Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3. Kapitel.
Auf der Flucht.

Ach, das Eisenbahnfahren hatten sich Peter und Hanni doch ganz anders vorgestellt. Viel schöner. Es war recht ungemütlich in der Bimmelbahn, zusammengepfercht in der entsetzlichen Enge, mit all dem Getier und Gepäck.

Die beiden Kinder, die auf einem Bettenbündel thronten, schmiegten sich fest aneinander. Sie froren trotz der warmen Augustnacht in ihrer dünnen Bekleidung. Und die Dunkelheit, die draußen und drinnen herrschte, ließ sie noch mehr zusammenfrösteln.

Erst als die gute Base Stine jedem eine leckere Schinkenstulle verabfolgte nebst einer Handvoll Birnen, wurde es den beiden kleinen Reisenden etwas gemütlicher zumute.

»Ißt nur, Kinderchen, ißt, das wärmt wenigstens den inwendigen Menschen auf«, sprach sie ihnen zu.

Die beiden ließen sich nicht lange nötigen. Hanni allerdings zog ängstlich seine nackten Beine ein, denn die Hühner, die ihm zu Füßen einquartiert waren, und die das Brot lockte, begannen danach zu picken!

»Nu wollen wir mal sehen, ob wir nicht auch den auswendigen Menschen etwas wärmen können. Hast ja genug Sachen zusammengepackt, Stine. Da wird sich schon Schuh und Strümpfe für die Kinder finden«, ließ sich Vetter Jochen jetzt vernehmen.

»Ih, Jochen, in deine hohen Wasserstiefel geht jawohl das ganze Jungchen rein. Mit den Strümpfen mag's noch eher sein.« Die Frau kramte ein Paar rotblaugeringelte und ein Paar rosenrote Wollstrümpfe hervor. Die gefielen den Kindern ganz ungemein.

Freilich, viel zu groß waren sie. Aber jedenfalls wärmten sie doch. Nun brachte Base Stine noch einen roten Flanellrock von sich und eine schwarze Tuchjacke zum Vorschein. Peter begann die Sache Spaß zu machen. Sie schlüpfte in den roten Rock, der ihr bis auf die Füße herniederhing, und zog die schwarze Jacke der ziemlich umfangreichen Base an, in die sie noch ganz gut auch Bruder Hanni hätte mit hineinnehmen können.

»Aber was machen wir nun mit dir, Hanni?« überlegte die Base.

Ja, da war guter Rat teuer.

Die Hosen und Jacken des großen breitschultrigen Vetters kamen gar nicht für den Dreikäsehoch in Betracht.

»Einen Rock hätt' ich schon noch von mir«, meinte Base Stine schließlich. »Da gehst du eben mal als kleine Marjell einher, Jungchen, an solchem Tag, wie dem heutigen, kommt's nicht darauf an.«

Und wirklich – der Hanni bekam einen leuchtendblau und schwarzgewürfelten Rock der Base übergezogen, dazu sein rot türkisches Umschlagetuch von Urgroßmutter – drollig genug nahm sich der kleine Kerl ja aus. Das sah man aber erst, als die schwarze Nacht da draußen sich von dannen schlich, und fahlgraue Frühdämmerung über die Felder und Wiesen längs des Schienenstranges gekrochen kam. Da lachten die Kinder plötzlich laut los, als sie sich gegenseitig in Augenschein nahmen. Und die Großen, denen doch heute ganz gewiß nicht vergnüglich zumute war, wo sie von ihrer Heimatscholle in die fremde Welt hinausflüchten mußten, ja, auch die Großen stimmten mit ein. Denn solch helles, von Herzen kommendes Kinderlachen wirkt ansteckend.

Es war aber nicht mehr viel Zeit zum Begucken und zum Lachen. Schon war der Eisenbahnknotenpunkt, den die Schnellzüge berührten, erreicht.

