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9. Kapitel.
Professors Pflegetöchterchen.

Hatte die kleine Annedore schon den ersten Tag das stille Haus des Professors auf den Kopf gestellt, so war dies in den folgenden Tagen noch viel mehr der Fall. Denn bei der Ankunft hatte sich die Kleine doch immerhin noch etwas fremd in der neuen Umgebung gefühlt. Aber bald war sie in den schön aufgeräumten Zimmern ganz heimisch, und da kam ihre lebhafte Wildheit naturgemäß wieder zum Ausbruch.

Schön aufgeräumt – ach, Tante Georgine, die bis ins kleinste ordentlich und akkurat war, hatte gar keine Freude mehr an ihrer Wohnung. Stets lag jetzt etwas herum. Auf dem einen Stuhl ein zerschlagenes Puppenbein, auf dem andern ein abgegangenes Strumpfband. Verlorene Zopfbänder fanden sich allenthalben auf dem Fußboden. Aber damit war's noch nicht getan. Auch Papierschnitzel bedeckten jetzt Stühle, Tisch und Boden. Annedore machte Helme aus Zeitungspapier für sich und Hektor, ja auch für den Professor, Tante Georgine und Minna. Jeder mußte einen Helm mit einem Federbusch aufsetzen, denn es war ja Krieg.

Onkel Adalbert fügte sich lächelnd. Die gutmütige Minna war keine Spielverderberin, aber Tante Georgine, die nie an Kinderscherze gewöhnt war, wollte durchaus den Helm nicht aufsetzen.

»Dann bist du keine gute Deutsche, Tante Gine«, behauptete der kleine Frechdachs.

Da ließ sich auch die Tante herbei, den Federbuschhelm auf das graue Haupt zu drücken. Merkwürdig genug nahm sich ihr verhutzeltes Gesicht freilich darunter aus. Ja, Annedore brachte es sogar mit ihren stürmischen, liebenswürdigen Bitten fertig, daß die alte Tante Gine den Staubwedel als Gewehr schulterte und mit ihr exerzierte. Sie selbst war der Leutnant, Tante Georgine und Hektor die feldgrauen Rekruten. Es ist schwer zu sagen, wem von beiden das Exerzieren mehr Mühe machte, dem alten Fräulein oder dem nicht weniger steifen Vierfüßler.

Aber das war doch nicht Annedores Schuld, daß gerade, als sie mit schnarrender Stimme, wie sie es auf den Exerzierplätzen hörte, »linksum kehrt ganze Kompagnie« kommandierte, der alte Herr Geheimrat Wedel zur Tür hereintrat.

»Na, Fräulein Kruse, nun werden wir auf unsere alten Tage noch mal jung«, lächelte er in liebenswürdiger Weise und schulterte sogleich seinen Stock mit dem Silberknauf, um mitzumarschieren. Aber der Tante Georgine war die Sache äußerst peinlich. Blutrot riß sie den Papierhelm vom Kopf, daß sich auch das schwarze Spitzenhäubchen, welches sie stets trug, löste und wie eine Trauerfahne in der Luft herumwehte.

»Entschuldigen Sie nur, Herr Geheimrat, daß Sie mich alte Person bei solchen Kindereien antreffen. Aber die Annedore stellt ja das ganze Haus auf den Kopf und uns ruhige, verständige Leute dazu. Ach Gott, verzeihen Sie nur, daß es hier so liederlich aussieht«, Fräulein Georgine suchte Papierschnitzel, Zopf- und Strumpfband eiligst zusammen. »Aber, weiß Gott, früher war es ordentlich bei mir, da konnte man vom Fußboden essen!« Ein schwerer Seufzer folgte.

»Ihre Ordnungsliebe ist ja stadtbekannt, verehrtes Fräulein«, tröstete der Herr Geheimrat. »Ich komme ja auch nicht her, um mir Ihre Wohnung anzusehen, sondern um Ihr Pflegetöchterchen mal in Augenschein zu nehmen. Na, antreten, Herr Leutnant, stramm gestanden!« Der alte Hausarzt sah lächelnd auf das bildhübsche kleine Mädel, das die Finger salutierend an den Papierhelm legte.

