ihr Großen, ihr sollt auf dem Felde beim Aufladen der Garben helfen. Können jetzt nicht Hände genug haben, wo das Mannsvolk alles zu den Waffen geeilt ist. Jungdeutschland muß daheim seine Vaterlandspflichten erfüllen.«

»Das tue ich auch, Vater, ich bin heute den ganzen Vormittag als Landbriefträger von Dorf zu Dorf geradelt«, stolz leuchteten Lothars blaue Augen.

»Und ich habe die Liebesgaben für die durchfahrenden Feldgrauen zur Bahnstation gebracht«, Edmund wollte nicht zurückstehen.

Der Vater und die großen Jungen griffen nach ihren Mützen.

»Inzwischen werde ich mit Werner und Jörg alles zum Empfang unserer kleinen Schwiegertochter herrichten«, scherzte die Mutter. Herr von Breskow war glücklich, daß seine Frau wieder scherzte. Das gewann der kleinen Hanni schon im voraus sein Herz. In der Tür wandte er sich nochmal zurück. »Na, Fritz, und wie ist's mit dir, ich denke, du gehörst zu den Großen. Zehnjährige Knabenarme sind nicht zu verachten, willst du nicht mit aufs Feld?«

»Ich – ich –« stotterte Fritz und machte eine Pause. Heute wäre er mal ausnahmsweise viel lieber zu den Kleinen gezählt worden. Denn es war entschieden interessanter, das Spielzeug für das neue Schwesterchen vom Boden herunterschaffen zu helfen, als bei der Bärenhitze Garben aufzuladen. »Ich glaube, es ist wohl besser, wenn ein Großer hier beim Einräumen dabei ist«, kam es schließlich möglichst selbstbewußt heraus.

»Na, Mutter genügt schon dafür, aber wie du willst, Fritz, auf Wiedersehen!« Der Gutsbesitzer schritt mit seinen beiden Ältesten durch den Gemüse- und Obstgarten den in prallem Sonnenlicht sich dehnenden Feldern zu.

Fritz bereute es nicht, daheim geblieben zu sein. War das lustig, all die hübschen Spielsachen, welche die Mutter seit dem Tode ihres kleinen Lieblings sorgsam verschlossen hielt, wieder bewundern und einräumen zu können. All die Puppen, das Himmelbett mit der mattblauen Seidendecke, die Küche mit der Wasserleitung und dem Kohlenkasten, für den die Kinder kleines Holz sammelten. Dann die Puppenstube, das Waschfaß mit Leine und Klammern – feuchten Auges hielt Mutter sie gerade in der Hand.

»Wie gern hat unser Irmchen ihre kleine Puppenwäsche draußen auf dem Rasenplatz zum Trocknen aufgehängt«, sagte sie leise. »Aber wir wollen nicht undankbar sein. Das kleine Mädchen, das der liebe Gott uns morgen ins Haus führt, hat noch mehr verloren, seine beiden Eltern und seine Heimat.«

Nun war alles zum Empfang der kleinen Hausgenossin bereit. Zufrieden überflog Frau von Breskow ihr Werk. Die kleine Hanni sollte sich bei ihnen wohl fühlen. Wie wollte sie das neue Töchterchen an ihr Herz nehmen und lieb haben – für ihre fünf Jungen blieb immer noch genug Mutterliebe übrig.

Nie waren die Stunden so langsam gekrochen, wie am nächsten Tage. Kaum hatte in aller Frühe der Hahn gekräht, da begann auch schon Klein-Jörg, der noch bei der Mutter schlief, zu krähen.

»Mutti, is heut' Freitag?«

»Ja,« gähnte die Mutter, »gleich legst du dich wieder hin und schläfst.«

»Ei nein, Mutti, denn muß Jörg sell auftehn, die neue Hanni wird dleich tommen.«

»Aber Jungchen, der Zug kommt doch nicht morgens um vier, sondern erst nachmittags«, beruhigte ihn die Mutter.