Hatten Peter und Hanni gedacht, daß schon auf der Kleinbahnstation ein arges Gedränge gewesen, so wurde es ihnen jetzt überhaupt ganz wirr im Kopf von diesem wüsten Getriebe hier. Ostpreußische Flüchtlinge über Flüchtlinge – von allen Seiten waren sie gekommen, um die großen Städte zu erreichen. Das war ein Getriebe und Gestoße, ein Geschrei und Gejammere. Weinende Kinder suchten ihre Eltern, Mütter riefen in höchster Aufregung nach ihren verlorengegangenen Kleinen. Dazwischen muhten die mitgeführten Kühe, meckerten die Ziegen und piepste das Federvieh – ein ohrenbetäubendes Durcheinander. Die Bahnbeamten schrien, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Und jetzt – jetzt brauste der erste Zug mit den tapferen deutschen Feldgrauen ein, die gen Osten zogen, die bedrohten Grenzen des Vaterlandes zu schützen.

Ein nicht endenwollendes Hurra empfing die Braven. Die armen Heimatlosen grüßten voll Dankbarkeit ihre Retter. In grünumkränzten Wagen, die Helme blumengeziert, so standen sie dicht gedrängt an den Bahnfenstern. Sie winkten, sie nickten und sie sangen. Zum erstenmal vernahmen Peter und Hanni »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« aus begeistertem Herzen der freudig fürs Vaterland in Gefahr und Tod Ziehenden. Da wurde auch den beiden Kindern, ob sie auch noch so klein waren, die gewaltige Größe des sich zum heiligen Kampfe erhebenden Deutschlands offenbar.

War es dann ein Wunder, daß sie nicht mehr auf Base Stines Mahnung: »Bleibt dicht an meiner Seite, Kinderchen, wir müssen nach dem andern Bahnsteig, wo der Schnellzug nach Königsberg abgeht«, achteten? Daß sie plötzlich die Base mit ihrem Bettenbündel und Hühnerkasten sowohl, wie den Vetter Jochen in den hohen Schaftstiefeln aus den Augen verloren? In den viel zu großen Strümpfen und langen Röcken der Base war das Vorwärtskommen nicht so einfach. Hanni blieb in einem Stolpern. Die Kinder wurden von dem hastenden Menschenstrom gerade in entgegengesetzter Richtung mit fortgerissen.

Ein Schnellzug fuhr ein, dicke Dampfwolken vor sich herprustend. Im Umsehen wurde er von den Flüchtlingen gestürmt. Keiner wollte zurückbleiben.

»Base Stine – Base Stine – Vetter Jochen – –« in das wilde Gewühl hinein kreischten es zwei angstvolle Kinderstimmen. Wer hatte dessen acht? Kein Mensch – jeder dachte heute nur an sich, suchte selbst der drohenden Russengefahr zu entgehen.

»Base Stine – Base Stine – –« immer lauter, immer ängstlicher schrien es die armen Kinder.

»Rein – rein, der Zug geht ab – eure Base ist sicher schon irgendwo eingestiegen, in Elbing findet ihr sie wieder« – ein Bahnbeamter ergriff den brüllenden Hanni und spedierte ihn in einen überfüllten Wagen. Peter sprang hinterdrein. Ihr Brüderchen ließ sie nicht allein.

Da pfiff auch schon die Lokomotive – hü – ü – ü – üh – der Flüchtlingszug setzte sich ratternd in Bewegung.

Drüben auf dem andern Bahnsteig aber irrte, nicht minder angstvoll als die beiden Kinder vorher, eine Frau mit einem Bettenbündel und einem Hühnerkasten in höchster Aufregung suchend auf und ab. Da schrie der Vetter mit dröhnender Stimme: »Peter – Hanni – Hanni – Peter« – in den Tumult hinein. Aber weder Hannis Flachskopf, noch Peters dunkelblonde Zöpfchen wollten sich irgendwo zeigen.

»Erbarm sich – erbarm sich – ich kann der Kathrin ja nie mehr vor die Augen treten, wenn ich so schlecht für ihre mir anvertrauten Kinder gesorgt habe!« Die arme Base jammerte in einsweg, bis ein Schaffner sie beim Arm nahm: »Einsteigen, Mutterchen, einsteigen! Ihre Kinder sind sicher schon drin im Zug. In Königsberg werden sie sich wieder anfinden.« So hofften denn die Base und der Vetter zu Gott, die ihnen von der Mutter auf die Seele gebundenen Kinder in Königsberg wiederzufinden. Peter und Hanni im andern Zuge aber erhofften dasselbe von Elbing, während sie sich immer weiter voneinander entfernten.