»Ei, schaut ja ganz famos aus, wie Milch und Blut, da haben Sie einen guten Griff getan, Fräulein Kruse.«

»Ja, meinen Sie, Herr Geheimrat?« Das klang recht wenig überzeugt. »Eigentlich sollte es ein stiller, kleiner Junge sein und nicht solch ein lebhaftes, quecksilberiges Ding, aber – nun ist es doch mal da.«

»Sie werden es mit Ihrem warmen Herzen gewiß lieb gewinnen, Fräulein Kruse. Und für meinen verehrten Freund, den Professor, ist es eine nette Abwechslung und Anregung.«

»Zuviel Abwechslung, und mehr Aufregung als Anregung, lieber Herr Geheimrat. Jede Stunde bringt uns fast eine Überraschung. Annedore sorgt stets dafür, daß man nicht zur Ruhe kommt. Wir haben uns unser Pflegekind ganz anders vorgestellt.«

»So tauschen Sie das schlimme kleine Fräulein doch um«, scherzte der alte Geheimrat, dem es die strahlenden, braunen Kinderaugen angetan hatten.

»Oder – oder vielleicht kann ich den Onkel Adalbert und die Tante Gine gegen dich umtauschen, Herr Geheimrat, du bist viel lustiger«, schlug das kleine Mädchen freundschaftlichst vor. »Und mein Hannibruder könnte hierher zu Tante Gine kommen, der ist tausendmal artiger als ich und macht gar keinen Krach«, setzte sie in edler Selbsterkenntnis hinzu. »Dann wären wir doch wenigstens in einer Stadt.« Wie sehnsüchtig die lustigen Braunaugen plötzlich dreinschauten.

»Ei, da nehmen Sie doch alle beide, verehrtes Fräulein«, meinte der Geheimrat neckend.

»Der Himmel bewahre uns!« Tante Gine machte ein so entsetztes Gesicht, daß selbst Annedore lachen mußte, trotzdem es doch für sie ganz und gar nicht schmeichelhaft war.

»Wir haben schon an Annedore und ihrem Hunde mehr als genug. Sehen Sie, Herr Geheimrat, da haben Sie gleich eine kleine Probe. Annedore, willst du wohl aus meinen Blumenstöcken heraus! Nein, den schönsten Zweig hast du mir ja abgebrochen, Kind!« Fräulein Georgine eilte zu ihren mißhandelten Lieblingen, die sie wie ihren Augapfel behütete.

Draußen zogen Feldgraue, blumengeschmückt, mit »Gloria – Viktoria« die Straße entlang, da hatte die neugierige Kleine natürlich den Kopf zum Fenster hinausstecken müssen. Bestürzt sah sie jetzt auf das Unheil, das sie angerichtet.

»Ach, Tante Gine, der Zweig wächst ja wieder zusammen, den kleb' ich einfach an.« Annedore war nie um einen Ausweg verlegen. Sie leckte an dem Zweig, drückte ihn gegen den Pelargonienstock und – da lag auch der zweite Zweig abgeknickt in den Kinderhänden.

»Unnützes Mädchen!« Ein Klaps brannte auf Annedores Finger. Ganz erschreckt sah die Kleine auf die sonst stets sanfte Tante. Muttchen war niemals böse gewesen, wenn sie mal aus Versehen ein Zweiglein abgerissen, es gab ja so viele daheim im Garten.

»Sei nicht traurig, Tante Gine, wenn ich erst wieder zu Hause bei meinem Muttchen bin, schicke ich dir einen neuen, noch viel schöneren Blumentopf«, versprach sie eifrig.

