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8. Kapitel.
Aus Peter wird eine kleine Annedore.

Die Nachmittagssonne lugte durch die blitzblanken Fensterscheiben in ein peinlich ordentliches Parterrezimmer hinein. Sie strich den Pelargonien über das rote Blütenhaupt und besäumte die schneeweißen Tüllgardinen mit feinem Goldrand. Dann spazierte sie zu dem runden Kaffeetisch vor dem schwarzen Ledersofa. Nicht hüpfend und tänzelnd auf ihren goldenen Strahlenbeinchen, wie das sonst wohl ihre Art war, nein, langsam und gemessen spazierte die liebe Sonne zum Kaffeetisch. Sie wußte ganz genau, daß hier in dem friedlichen Zimmer der beiden alten Leutchen kein Ort zum übermütigen Tänzeln und Hüpfen war. Hier mußte alles hübsch leise und ruhig zugehen. Selbst Mätzchen flötete nur gedämpft seine Lieder aus dem Bauer.

Herr Professor Adalbert Kruse und seine Schwester Fräulein Georgine saßen beim Nachmittagskaffee. So hatten sie Jahr für Jahr hier beisammen gesessen, bis sie alt geworden waren und ihre Haare weiß. Keiner von ihnen hatte geheiratet, um den andern nicht allein lassen zu müssen. Regelmäßig wie eine Uhr schnurrte das Leben der alten Geschwister in der kleinen Parterrewohnung ab. Wenn Fräulein Georgine sich mit ihrem Strickkörbchen draußen auf dem Beischlag, so nennt man in Danzig den alten Vorbau des Hauses, niederließ, dann wußte die ganze Frauengasse: Jetzt war es in fünf Minuten vier Uhr. Und wenn der Herr Professor, den großen, grauen Schlapphut auf das weiße Haar gedrückt, die blaue Brille auf der Nase, und selbst bei schönstem Sonnenschein mit einem Regenschirm bewaffnet, aus der Haustür trat, um seinen Mittagsspaziergang zu machen, dann setzten die Hausfrauen die Kartoffeln ans Feuer.

Professors galten in der ganzen Frauengasse als die zuverlässigste Uhr.

Heute aber mußten sich die Nachbarn sehr wundern. Von der nahen Marienkirche waren schon vier Schläge herabgedröhnt, und noch wollte sich trotz des warmen Wetters Fräulein Georgines kleine Gestalt auf der Hausbank nicht zeigen. Es war doch heute nicht Stricknachmittag für die Feldgrauen und auch nicht der Kaffeekränzchendienstag.

Die liebe Sonne mußte sich ebenfalls wundern. Nanu – der Herr Professor war ja noch bei der ersten Tasse Kaffee. Auch die Zeitung hatte er noch nicht zur Hand genommen, und es gab doch heute, wo die tapferen Feldgrauen den ersten Sieg erfochten, genug zu lesen. Immer wieder studierte er einen Brief, der nur wenige Zeilen trug. Es stand nichts weiter darin, als daß der Knabe Peter Kaschuba am Freitag, dem 7. August, bei ihnen in Danzig eintreffen werde.

»Zweimal bin ich nun schon auf dem Bahnhof gewesen, Ginchen. Es ist mir unbegreiflich, daß unser kleiner Pflegesohn noch nicht da ist. Es muß jetzt am Nachmittag noch ein Zug von Elbing kommen, aber ich wollte unsere Kaffeestunde deshalb nicht versäumen.«

»Da hast du ganz recht getan, Adalbert. Unser Leben können wir nicht durch den Kleinen ändern. Er muß sich uns anpassen.« Sie seufzte leise. Ihr Bruder wußte es gar nicht, was sie ihm und dem Vaterlande für ein großes Opfer brachte, daß sie sich dazu bereit erklärt hatte, ein fremdes, elternloses Flüchtlingskind ins Haus zu nehmen. Sie, die nie eigene Kinder, noch Neffen und Nichten besessen, und daher kaum was mit Kindern anzufangen wußte.

»Hoffentlich ist es ein recht ruhiger, ordentlicher Knabe, den man nicht allzuviel merkt«, meinte sie besorgt und schenkte ihrem Bruder die zweite Tasse ein.