Die Tränen der beiden Kinder hörten allmählich auf zu fließen. Mit großen Augen blickten sie sich in ihrer neuen Umgebung um. Was gab's da auch alles zu sehen!

Sie befanden sich in einem geräumigen Viehwagen, der jetzt bei dem kolossalen Andrang auch die Menschen befördern mußte. Bänke standen nicht darin. Die Leute saßen auf ihrem Gepäck, Betten, Körben oder Kisten. Meistens waren es ganze Familien, die irgendwo in einer Ecke zusammenhockten. Kinder über Kinder, die mit ebenso erstaunten Augen um sich schauten, wie Peter und Hanni. Säuglinge quakten aus Kinderwagen. Dort schaukelte sogar ein kleiner Schläfer in einer an zwei Haken befestigten Hängematte. Hier hing eine Mutter Windeln zum Trocknen über eine Schnur. Und das alte Mütterchen da in der Ecke molk sogar ihre Ziege für die durstigen Enkelchen.

Tiere gab's ebenfalls genug in dem Viehwagen. Schweine, Gänse, Enten und Hühner. Hunde, Katzen und Kanarienvögel in melodischem Konzert.

Zuerst saßen die armen Flüchtlinge ziemlich stumpf und teilnahmlos nebeneinander zusammengepfercht. Meistens Frauen, denn die Männer waren sogleich zu den Waffen geeilt. Da gab's Reiche und Arme, alles durcheinander. Heute waren sie alle gleich, verstörte Menschen, die ihre Heimat verloren. Bald aber lösten sich die Zungen. Man begann sich gegenseitig seine Flucht zu erzählen. Dazwischen wurden Schreckenstaten der Russen berichtet. Den beiden Kindern blieb das Herz vor Entsetzen stehen, als sie von diesen Greueltaten der Feinde hörten. Um Himmels willen – die bösen Russen würden ihrem Muttchen und ihrem Vater doch nichts getan haben?

Die Tränen, die kaum aufgehört zu fließen, begannen wieder über die rosigen Bäckchen zu kullern. Peter versuchte sie niederzuzwingen. Hanni aber schluchzte laut.

»Warum weint ihr denn, kleine Marjellchen?« Ein freundlicher alter Herr klopfte beruhigend Hannis Wange.

Der Junge, der in Base Stines Rock für ein Mädelchen gehalten wurde, wandte verlegen den Kopf zur Seite. Peter aber mußte unter Tränen laut auflachen.

»Hanni ist doch kein Marjellchen – Hanni ist doch mein Bruder«, rief sie dreist.

Da lachte auch der alte Herr über die Verwechslung, und der ganze Viehwagen stimmte mit ein; selbst die Hühner und Gänse gackerten.

»Na, ihr seid wohl auch Hals über Kopf auf und davon, daß euch eure Mutter so merkwürdig ausstaffiert hat?« fragte der nette alte Herr weiter.

»Muttchen hat uns nicht angezogen, die hat uns bloß in Decken gehüllt, weil keine Zeit mehr war. Aber dann ist sie nicht nachgekommen – – –« um Peters frische Lippen begann es schon wieder zu zucken.

»Und nu ist Base Stine, die uns mitgenommen hat, auch verschwunden, und der Vetter Jochen obendrein«, jammerte Hanni.

»Seht mal, der große Junge heult immerzu«, rief ein kleiner Frechdachs.

»Und Schuhe hat er auch nicht mal an – – –«

»Haach, und Mädelkleider trägt er und schämt sich gar nicht«, riefen ein paar andere Rangen und wiesen mit Fingern auf den armen blutübergossenen Hanni.

Da aber trat Peter mit geballten Händen und blitzenden Augen vor den Bruder. »Wer wagt es, meinen Hanni zu verlachen, der kriegt Mutzköpf« – – so rief sie, daß es durch den ganzen Wagen schallte.

»Pst – pst – Kinderchen, hier wird nicht gerauft. Haben draußen gerade genug vom Krieg, hier drinnen wollen wir wenigstens Frieden halten«, eine der Frauen mischte sich beschwichtigend ein.

»Die armen Kinder sind allein, ohne Eltern und Angehörige, nicht mal ihre Kleider haben sie auf dem Leibe. Ich meine, das ist wohl Grund genug, inniges Mitleid mit ihnen zu haben und sie nicht zu verspotten«, sagte der nette Herr ernst.