Konnte man diesen bettelnden Kinderaugen wohl böse sein? Tante Gine, deren gutem Herzen der Klaps bereits leid tat, zog die Kleine zu sich heran und küßte sie verzeihend auf die Stirn. »Na, lauf' in den Garten, hier machst du doch nichts als Dummheiten«, sagte sie schon wieder lächelnd.

Annedore pfiff ihrem Hektor, knickste vor dem Herrn Geheimrat und – hui – da war sie auch schon wie ein Wirbelwind zum Zimmer hinaus, die Tür weit hinter sich offen lassend.

»Annedore, schließe die Tür.« Aber der Wildfang hörte nicht mehr. »Sehen Sie, Herr Geheimrat,« wandte sich Fräulein Georgine jetzt an den Freund des Hauses, »so geht es täglich und stündlich. Ich fürchte, meine Nerven werden dabei aufgerieben. Und die Kleine selbst müßte in strengere Hände. Ich bin zu schwach für das ausgelassene Kind und verstehe zu wenig von Kindererziehung.«

»So werden Sie es lernen, Verehrteste. Wir müssen ja jetzt im Kriege alle umlernen. Sie haben doch eine so gute Stütze an unserm Professor – da kommt er ja gerade – 'n Tagchen, alter Freund, freut mich, daß ich dich noch spreche.«

Die beiden Herren schüttelten sich die Hände.

»Habe bloß mal die neuesten Kriegsdepeschen gelesen, es geht tüchtig vorwärts im Westen. Und im Osten wird Hindenburg den Russen auch bald die Flötentöne beibringen. Aber du hast ja nicht mal eine Zigarre bekommen. Schnell 'nen Aschbecher, Ginchen«, der Professor reichte dem Geheimrat seine Zigarrentasche.

»Nanu, sollen wir etwa Murmeln spielen?« lachte der, auf den Aschbecher weisend, den Fräulein Georgine ihm hinsetzte.

»Nein – die Annedore – nichts ist vor dem Mädel sicher! Jetzt benutzt sie auch schon die Sachen meines Bruders, die nicht mal die Minna abstauben darf, für ihr Spielzeug«, klagte das alte Fräulein.

»Wir werden dem Kinde ein Schränkchen für seine Spielsachen und Schulbücher besorgen, daß es Ordnung halten kann«, überlegte der Professor. »Aber wo steckt es denn, unser kleines Fräulein? Es ist bald Zeit zur Schulstunde. Ich unterrichte sie nämlich ein paar Wochen selbst, daß sie zu Oktober in die Klasse kommen kann, in die sie ihrem Alter nach hineingehört. Ihre Dorfschule daheim scheint nicht besonders gewesen zu sein«, berichtete er, zu dem Freunde gewandt.

»Das Mädel sieht mir aus, als ob es einen offenen Kopf hat, das wird es dir nicht allzu schwer machen.«

»Doch, Wedel, wenn nur nicht soviel Dummheiten in dem Kopf Platz hätten. Lieber unterrichte ich eine ganze Klasse Jungen, als ein einziges Mädchen. Das hat ewig was anderes im Sinn – es ist kein Ernst in solchem Mädchenschädel – – –«

»Tante Gine – Tante Ginchen –« laut jubelnd und blaffend kam es da wieder zur Tür hereingestürmt – Annedore und Hektor. In der Luft schwenkte die Kleine ein Sträußchen: »Tante Gine, das schenke ich dir, damit du nicht mehr traurig über den abgebrochenen Zweig bist. Jetzt freust du dich, nicht?« Erwartungsvoll hielt Annedore der Tante ihr Sträußchen an die Nase.

Aber Tante Gine sah durchaus nicht aus, als ob sie sich freue.

»Stiefmütterchen – –?« sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen.

»Ja, die allerschönsten habe ich für dich gepflückt, sieh mal, gelbe sind auch dabei,« die Kleine hopste vor Freude auf und nieder.