»Ginchen,« der Professor legte seine Hand auf die der alten Schwester, »ich glaube gar, du bist bange vor unserm kleinen Pflegesohn. Ich habe in meinem Schreiben an die Flüchtlingsstelle besonders betont, daß ich einen stillen, sinnigen Knaben ins Haus zu nehmen wünsche. Sollst mal sehen, Ginchen, was uns die Erziehung unseres kleinen Jungen für Freude machen wird. Ich habe doch früher am Gymnasium eine ganze Klasse übermütiger Schlingel im Zaum gehalten. Es ist mir schwer genug geworden, meiner Augen wegen um die Pensionierung einzukommen.«

»Du bist eben mit Leib und Seele Lehrer, Adalbert«, mit liebevollem Stolz blickte Fräulein Georgine auf den Bruder.

»Ja, aber nur für Jungen, vor Mädchenschulen behüte mich der Himmel! Einmal habe ich vertretungsweise an einer Mädchenschule unterrichtet, einmal und nicht wieder! Dieses Gekicher und Gedalbere, das ist nichts für einen ernsthaften Menschen. Und naseweis sind die Dinger noch obendrein – nein, ein kleines Mädchen hätte ich mir nie und nimmer ins Haus genommen. Nur einen Jungen, die sind nicht halb so schwer zu erziehen.«

»Zu einem Mädchen hätte ich auch niemals meine Einwilligung gegeben, Adalbert.« Fräulein Georgine reckte ihre schmale Gestalt in die Höhe. »Ewig Zöpfe flechten und solch ein kleines Ding anputzen, spazierenführen und beschäftigen, nein, dazu ist man nicht so alt geworden. Ein Junge ist selbständiger, der braucht nicht viel Hilfe und – –«

Da klingelte die Türschelle mit dem weißporzellanen Griff hell und scharf. Fräulein Georgine brach mitten in dem angefangenen Satz ab und lauschte hinaus, wo Minna, die alte Dienerin, die schon über dreißig Jahre im Hause und mit ihrer Herrschaft ergraut war, öffnete.

Hundegebell – wer mochte das nur sein?

»Am Ende Kollege Springer, aber der läßt seinen Dackel doch stets zu Hause, wenn er zu mir kommt, weil er weiß, daß du Hunde nicht magst«, auch der Professor horchte angestrengt.

Minna brachte eine Besuchskarte herein. Es war ein fremder Name. Ehe aber noch Fräulein Georgine würdevoll sagen konnte: »Ich lasse bitten«, wurde die angelehnte Tür aufgestoßen und ein großer, schwarzzottiger Hund sprang bellend in das stille Zimmer.

»Ein Ungetüm – was ist denn das bloß für ein Ungetüm!« kreischte Fräulein Georgine vor Schreck auf und sprang so jäh in die Höhe, daß sich die Kaffeetasse des Professors bräunlich über die blütenweiße Decke ergoß.

Während Fräulein Georgine in aller Hast die Kaffeeflecke aufzutupfen begann, trat auch schon durch die offengebliebene Tür die gemeldete Dame. An der Hand hielt sie ein kleines Mädchen, das mit großen, neugierigen Augen in der fremden Umgebung umherblickte.

»Ich bitte um Verzeihung,« begann die Dame, »daß der Hund mitgekommen ist, aber die Kleine wollte sich durchaus nicht von ihm trennen.« Sie machte eine Pause, auf eine Begrüßung wartend. Aber da dieselbe ausblieb und der Professor sich nur erwartungsvoll räusperte, denn er wußte nicht, was der fremde Besuch wünschte, fuhr sie fort: »Ich bringe Ihnen Ihr Pflegekind.«

»Wie – wa – as?« Der Herr Professor und das Fräulein Georgine stießen es wie aus einem Munde heraus. Das alte Fräulein mußte sich an der Stuhllehne festhalten. Es wurde ihr schwarz vor den Augen.

»Ja, wo ist denn der Junge?« Professor Kruse sah suchend in den Flur hinaus, als erwarte er noch jemand.

»Ein Junge?« Die Reihe, ein bestürztes Gesicht zu machen, war jetzt an der fremden Dame. »Dieses kleine Mädchen ist mir von der Elbinger Flüchtlingsstelle für Herrn Professor Kruse in Danzig übergeben worden. Bitte sehr, hier ist die Bescheinigung, wenn Sie sich davon überführen wollen.« Sie zog einen Zettel aus der Ledertasche.