Auch die Größeren konnten die Zeit nicht erwarten. Fritz und Werner hatten die Kinderstubenuhr eine Stunde vorgestellt, damit es rascher gehen sollte. Lothar und Edmund, die sonst ihre jungen Kräfte begeistert dem Vaterlande weihten, machte ihr Dienst heute vormittag wenig Freude. Daß sie bloß nicht die Zeit versäumten!

Und nun war es endlich soweit.

Die Apfelschimmel scharrten. Sie schienen ebenso ungeduldig wie die fünf Jungen. Lothar ergriff die Zügel, Edmund die Peitsche.

»Bitte, bitte, Mutti, laß mich doch als Lakai hinten aufsitzen«, bat Fritz. Heute wollte er wieder zu den Großen gerechnet werden.

Die Mutter nickte lächelnd.

»In einer halben Stunde sind wir mit der Marjell wieder da!« Der Wagen bog in die Pappelallee, die zur Bahnstation führte, ein.

Natürlich kamen sie noch viel zu früh. Aber jetzt war es auf jedem Bahnhof interessant, wo so viele Truppenzüge durchkamen, selbst hier auf dieser kleinen abgelegenen Station.

Und schließlich fuhr auch der Zug von Elbing her, schnaufend und prustend, dicke Dampfwolken vor sich herstoßend, ein.

Die drei Jungen, die sich sonst nicht vor Tod und Teufel fürchteten, fühlten plötzlich ihre Herzen lauter schlagen.

»Quatsch,« sagte Lothar zu sich selbst, »wegen so 'ner kleinen Marjell!«

Aber wo war denn das kleine Mädchen?

Nur wenige stiegen auf dieser Dorfstation aus. Ein paar Bauernweiber mit Kiepen auf dem Rücken, der Herr Kreistierarzt und eine fremde Dame, einen Jungen an der Hand.

Nirgends eine Spur von dem erwarteten Pflegeschwesterchen.

Die Dame sah sich suchend um. Dann schritt sie auf den Bahnvorsteher mit der roten Mütze zu, an den sie eine Frage richtete.

Der Mann wies nach dem Breskower Jagdwagen. »Da ist Fuhrwerk aus Tiemendorf«, deutlich hörten die drei Jungen seine Worte in der Nachmittagsstille.

Nanu, was wollte denn die fremde Dame mit ihrem Söhnchen bei ihnen? Mutter erwartete doch keinen Besuch.

Da stand die Dame auch schon neben dem Jagdwagen, auf dessen Bock Fritz, stolz, daß er die Zügel halten durfte, thronte.

»Ihr seid die Breskowschen Jungen aus Tiemendorf?«

»Jawohl«, die drei zogen höflich die Mützen und sahen die Fremden neugierig an.

»Na, Hanni, dann sage mal deinen Pflegebrüdern ›Gutentag‹«, redete sie dem Kleinen an ihrer Hand, der seinen Kopf vor grenzenloser Schüchternheit tief zur Erde gesenkt hielt, aufmunternd zu.

Die Folge davon war, daß sich der Flachskopf noch tiefer zur Erde bohrte.

Die drei Breskowschen Jungen standen mit den schlauesten Gesichtern von der Welt da.

»Pflegebrüder – hatten sie recht gehört? Ja, war denn das die kleine neue Schwester, die sie erwarteten? Das war doch ein Junge, und ein grützdämlicher dazu, wie es schien, daß er sich so angstvoll hinter die Dame verkroch und nicht hochzugucken wagte.

Da keiner ein Wort sprach, begann die Dame von neuem: »Ei, Kinder, seid doch nicht so steif miteinander. Reicht dem Hanni die Hand, er ist schüchtern und ein wenig bange vor der neuen Heimat.«

Also doch!

Lothar gab sich als ältester einen Ruck. »Aber – aber – Hanni ist doch ein Mädel«, stieß er noch ganz entsetzt hervor.

»Ein Mädel?« Die Dame verstand ihn nicht.