»Unsere Stiefmütterchen, Adalbert, die wir eigenhändig gesät. Wie haben wir uns tagtäglich über die kleinen Pflänzchen gefreut, bis die ersten Blüten herauskamen. Und nun reißt uns dieses nichtsnutzige Kind alle Blumen ab! Habe ich dir nicht verboten, im Garten etwas zu pflücken?« wandte sie sich, vor Ärger und Empörung Tränen in den Augen, an die ganz bestürzt dastehende Kleine.

»Ich – ich dachte, du wirst dich freuen. Muttchen hat sich immer gefreut, wenn wir ihr ein Sträußchen gepflückt haben. Ich – ich will wieder zu meinem Muttchen nach Haus!« Mit zuckenden Lippen wurde das letzte trotzig herausgestoßen. Aber weinen tat Annedore nicht so leicht. Ebensowenig, wie Peter einst geweint hatte.

»Das Kind hat's gut gemeint, Fräulein Kruse. Wolltest der Tante eine Freude machen, nicht?« nahm sich der nette Herr Geheimrat seiner kleinen Freundin an.

»Ein andermal wirst du gehorsam sein, Annedore. Im Gärtchen nicht auf den Rasen laufen und nichts abpflücken, nicht wahr, Kind?« mischte sich auch jetzt Onkel Adalbert hinein.

»Ach, dann will ich gar nicht mehr in euren ollen Garten. Das ist ja langweilig, wenn man bloß immer auf dem einen Weg bleiben muß und nichts pflücken darf«, rief Annedore durchaus nicht einverstanden.

Tante Gine betrachtete inzwischen mit schmerzlichen Blicken ihre Stiefmütterchen. Da fiel ihr Blick auf den Faden, mit dem sie zusammengebunden waren. Es war feldgraue Wolle.

»Annedore, wo hast du den Wollfaden her?« examinierte sie, nichts Gutes ahnend.

»Ach, den habe ich mir von deinem Knäuel abgerissen, bloß 'n Endchen, du hast ja noch soviel Wolle, Tante Gine.«

»An mein Strickzeug bist du gegangen und hast mir den Faden durchgerissen?« Tante Gine konnte es gar nicht fassen, daß jemand das wagte. »Ja, ist denn nichts vor dir sicher? Erst gestern sagte ich dir, als du mir die Stricknadeln aus den Maschen gezogen hattest – – –«

»Das war ich nicht, das war Hektor«, verteidigte sich die Kleine.

»Glauben Sie es nun, Herr Geheimrat, daß ich diesen ständigen Aufregungen nicht gewachsen bin? Ich fühle es schon wieder, daß ich meine Migräne bekomme. Ach, das hätte ich vorher wissen sollen!« trübselig nickte die Tante vor sich hin.

»Das kleine Fräulein wird schon Vernunft annehmen. Es will doch sicher die Tante, die so gut für sie sorgt, nicht ärgern, was?« Der Geheimrat hob den gesenkten Kopf der kleinen Sünderin zu sich empor.

Annedore schüttelte ihn, daß die Zöpfchen flogen.

»Ich kann doch nichts dafür, wenn gerade das, was ich tue, immer nicht erlaubt ist. Hier in Danzig sind ganz andere Sachen verboten als zu Hause«, beschwerte sie sich.

Die beiden alten Herren mußten lachen.

»Na, allmählich wirst du's wohl lernen, Annedore, was hier nicht erlaubt ist. Ei, da schlägt es ja schon elf – verzeihe, lieber Freund, aber es ist notwendig, daß wir unsere Schulstunde pünktlich innehalten.« Damit verabschiedete sich der Professor, Annedore in sein Studierzimmer voranschreitend.

»Nanu, noch nichts zurechtgelegt? Jeden Tag muß ich dich daran erinnern, Annedore, daß du vor der Stunde Schulbücher und Hefte holen sollst«, tadelte der Lehrer.

»Morgen vergesse ich es bestimmt nicht wieder, Onkel Adalbert, da mache ich mir zwei Knoten, einen ins Taschentuch und einen in die Nase,« lachend sprang der Strick davon, das Fehlende zu holen.