Der Herr Professor holte die blaue Brille aus dem Etui, setzte sie umständlich auf die Nase und begann den Zettel Wort für Wort zu studieren.

»Hier steht Peter Kaschuba – genau so wie in dem an mich gerichteten Brief. Wir haben uns bereit erklärt, Peter Kaschuba in unser Haus zu nehmen, jedoch kein Mädchen – –«

»Aber ich bin ja Peter Kaschuba«, sagte da eine helle, dreiste Kinderstimme. Mit lachenden Braunaugen – denn die Abschiedstränen waren inzwischen längst getrocknet – schaute Peter auf die verdutzten alten Leutchen.

»Ein Mädchen, Adalbert, ein Mädchen – das überleb' ich nicht!« Fräulein Georgine ließ sich mit zitternden Knien in einen Sessel sinken.

Der Professor äugte durch seine großen blauen Brillengläser scharf zu der Kleinen hinüber. »Ja, es hat Zöpfe und Mädchenkleider – es ist tatsächlich ein Mädchen. Aber wie kann nur ein solches den Namen ›Peter‹ tragen? Sicherlich ist der Name allein an dem Irrtum schuld«, erklärte er.

»Vater und Muttchen haben mich doch so genannt, weil ich ein halber Junge wäre, sagten sie.« Übermütig lachte das kleine Ding.

»Ein halber Junge, Adalbert, auch das noch – können wir das Mädchen denn nicht gegen einen richtigen Jungen umtauschen?«

Peter vollführte einen Freudenhops und sprang dabei dem alten Herrn Professor auf die Hühneraugen. »Au ja, dann kann ich gleich wieder zu meinem Hannibruder reisen, au ja!« Man konnte es ihr wohl nicht verdenken, daß es ihr nicht sonderlich bei den alten Leuten gefiel, die über ihr Erscheinen so entsetzt waren.

»Ein Bruder – ei, vielleicht ist da wirklich ein Austausch möglich«, wandte sich der Professor jetzt an die fremde Dame.

»Ich kann darüber nichts sagen. Ich weiß nur, daß der Kleine auf ein ostpreußisches Gut gekommen ist. Vielleicht wenden sich die Herrschaften noch mal an die Elbinger Flüchtlingsstelle. Vorläufig darf ich aber wohl meine kleine Schutzbefohlene in Ihrem Hause lassen. Der Zug geht in einer Stunde weiter. Ich habe meine Reise nur unterbrochen, um die Kleine hier abzuliefern. Und am Ende gewinnen Sie inzwischen Ihr Pflegetöchterchen so lieb, daß Sie es gar nicht mehr austauschen mögen. Es ist ein prächtiges, warmherziges Kind, bei all seiner ungestümen Lebhaftigkeit – und das traurige Schicksal, das es der Eltern und der Heimat beraubt hat, macht die Kleine doppelt liebenswert«, setzte die Dame noch leise hinzu.

Aber Peter horchte mit gespitzten Ohren. »Werde ich nun nicht umgetauscht?« fragte sie mit sichtbarer Enttäuschung. Erwartungsvoll wanderten ihre Augen von einem zum andern. Die alten Geschwister sahen sich zweifelnd an. Ihre guten Herzen wollten es nicht zulassen, daß sie dem verwaisten Kinde die Türe wiesen. Aber ein Mädchen – nein, es war doch nicht denkbar!

»Versuchen können wir es ja immerhin, Ginchen«, begann der Bruder sich als erster zu äußern. Ein paar Tage wird es schon gehen. Sehen wir, daß die Kleine sich nicht für uns eignet, können wir sie immer noch zurückschicken. In dieser großen Zeit muß ein jeder Opfer bringen – –«

»Ja, man muß Opfer bringen!« Fräulein Georgine beugte gottergeben das graue Haupt.

»Na, was an mir liegt, das werde ich ganz sicher tun, um zurückgeschickt zu werden«, nahm sich Peter heimlich vor.

Die Dame verabschiedete sich, streichelte noch einmal Peters rosige Bäckchen und wollte zur Tür hinaus.