Nun war die Reihe rot zu werden an den andern Kindern. Eins der kleinen Mädchen lief zu seiner Mutter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Diese nickte freundlich und begann in ihren Habseligkeiten zu kramen.

Gleich darauf stand das kleine Mädchen, ein Paar Schuhe in der Hand, vor Peter.

»Da, Kleine,« «sagte es, ein wenig verlegen, »nimm meine Sonntagsstiefel, die werden dir passen. Ich brauche sie nicht. Meine Alltagsschuhe sind noch fest und gut.« Dabei wies es seine derben Füßchen.

Peter wurde es warm ums Herz. Mitten unter all den fremden Menschen hatte sie plötzlich dasselbe gute Gefühl, als wenn ihr Muttchen sie zärtlich an sich zog.

»Ich danke dir vielmals«, sagte sie mit strahlenden Augen. Und lebhaft, wie sie nun mal war, schlang Peter beide Arme um das gutherzige Kind und küßte es.

Nun hatte sie gleich eine kleine Freundin gefunden. Aber das gute Beispiel blieb nicht ohne Nachahmung. Auch die übrigen Kinder kamen jetzt und brachten von ihren wenigen Sachen, was sie nur noch irgend entbehren konnten. Und die, welche am lautesten gelacht, hegten vor allem den Wunsch, ihr häßliches Verhalten wieder gutzumachen.

Bald hatten die beiden verlassenen Kinder passende Strümpfe und Schuhe, Wäsche und Kleider. Hanni, das Marjellchen, verwandelte sich wieder in einen kleinen Buben. Denn auch das Mitleid der Mütter war geweckt. Nichts verbindet ja die Menschen so, wie gemeinsames Unglück.

Die Sonne rückte höher, der Magen meldete sich. Allenthalben bildeten sich Gruppen zum Schmaus. Noch hatte man selbstgebackenes Brot von den Heimatsfeldern, Butter von den eigenen Kühen und Schinken von seinen Schweinen als Wegzehrung im Korb.

Mit verlangenden Augen blickten Peter und Hanni auf die Schmausenden. Ach, sie hatten kein lieb Mütterlein da, die ihnen eine Schnitte strich – für sie sorgte kein Mensch.

Oder doch?

»Na, ihr armen Würmerchen, ihr seid gewiß auch hungrig«, erklang die Stimme des netten alten Herrn, gerade als Peters Magen besonders laut knurrte. »Kommt nur heran, für zwei so kleine Spatzen fallen schon noch ein paar Krümchen ab.« Er langte ein großes Stück Tilsiter Käse hervor nebst Schwarzbrot und teilte den beiden Geschwistern freigiebig davon mit.

Ei, das schmeckte!

»Hier habt ihr auch einen Topf Milch dazu, Kinderchen«, die Alte, die ihre Ziege gemolken, reichte den beiden einen Topf frischer Ziegenmilch.

Nun wollten die andern natürlich auch wieder nicht zurückstehen. Die eine bot einen Apfel, die andere ein paar Birnen, der ein Endchen Wurst und jener sogar eine Tafel Schokolade. Die Kinder konnten gar nicht alles zwingen.

»Steckt's nur in die Tasche, wer weiß, ob ihr's nicht noch gut brauchen könnt«, rief die alte Frau vorsorglich.

»Ach, in Elbing finden wir ja Base Stine wieder, die hat noch viele Schinkenbrote in ihrem Korb«, meinte Peter zuversichtlich, tat aber doch, wie ihr geheißen.

»Und Vetter Jochen hat Bonbons in der Tasche«, teilte Hanni mit.

Jetzt machten die anderen Kinder begehrliche Augen. Wer doch auch solchen Bonbonvetter hätte!

Wie die Sperlinge auf den Telegraphenstangen, so hockten sie, eins neben dem andern, an den Fenstern und schauten hinaus auf die buntblumigen Wiesen und goldenen Felder, auf das blühende Ostpreußenland, in das sich bereits die russischen Heere verwüstend wälzten.