Nun konnte die Schulstunde beginnen.

»Deine häusliche Arbeit«, verlangte der Professor.

»Sie ist nicht sehr schön, Onkel Adalbert«, bereitete die kleine Schülerin ihn schonend vor. »Hektor war neugierig und hat meine Diktatabschrift beschnüffelt. Da hat er die Tinte mit seiner Schnauze ausgewischt. Gut, daß seine Schnauze sowieso schon schwarz war, nicht?«

Onkel Adalbert lachte nicht, wenn es auch um seine Mundwinkel zuckte. Er war jetzt ganz und gar strenger Lehrer. »Solche liederliche Arbeit wünsche ich nicht wieder zu sehen. Wenn du Schularbeiten zu machen hast, hat der Hund nichts im Zimmer zu suchen, merke dir das.«

»Aber der mopst sich dann doch so voll, der arme Hektor«. warf Annedore traurig ein.

Der Professor hatte inzwischen in seinen sämtlichen Taschen zu suchen begonnen. »Das verstehe ich nicht, ich habe sie doch heute morgen beim Zeitunglesen gehabt, liegt sie etwa auf dem Schreibtisch?« Auch dort fing er an unter Büchern, Blättern und Briefen zu kramen.

Annedore sah interessiert zu.

»Soll ich dir helfen, Onkel Adalbert – was suchst du denn eigentlich?«

»Meine Brille, Kind, meine blaue Brille. Das leere Futteral liegt hier an seinem Platz, aber die Brille – oder sehe ich sie nur nicht, weil ich keine Brille aufhabe? Schau du mal zu, Kind, du hast junge Augen. Ich kann ja ohne Brille gar nicht deine Arbeiten korrigieren.«

Annedore wurde rot. Sie schwankte. Daß ihre Arbeiten nicht durchgesehen werden konnten, war ihr höchst erwünscht, aber ihre Ehrlichkeit trug den Sieg davon.

»Onkel Adalbert, ich weiß, wo deine Brille ist, ich hole sie gleich«, sie lief davon und kam mit der Gesuchten zurück.

»Da«, sagte sie und hoffte, daß die Angelegenheit damit erledigt sei.

»Wo war sie denn?«

»Im Garten.«

»Im Gärtchen, ja, aber ich bin doch heute überhaupt noch nicht in unserm Gärtchen gewesen«, verwunderte sich der Onkel.

Nun half es nichts, Annedore mußte beichten.

»Ach, Hektor und ich wir beide haben vorhin Schule gespielt. Ich war der Lehrer und damit er auch Respekt vor mir hat, habe ich mir deine blaue Brille dazu aufgesetzt. Da sah ich genau wie du aus, Onkel Adalbert. Aber ich habe sie nicht entzwei gemacht, bloß ein kleiner Sprung ist drin. Muttchen sagt immer: ›Töpfe, die einen Sprung haben, halten am allerlängsten.‹« Wie ein Mühlrad ging das Plappermäulchen.

»Was – ein Sprung ist in meiner Brille?« Der Herr Professor machte vor Schreck selbst einen Sprung von seinem Stuhle auf. »Das ist ja unerhört, daß du dich an meine Sachen wagst. Wo ich meine Brille so notwendig brauche – Annedore, jetzt sage ich es dir zum letztenmal: Dinge, die mir gehören, sind kein Spielzeug für dich!« So ärgerlich hatte Annedore Onkel Adalbert seit ihrer fast zweiwöchigen Anwesenheit im Hause noch nicht gesehen.

Zerknirscht senkte sie das dunkelblonde Köpfchen.

»Ich werde deine Brille nie mehr nehmen, Onkel, nie mehr! Wenn ich mal eine ganz notwendig zum Schulespielen haben muß, dann hole ich mir lieber Tante Gines Brille, die braucht sie doch nicht so nötig, wie du«, versprach die Kleine treuherzig.