»Ja, aber der Hund – was wird denn mit dem Hund?« Fräulein Georgine rief es ängstlich hinterher, als die Dame keine Miene machte, das Tier mitzunehmen.

»Der Hund gehört Ihrem kleinen Pflegetöchterchen, es ist ihr letzter Freund aus der Heimat, ein ruhiges, treues Tier. Es wird Ihnen keine Mühe machen«, damit empfahl sich die Dame.

Fräulein Georgine aber rang die Hände. »Adalbert, einen Hund noch obendrein! Ein kleines Mädchen und ein Ungetüm – kann das Vaterland wirklich solche Opfer von uns verlangen?« Das sonst so ruhige Fräulein war ganz außer sich.

»Die ihr Blut für uns verspritzen, bringen andere Opfer, Ginchen«, sprach der Professor ernst. »Viele Mütter müssen ihre Kinder mit Tränen hingeben – uns führt der liebe Gott ein Kind ins Haus, und du weinst darüber!« Ein leiser Vorwurf klang aus seinen Worten.

Da schob sich eine kleine warme Kinderhand zwischen die gerungenen Hände der alten Dame.

»Ach bitte, weinen Sie doch nicht über mich und über Hektor. Wir wollen uns auch alle beide ganz gewiß Mühe geben, daß Sie uns recht schnell wieder zurückschicken können.« So treuherzig sahen die großen, braunen Kinderaugen in das runzlige Gesicht Fräulein Georgines, daß es der ganz eigenartig um das alte Herz wurde – warm und hell, wie niemals zuvor.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, zog sie den dunkelblonden Kopf der heimatlosen Kleinen zärtlich zu sich nieder und küßte sie. »Sei uns willkommen, mein Kind, und lege deine Sachen ab. Wir werden schon Freunde werden. Jeder von uns muß sich Mühe geben. Nur der Hund! Hunde sind mir von jeher unsympathisch gewesen. Ein Hund paßt nicht in meine reinliche Wohnung. Das Tier muß fort – –«

»Dann bleibe ich auch nicht hier!« In ihrer ungestümen Art hatte Peter Hektor beim Halsband ergriffen und wollte spornstreichs mit ihm zur Tür hinaus.

Der Professor vertrat ihr den Weg. »Nicht so hitzig, mein Kind. Du gehörst jetzt zu uns und kannst nicht einfach auf und davon. Wir wollen Elternstelle bei dir vertreten«, sagte er feierlich.

»Bei Hektor auch?« zweifelnd sah das kleine Mädchen zu ihm auf

»Du sollst deinen Hund jedenfalls vorläufig behalten – es ist ihr letzter Freund aus der Heimat, Ginchen«, wandte er sich bittend an die Schwester. »Die Kleine lebt sich schneller bei uns alten Leuten ein, wenn sie einen Spielgefährten in dem Tier hat. Minna mag für ihn sorgen. Neben der Küche ist ja ein Verschlag, da könnte sie ihm ein Lager zurechtmachen.«

»Ach, Hektor darf auch ganz ruhig bei mir schlafen. Er kann in meinem Bett am Fußende liegen, dann macht er keine Mühe«, beeilte sich Peter zu versichern.

»Lieber Gott, das fehlte noch – ein Hund in meinen sauberen Betten! Nein, er bekommt seinen Korb im Verschlag. Und in meine blankgebohnerten Stuben darf er keinesfalls hinein, er hat mir jetzt schon lauter Tapfen auf dem Teppich gemacht«, anklagend wies die alte Dame auf den schöngeblümten Teppich

Aber Peter hörte nur, daß Hektor bei ihr bleiben durfte. »Hurra!« schmetterte sie durch das stille Zimmer, daß die beiden alten Geschwister zusammenfuhren. »Hurra – wir bleiben beisammen! Mach' schön, Hektor, und bedanke dich.«

Und wirklich, der große schwarze Hund setzte sich gehorsam auf die Hinterfüße, machte schön und sah schweifwedelnd zu Fräulein Georgine auf, die ihm so wenig freundschaftliche Gesinnung entgegenbrachte.

»Nun muß das Kind aber erst Kaffee trinken, Ginchen, es wird hungrig sein nach der langen Reise«, erinnerte der Professor.