Plötzlich begann ein kleiner Patriot mit lauter Stimme »Deutschland, Deutschland über alles« zu schmettern. Da fiel der ganze Kinderchor hell ein. Ein Vaterlandslied nach dem anderen stimmten die jungen Kehlen an. Und die armen aus ihrer Heimat Vertriebenen vergaßen dabei ihr Elend.

So verflog die Zeit. Elbing, die Endstation war erreicht.

Die meisten der Flüchtlinge fuhren von hier aus weiter nach Danzig und Berlin, oder in kleinere Städte, wo sie bei Bekannten Unterkunft fanden.

»Bleibt ruhig auf dem Bahnhof, bis ihr eure Base gefunden habt, Kinderchen«, riet der alte Herr Peter und Hanni noch beim Aussteigen. »Ich muß gleich mit dem Berliner Zug weiter und kann mich daher leider nicht mehr um euch kümmern. Lebt wohl! Hoffentlich führt ein gütiges Geschick euch bald wieder mit euren Eltern zusammen!«

Die Kinder konnten sich nicht einmal mehr für seine Freundlichkeit bedanken. Schon war der nette Herr davongeeilt. Und auch die andern Mitreisenden verstreuten sich in verschiedene Richtungen. All die Kinder, mit denen Peter und Hanni im Verein gesungen, wußten, zu wem sie gehörten, wer für sie sorgte. Nur sie beide standen einsam mitten auf dem menschenbevölkerten Bahnsteig und schauten sich die Augen aus nach Base Stine und Vetter Jochen. Wo eine Frau mit einem schwarzen Kopftuch sichtbar wurde, liefen sie hinterdrein. Und hatte sie gar noch ein Bettenbündel oder einen Geflügelkäfig in der Hand, dann jubelten die Kinder glückselig los, in dem festen Glauben, endlich die Verlorene wiedergefunden zu haben.

Aber ach – immer war es eine Täuschung. Der Bahnsteig leerte sich, nur vereinzelte Gruppen sah man noch. Jetzt konnten Peter und Hanni es sich nicht länger verhehlen, daß die Base überhaupt nicht mit ihrem Zuge mitgereist war.

Lieber Gott, was sollte denn nun bloß aus ihnen werden? Gab es noch irgendwo in der weiten Welt so verlassene Kinder, wie sie beide?

Da fühlte plötzlich Hanni etwas Kaltes an seiner Hand. Eine schwarze Hundeschnauze war's und – »Hektor – unser Hektor!« laut los jubelten sie. Mit beiden Armen umfingen sie den guten alten Freund. Wenn Hektor hier war, konnte die Mutter nicht weit sein.

Doch soviel sie auch Umschau hielten, die Ersehnte wollte sich nicht zeigen! Hektor, die gute alte Kinderfrau, war ihnen allein gefolgt.

Aber beim Anblick des treuen Tieres kamen sich die Kleinen doch nicht mehr ganz so verlassen vor – wenigstens ein Freund aus der Heimat.

In Peter wuchs der fröhliche Mut und die Zuversicht wieder.

»Paß mal auf, Hanni, Base Stine kommt sicher mit dem nächsten Zug nach«, tröstete das kleine Mädchen sein Brüderchen, das beinahe schon wieder zu weinen anfing. »Und denk mal, Hanni, gewiß ist Muttchen und Vater dann auch dabei. Muttchen hat doch gesagt, sie käme bald hinterdrein.«

»Ja, meinst du wirklich, Peterchen, daß Muttchen bald kommt?« Hannis Blauaugen begannen wieder aufzuleuchten.

»Morgen früh sind sie bestimmt alle da!« Glückliches Kindergemüt, das selbst, wenn es am düstersten ausschaut, noch zu hoffen vermag.

Da war Hanni getröstet. Und als Peter nun noch Brot und Wurst, Schokolade und Obst, die Gaben der Mitreisenden herauszog und sie zum Abendbrot zwischen dem Bruder, Hektor und sich teilte, vergaß er seinen Kummer vollends.

Bald aber kam eine neue Sorge.

Die Sonne war hinter den hohen Fabrikschornsteinen untergegangen. Es wurde Nacht.

»Du, Peterchen, wo sollen wir denn heute schlafen?«

Ja, wußte Peter das denn selbst!