»Unterstehe dich – Tantes Sachen werden ebensowenig angefaßt wie meine«, der Professor stieß einen hörbaren Seufzer aus. Hatte seine Schwester nicht recht, daß mit dem Kinde nicht fertig zu werden war? Muteten sie sich nicht wirklich zuviel zu auf ihre alten Tage?

»Nimm dein Lesebuch vor, die Abschrift werde ich nachmittags durchsehen, wenn ich ein neues Glas in meiner Brille habe«, unterbrach der Professor schließlich sein Grübeln.

»Onkel Adalbert – – –«

»Ja – woran liegt's denn noch?«

»Onkel Adalbert, ach bitte, können wir heute nicht mal aus dem Herzblättchen vorlesen? Das olle Lesebuch ist langweilig und hier stehen so schöne Geschichten drin. Ach bitte, ja?« Mit einem Satz war der Wildfang auf dem Knie des Lehrers und streichelte bettelnd sein runzliges Gesicht

Der Herr Professor saß starr. Vierzig Jahre lang hatte er unterrichtet, fleißige und faule Schüler. Aber daß ein Schüler statt aus dem Schulbuch aus einem Geschichtenbuch lesen wollte und ihm, dem Lehrer, außerdem noch auf den Schoß sprang und ihn streichelte, nein, das war ihm doch noch nicht vorgekommen. Stimmte es nicht, wenn er sagte, lieber eine Klasse mit fünfzig Jungen, als ein einziges Mädchen?

»Nicht wahr, du erlaubst es, Onkel Adalbert? Es ist ja noch ein Buch aus Tante Gines Kinderzeit.«

»Geschichtenbücher sind nach getaner Arbeit gut, jetzt wird erst die Pflicht erfüllt, Kind – flink, das Lesebuch!«

Der Professor nahm all seine Strenge zusammen, denn die braunen Augen baten und bettelten mit den streichelnden Kinderhändchen um die Wette.

Die Uhr, die nebenan unter der Glasglocke auf dem Kamin stand, ließ zwölf feine Schläge erklingen.

»Hurra – Pause!« Annedore sprang jubelnd vom Schoß des Lehrers.

»Nein, mein Kind, Erholungspausen sind nur für fleißige Schüler. Du hast heute noch nichts geleistet, du wirst eine Stunde nacharbeiten.«

»Ei nein! In der Schule brauchten wir nur nachzusitzen, wenn eins gelogen hatte. Was soll denn bloß Hektor davon denken? Hör nur, er kratzt schon an der Tür. Er weiß ganz genau, wenn die Uhr zwölf schlägt, ist Pause. Ja, ich komme schon, Hektor.«

»Nein, du kommst nicht, du nimmst dein Lesebuch vor«, entschied der Professor mit aller Bestimmtheit.

Da half es nichts.

Ob auch Hektor noch so sehnsüchtig kratzte, Annedore las mit lauter, schallender Stimme die Fabel von dem Fuchs und dem Raben. Allerdings wurde dieselbe hin und wieder durch ein «Kusch dich, Hektor!« unterbrochen.

Bis die Minna erschien mit Briefen für den Herrn Professor und einer Karte für »Fräulein Peter Kaschuba«.

»Von meinem Muttchen etwa oder von Vater?« Solch heller Kinderjubel war noch niemals in der stillen Studierstube des Professors laut geworden. »Onkel Adalbert, von Hanni ist sie. Selbst geschrieben – nur die Adresse nicht. Große Buchstaben hat er noch nicht gehabt. Ganz deutlich schreibt er:

›libes pederchen, ich bin gans gesunt. ein gruß

von dein hanni.‹«

War es da ein Wunder, daß Annedore gar kein Interesse mehr für den Fuchs, noch für den Raben hatte? Daß der Herr Professor immer wieder unzufrieden seinen Kopf schütteln mußte? Denn Annedores Gedanken waren ganz wo anders. Weit fort, zu dem Gut flogen sie. Wie mochte es ihrem kleinen Hannibruder nur inzwischen ergangen sein?


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