»Na ja,« fiel nun auch Edmund ein, »wir sollen unser neues Pflegeschwesterchen Hanni Kaschuba von der Bahn abholen, aber doch keinen Jungen.«

»Jungens sind wir schon alleine genug«, rief Fritz, welcher der dreisteste war, grenzenlos enttäuscht dazwischen.

Die Dame schüttelte ganz bestürzt den Kopf.

»Da muß eine Verwechselung vorliegen, Kinder. Aber nun müßt ihr den kleinen Hanni schon mit euch heimnehmen. Ich will mit dem Zug, der in zwanzig Minuten kommt, weiter nach Königsberg und habe meine Reise hier nur unterbrochen, um den Kleinen abzuliefern. Sollte es euren Eltern nicht recht sein, daß sie statt des erwarteten kleinen Mädchens einen Jungen bekommen haben, können sie sich ja immer noch an die Elbinger Flüchtlingsstelle wenden. Leb' wohl, kleiner Hanni. Möge es dir in deiner neuen Heimat gut ergehen!« Die Dame neigte sich zu dem ihr anvertrauten Kinde und küßte es abschiednehmend auf die Stirn.

Aber Hanni gab die Hand der Dame nicht frei. Nur um so fester hielten seine kleinen Finger die ihren umklammert.

»Wollen wir den Jungen denn wirklich mit heimnehmen?« Lothar fragte es flüsternd, aber immer noch laut genug, daß Hanni es verstand.

»Was wird die Mutter bloß dazu sagen! Sie hat sich so auf ein Mädel gefreut.« Auch Edmund wußte nicht, ob sie es wagen sollten, den Eltern statt des Töchterchens den sechsten Jungen ins Haus zu bringen.

»Ach, und wir wollten sie doch alle fünfe heiraten! Und Irmchens Puppen und Küche und all die schönen Kleider, das geht doch gar nicht, daß ein Junge das alles bekommt«, rief Fritz empört.

Aber der kleine Hanni wollte gar nicht all die Herrlichkeiten besitzen. »Ich möchte nicht mit den fremden Jungen fahren – ich will bei dir bleiben, Tante. Bitte, bitte, behalte mich doch!« bat er flehentlich, während die Tränen zu kullern begannen.

Na, das sollte ihnen fehlen, solch einen Heulpeter ins Haus zu kriegen!

Während die Dame dem Kleinen, dessen Vertrauen sie unterwegs gewonnen, leise zusprach, stiegen die drei jungen Herren von Breskow kurz entschlossen wieder auf ihren Wagen. Lothar ergriff die Zügel, Edmund die Peitsche und Fritz schnalzte, um auch etwas dabei zu tun, mit der Zunge. Aber ehe die Apfelschimmel sich in Bewegung gesetzt, hatte die Dame den kleinen Hanni, der ein sanftes, nachgiebiges Kind war, in den Wagen hinaufgehoben.

»So, nun fahrt mit Gott!« Sie winkte dem in einer Staubwolke verschwindenden Gefährt nach.

Hanni bemerkte es nicht. Der saß neben Fritz auf dem Hintersitz des Jagdwagens und hielt jetzt, statt der Hand der Dame, ängstlich das Wagengeländer umklammert. Denn die Rosse waren feurig und der Weg holprig.

»Banghas!« sagte Fritz verächtlich, als er sah, daß der kleine Fremde sich nicht loszulassen getraute.

Dieser liebevolle Willkommensgruß war nicht dazu angetan, Hannis Scheu zu überwinden. Er fühlte es in seiner kleinen Seele, wie enttäuscht man von seinem Erscheinen war, und wie wenig freundlich die Jungen ihm entgegenkamen. Aber hätte er erst gewußt, daß Lothar allen Ernstes überlegte, ob es nicht richtiger sei, den fremden Knaben einfach auf der Landstraße abzusetzen, anstatt ihn der Mutter ins Haus zu bringen, dann wäre er sich wohl noch viel verlassener vorgekommen.