»Aber freilich, aber freilich, daß ich das auch bei all der Aufregung vergessen habe.« Fräulein Georgine setzte die Tischklingel in Bewegung. »Minna soll heiße Milch bringen – ach, was wird unsere Minna nur dazu sagen!«

Die alte Dienerin erschien.

»Minna, der kleine Junge ist ein kleines Mädchen, und einen Hund hat es uns auch mit in unser stilles Haus gebracht – ach, Minna, das haben wir uns nie träumen lassen«, wehmütig nickte das Fräulein.

»Na, dafür ist Krieg, der stellt allens auf 'n Kopf«, sagte Minna mit Gemütsruhe.

»Bringen Sie heiße Milch für – für – ja, wie heißt sie denn nun eigentlich, Adalbert? Wir können doch ein kleines Mädchen unmöglich ›Peter‹ nennen?«

»Nein, Peter ist ein Knabenname«, bestätigte auch der Professor.

»Quatsch, unser Schuster zu Hause hat einen Kater, der heißt auch Peter, und der Pudel vom Herrn Lehrer ebenfalls«, verteidigte die Kleine lebhaft ihren Namen.

»Quatsch ist ein ungehöriges Wort älteren Leuten gegenüber, denen du Ehrerbietung entgegenbringen sollst, mein Kind«, rügte der Professor. »Aber nun wieder zu dem Namen. Du bist weder ein Junge, noch ein Kater oder ein Pudel – –«

Silberhelles Kinderlachen unterbrach hier die ernsthafte Auseinandersetzung des alten Herrn. Peter konnte sich gar nicht beruhigen. Es kam ihr zu komisch vor, daß sie weder ein Kater, noch ein Pudel war. Hektor stimmte mit fröhlichem Geblaff in das lustige Lachen ein, und selbst Mätzchen in seinem Bauer ließ seine Stimme etwas lauter ertönen. Es herrschte plötzlich wieder ein Mordsradau in dem friedlichen Zimmer. Der Herr Professor verstand sein eigenes Wort nicht mehr. Hatte er nicht recht, daß Mädchen naseweis und albern waren?

»Nun sage mir mal, mein Kind,« begann er von neuem, nachdem die Kleine sich einigermaßen beruhigt hatte, »hast du denn nicht noch einen zweiten Namen, bei dem man dich rufen könnte?«

Peter dachte nach.

»Eigentlich heiße ich überhaupt Annedore. Aber der Name paßt nicht für mich, sagt Muttchen, Peter paßt viel besser. Und der Herr Lehrer in der Schule hat mich auch immer Peter genannt, nur wenn er ärgerlich war, rief er: Annedore Kaschuba, du störst schon wieder den Unterricht.« Dabei hatte Peter ihre zierliche Gestalt nach vornüber geneigt, die Augen kiekelnd eingekniffen, und den Kopf bedauerlich auf die Seite gelegt. Ganz so mochte wohl der Herr Lehrer daheim ausgeschaut haben.

»Pfui, Kind, es ist nicht hübsch von dir, daß du deinem Lehrer nachmachst«, der alte Herr Professor schüttelte unzufrieden seinen greisen Kopf.

Fräulein Georgine aber rief erleichtert: »Also Annedore heißt du, das ist ja ein wunderschöner Name. Minna, bringen Sie heiße Milch für die kleine Annedore!« Aber Minna war längst draußen und kam bereits mit einer großen Tasse wieder zur Tür herein.

»Wie so'n Wurm heißt, ist ja Nebensache, die Hauptsache ist, daß es was in den Magen kriegt«, sagte sie, die Milch vor die Kleine setzend.

»Ich finde Annedore gar nicht schön, ich will viel lieber Peter heißen. Ach bitte, bitte, wenn ich artig bin, können Sie doch wenigstens Peter zu mir sagen.« Rührend klang die Bitte der Kleinen, die nicht nur Eltern, Heimat und Bruder hatte hergeben müssen, sondern jetzt auch noch ihren Namen verlieren sollte.