Ratlos sah sie sich um. Einige Damen in weißen Ärmelschürzen, ein rotes Kreuz auf dem Arm, als ob sie geimpft worden seien, die vorher an die durchfahrenden Soldaten Kaffee und Brote verteilt hatten, rüsteten sich gerade zum Heimgehen.

Wer doch auch ein Heim hätte! Alle anderen Kinder in der großen Welt hatten ihr Bettchen, nur sie nicht! Das weiße Häuschen mit dem lustigen roten Ziegeldach und den grünen Fensterläden tauchte vor den beiden Kindern auf. Dort stand ihr Bett. Dort pflegte Muttchen ihre Lieblinge selbst jeden Abend zur Ruhe zu bringen.

Nein – nicht weinen, nicht daran denken! Peter, das energische kleine Mädel, wischte mit dem Handrücken eine fürwitzige Träne fort. Sie war die Älteste, sie hatte die Pflicht, für ihren kleinen Bruder zu sorgen.

Angelegentlich spähte sie umher, wo sich wohl auf dem jetzt leeren Bahnsteig eine Schlafgelegenheit bot.

»Sieh nur, Hanni, dort haben sich 's die Leute in dem Eisenbahnwaggon bequem gemacht. Wollen wir sie bitten, uns auch mit unterkriechen zu lassen?« Peter wies auf einen leeren Wagen, in dem mehrere Flüchtlingsfamilien Unterschlupf gefunden.

»Nein, nein, Peter –« wandte Hanni vorsichtig ein. »Nachher fährt die Eisenbahn mit uns los, und wenn Muttchen und Base Stine morgen früh kommen, sind wir fort.«

Ja, das war richtig.

»Aber dort drüben, Hannichen, in den Heumieten auf dem Felde schlafen auch Flüchtlinge – – –«

»Ei nein – ei nein – da können Zigeuner kommen und uns stehlen«, noch viel ängstlicher wehrte das Brüderchen ab.

Immer dunkler wurde es. Silbersterne zogen am samtschwarzen Himmel auf. Und immer müder wurden die beiden Kleinen nach der unterbrochenen Nachtruhe, dem ungewohnten Reisetag und all der Aufregung. Hektor beschloß als gute Kinderfrau, selbst ein Lager für seine beiden Schützlinge auszukundschaften. Suchend strich er umher, und bald verriet sein fröhliches Gebell, daß er etwas gefunden.

»Hanni, sieh nur, was Hektor herausgefunden hat, hier können wir schlafen!« rief Peter erfreut.

In einem kleinen Schuppen stand ein niedriger Gepäckwagen, mit einem grünen Leintuch zugedeckt.

»Ist das nicht ein allerliebstes Häuschen? Und der Wagen gibt ein wunderschönes Bett für uns alle beide.« Geschäftig breitete das kleine Mädchen ihre Decke, die sie als Bündel in der Hand trug, auf dem Wagen aus. Die Kleider der Base wurden als Kopfkissen zusammengerollt. Bald lagen Schwesterchen und Brüderchen, mit Urgroßmutters türkischem Umschlagetuch warm zugedeckt, auf dem Wagen. Sorglich wie ein Mütterchen hüllte Peter ihren Hanni ein, daß er nur ja nicht frieren sollte. Zum Überfluß breitete sie auch noch das grüne Leinentuch über sie beide, damit sie keiner finden und stehlen konnte.

»Gute Nacht, Hannichen, schlaf wohl«, sie küßte den kleinen Bruder zärtlich.

»Muttchen soll kommen – Muttchen soll mir einen Gutenachtkuß geben und mit mir beten«, weinte Hanni in seiner Müdigkeit.

»Morgen, Hanni, morgen betet Muttchen wieder mit uns – heute müssen wir mal allein beten«, sagte die Kleine tapfer, trotzdem auch ihr bange war nach dem Gutenachtkuß der Mutter. Sie begannen beide ihr Abendgebet zu sprechen.

Aber Hanni kam nicht bis zu Ende. Die Augen fielen dem müden Jungen schon vorher zu. Und kaum hatte Peter zum Schluß noch gebetet: »Lieber Gott mach doch, daß morgen Vater und Muttchen bestimmt da sind – Amen!« da schlief auch sie bereits. Hektor aber hielt getreulich Wacht bei den kleinen verlassenen Flüchtlingskindern.


 << zurück weiter >>