»Hanni heißt du – das ist doch gar kein Jungenname«, eröffnete Fritz, der nicht lange schweigen konnte, die Unterhaltung.

Da ihm keine Antwort wurde, gab er dem Nebenihmsitzenden einen freundschaftlichen Rippenstoß. Hanni schrie auf. Denn wenn die Breskowschen Jungen auch bloß Freundschaftspüffe austeilten, fühlte man sie noch tagelang nachher.

»Bist wohl aus Marzipan?« höhnte Fritz, und damit war die Unterhaltung wieder zu Ende.

Vor dem Säulenportal hatte die Mutter mit ihren beiden Kleinsten Aufstellung genommen, um das neue Töchterchen gleich zu begrüßen.

»Sie kommen« – »sie tommen!« in höchster Aufregung sprangen Werner und Jörg dem Wagen entgegen.

»Hurra« – brüllten sie zum Willkomm und nochmals »Hurra!«

»Mutter,« schrien Lothar und Edmund in nicht weniger großer Aufregung, noch ehe der Wagen hielt, herab, »Mutter, die Hanni ist ja gar kein Mädel!«

Frau von Breskow sanken die Arme, die sich eben ausgestreckt hatten, um das Pflegetöchterchen warm an das Herz zu ziehen, in jähem Schreck herab.

»Barmherziger Himmel, der sechste Junge – haben an unsern wilden fünf noch gar nicht genug, nun ist das halbe Dutzend voll!« Dann aber wandte sie sich vorwurfsvoll an die vom Wagen steigenden Söhne: »Ja, Kinder, was soll denn das heißen? Ihr habt doch Auftrag, die kleine Hanni Kaschuba von der Bahn zu holen und nicht irgendeinen andern Jungen.«

»Hab' ich ja auch gesagt, Mutter. Aber die Dame, die den Jungen brachte, behauptete doch: Das wäre die Hanni Kaschuba«, verteidigte sich Lothar.

»Und wenn's nicht stimmt, dann sollt ihr an die Flüchtlingsstelle in Elbing schreiben«, setzte Edmund hinzu.

»Heißt du wirklich Hanni Kaschuba?« Frau von Breskow richtete zum erstenmal das Wort an den Kleinen.

Der nickte scheu, sprechen konnte er nicht. Denn die Tränen über den Schreck, den er allenthalben hervorrief, würgten ihn wie ein großer Kloß im Halse.

»'Ne mächtige Bangbüchse ist er, und ein Heulerich dazu«, schrie Fritz und sprang mit einem Satz vom Wagen.

Als ob Hanni sich verpflichtet fühlte, Fritzens Worte gleich wahr zu machen, begannen seine Tränen wieder zu fließen. Leise weinte er in sich hinein.

Da siegte Frau von Breskows gutes Herz. Wer selbst Schmerz erlitten, vermag anderer Schmerz doppelt mitzuempfinden. Hier war ein elternloses Kind, das hoffte, eine Heimat bei ihnen zu finden. Und waren sie auch noch so enttäuscht, der arme Kleine sollte darunter nicht leiden.

So streckten sich die Arme der Gutsherrin aufs neue aus, hoben den überraschten Hanni vom Wagen und schlossen ihn, zur nicht weniger großen Überraschung ihrer fünf Sprößlinge, fest ans Herz.

»Sei uns willkommen, mein Kleiner. Mögest du dich in unserm Hause wohlfühlen. Ich will dein Mutterchen sein«, so flüsterte sie ihm liebevoll ins Ohr.

Da ging es wie eine Erlösung durch die verängstigte kleine Seele. Fest schmiegte das liebebedürftige Kind den Kopf an die Brust der fremden Frau. Deutlich fühlte es der kleine Hanni bei den guten Worten: Was ihn auch immer in diesem Hause erwartete, hier, bei seiner neuen Pflegemutter, würde er eine Heimat finden. Und leise, ganz leise, nur ihr verständlich, flüsterte der scheue Kleine: »Ich will dich lieb haben!«


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