Aber der Herr Professor schüttelte den Kopf. »Nein, Annedore, Peter ist kein Mädchenname. Und nun noch eins, Kind, du sagst selbstverständlich ›du‹ zu uns. Wir sind Onkel Adalbert und Tante Georgine.«

»Hahaha«, hellauf lachte Peter, oder vielmehr Annedore. »Tante Georgine? Das ist ja noch viel weniger ein Mädchenname als Peter. Georgine heißt die große rote Blume bei uns im Garten, die immer im Herbst blüht. Wenn die Dame Georgine heißt, kann ich ebensogut Peter genannt werden.«

Nein, so naseweis hatte sich Herr Professor Kruse doch die Mädels nicht gedacht. Er kam aus dem Kopfschütteln gar nicht heraus.

Tante Georgine aber hatte keine Zeit, sich darüber aufzuregen, daß nach fast siebzig Jahren heute zum erstenmal ein kleines, vorlautes Ding sich über ihren Namen lustig machte. Die mußte sich über anderes aufregen.

»Annedore, was soll denn das heißen, du vergießt ja die ganze Milch: um Himmels willen, doch nicht auf den Teppich –« Aber da war es schon zu spät.

Das kleine Mädchen hatte von ihrer Milch in die Untertasse gegossen und sie ihrem Freund Hektor auf den Teppich gestellt. Der stieß gierig mit seiner schwarzen Schnauze dagegen – da floß die ganze schöne Milch über Tante Georgines behüteten Teppich. Zwar leckte Hektor sie sofort wieder eifrig auf, weniger aus Ordnungsliebe als aus Hunger. Aber der hellgeblümte Teppich zeigte große, dunkle Flecke. Und Tante Georgine rang schon wieder die Hände.

»Ich sehe es kommen, meine ganze saubere Wirtschaft geht drauf«, jammerte sie. »Der Hund bekommt seine Mahlzeiten draußen bei Minna, merke dir das, Annedore.«

»Vielleicht kann ich auch draußen bei Minna und Hektor essen, Tante Georgine«, schlug die Kleine vor. Sie dachte sich das entschieden angenehmer, als drin in der Stube bei den ernsthaften alten Leuten, wo man nicht mal einen Fleck machen durfte.

Der heutige Tag hatte für Tante Georgine schon mehr Aufregung gebracht als sonst ein ganzes Jahr. Sie fühlte sich geradezu angegriffen.

»Adalbert, ich muß mich jetzt ein Stündchen mit dem Strickzeug draußen auf mein Bänkchen setzen, so ganz in Ruhe, daß ich mal erst wieder zu mir komme. Du willst doch gewiß in deinen Schachklub gehen – aber was fangen wir mit Annedore an?«

»Ich spiele mit Hektor inzwischen auf der Straße«, noch ehe der Professor die Angelegenheit gründlich, wie es seine Art war, überlegen konnte, war Annedore schon mit einem Ausweg bei der Hand.

»Wohlerzogene kleine Mädchen spielen nicht auf der Straße«, sagte Tante Georgine entschieden. War das Kind denn wirklich aus besserem Hause, wie es ihr Bruder in seinem Schreiben gewünscht hatte, wenn es draußen in der Küche essen wollte und auf der Straße spielen?

»Ich werde heute nicht in den Schachklub gehen«, Onkel Adalbert war mit seiner Überlegung fertig. »Statt dessen werde ich unserem Pflegetöchterchen unsere schöne, alte Stadt Danzig zeigen.« Das kleine Mädchen ahnte gar nicht, was für ein großes Opfer sein Pflegevater ihm brachte, daß er zum erstenmal seit Jahrzehnten auf seinen Schachnachmittag verzichtete.

Die alten Giebelhäuser der Frauengasse schüttelten verwundert ihr steinernes Haupt. Solange sie sich erinnern konnten, war noch nicht etwas so Merkwürdiges passiert. Fräulein Georgine erschien mit ihrem Strickkörbchen eine ganze Stunde später auf der Hausbank. Und der alte Herr Professor – nein, war es denkbar? Da spazierte sein grauer Schlapphut zwischen einem übermütig hopsenden kleinen Mädchen und einem schwarzen Vierfüßler die Straße entlang. Bald wußte man's in der ganzen Frauengasse: »Professors haben sich auf ihre alten Tage ein Kind ins Haus genommen. Und einen Hund haben sie noch zubekommen. Na, wenn das nur gut abläuft!«


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