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15. Kapitel.
Wer Tante Ginchens Teerose bekommt.

Annedores kleines Mundwerk war stets aufgezogen. Von früh bis spät klapperte es lustig. Tante Gines armer Kopf wußte davon ein Lied zu erzählen. Aber auch in der Schule vermochte die Kleine ihr Mündchen nicht im Zaum zu halten. Selbst in den Stunden, wo doch jedes Kind, das nicht vom Lehrer gefragt wird, zu schweigen hat. Annedore Kaschuba mußte ständig wegen Unaufmerksamkeit und Schwatzhaftigkeit erinnert werden. Das war auch der Grund, weshalb sie nur auf der zweiten Bank saß. Ihren Fähigkeiten nach hätte sie eine der ersten sein können.

Seit Ostern war sie in eine neue Klasse versetzt worden. Da war nicht mehr das nette Fräulein Miehe ihre Klassenlehrerin, sondern ein strenges Fräulein Specht. Das trug eine Brille und sah dadurch jede Unaufmerksamkeit ihrer Schülerinnen. In die Ecke, wo Annedore ihren Platz hatte, waren die Brillengläser ganz besonders oft gerichtet.

Aber niemals hatte sich das kleine Mädchen die Unzufriedenheit ihrer Lehrerin in solchem Maße zugezogen wie am heutigen Tage. Annedore schien heute gar keinen Sinn für das deutsche Grammatikstück, das man durchnahm, zu haben. So oft Fräulein Specht sie aufrief, war sie nicht bei der Sache und mit anderen Dingen beschäftigt. Aber nicht genug, daß sie selbst nicht aufpaßte, sie machte auch ihre Nachbarinnen unaufmerksam.

»Einem der Prinzen, einem Sohn von unserm Kaiser, hat mein Hannibruder das Leben gerettet und noch vielen hundert anderen Soldaten. Hier steht's in der Zeitung, da – ihr könnt's selber lesen!« so flüsterte die Kleine hinter dem vor dem Mund gehaltenen Löschblatt und ließ stolz eine mit Rotstift angestrichene Zeitungsnachricht unter dem Tisch von Hand zu Hand wandern.

Fräulein Specht nahm die unaufmerksame Ecke aufs Korn.

»Annedore Kaschuba, welches ist das Prädikat in diesem Satz?«

Das kleine Mädchen fuhr in die Höhe und starrte die Lehrerin an, ohne auch nur die Frage begriffen zu haben. Sie war mit ihren Gedanken gerade bei ihrem Hanni gewesen. Wie mochte der kleine Bruder, der sonst niemals allzuviel Mut gezeigt, es nur fertig gebracht haben, die große Eisenbahn anzuhalten? Ach, wenn er es ihr doch hätte erzählen können, oder wenn er es ihr auch nur ausführlich schreiben wollte!

»Was hatte ich eben gefragt, Annedore?« Die Brillengläser von Fräulein Specht blitzten ärgerlich in der Sonne. Annedore hatte keine Ahnung. Hilflos blickte sie drein.

»Ja, sag' mal Kind, was fällt dir denn eigentlich ein! Die ganze Stunde bist du schon mit deinen Gedanken wo anders. Setze dich jetzt mal hier vorn auf die Strafbank, daß ich dich mehr vor Augen habe. Und von dem gemeinsamen Lazarettbesuch schließe ich dich heute nachmittag aus. Unsere tapferen Verwundeten, die selbst bis zum äußersten ihre Pflicht erfüllt haben, mögen keinen Besuch von Kindern, die in der Schule pflichtvergessen sind.« So sagte Fräulein Specht strafend.

Mit zuckenden Lippen nahm Annedore den Strafplatz ein. Die Schande war groß. Noch größer aber die Enttäuschung, daß sie am Nachmittag nicht mit ins Lazarett sollte. Die Klasse freute sich seit Tagen schon darauf, den Verwundeten Liebesgaben bringen zu dürfen. Die schönste eingekochte Marmelade hatte Annedore bereits Tante Gina dazu abgebettelt. Onkel Adalbert hatte ihr eine Kiste Zigarren versprochen, und Minna wollte sogar Waffeln backen.

Und nun sollte alles umsonst sein? Nein, sie mußte jetzt durch ganz besondere Aufmerksamkeit ihren Fehler gut zu machen suchen. Vielleicht ließ Fräulein Specht sich dann noch erweichen und nahm sie mit.

So gab sich Annedore auf ihrem Strafplatz grenzenlose Mühe, ihre in alle Winde flatternden Gedanken nur noch auf Subjekt, Objekt und Prädikat eines jeden Satzes zu richten. Zuerst gelang ihr das auch ganz gut. Fräulein Spechts Brillengläser blickten jetzt ganz freundlich auf die aufmerksame Schülerin. Bis es Annedore plötzlich durchfuhr: Herr Gott, sie hatte ja ihr Zeitungsblatt, augenblicklich ihr größter Schatz, nicht zurückbekommen! Wer von den Kindern mochte es nur haben? Wenn es nun eins zerriß, oder gar sein Frühstück in Hannis Heldentaten einwickelte?

Mit Annedores Aufmerksamkeit war es wieder zu Ende. Ihr hübsches Köpfchen ging nach allen Seiten. »Mein Zeitungsblatt – wer hat meine Zeitung? Gebt es unter dem Tisch her!« flüsterte es von der Strafbank nach rückwärts.

Fräulein Specht entging natürlich die Unruhe, die sich durch die Klasse verbreitete, und deren Urheberin wieder mal Annedore Kaschuba war, nicht.

»Ja, Annedore, muß ich dich erst unter Tadel schreiben? Eben noch habe ich mich über deine Teilnahme am Unterricht gefreut, daß du bemüht bist, mich wieder zufrieden zu stellen, und nun gibst du schon wieder Anlaß zur Klage.« Die Lehrerin schüttelte in höchster Unzufriedenheit den Kopf.

»Ich will ja aufpassen – wirklich – wenn ich bloß meine Zeitung wieder kriege«, stieß die Getadelte in Sorge um ihren kostbaren Schatz hervor.

»Was, eine Zeitung? Wie kannst du nur eine Zeitung mit in die Schulstunde bringen und dadurch auch noch die anderen Kinder vom Unterricht ablenken?« forschte Fräulein Specht stirnrunzelnd.

»Wenn doch aber drin steht, daß mein Hannibruder einem Prinzen das Leben gerettet und einen Eisenbahnzug vor dem Entgleisen bewahrt hat«, verteidigte sich die Kleine.

»Ei, das ist dein Bruder, Annedore?« Die Brillengläser funkelten lange nicht mehr so böse. Fräulein Specht hatte selbst den Bericht über die Heldentat des ostpreußischen Flüchtlingskindes in den Danziger Neuesten Nachrichten gelesen.

»Ja, freilich, mein Hanni ist es, wenn hier auch Hans Kaschuba steht«, in schwesterlichem Stolz schwenkte Annedore das Zeitungsblatt, das inzwischen glücklich wieder zu ihr zurückgekehrt war, in der Luft herum.

»Na, Annedore, dann soll dir heute deine Unaufmerksamkeit verziehen sein. Aber nun sei bestrebt, es deinem Bruder an Tüchtigkeit gleich zu tun«, Fräulein Specht wandte sich wieder ihrem Subjekt und Objekt zu.

Und wirklich, Annedore gab jetzt keinen Grund mehr zur Klage. Sie wollte doch so gern mit ins Lazarett.

Als die Glocke den Schulschluß meldete, wagte sie es, Fräulein Specht darum zu bitten. Ganz bescheiden, gar nicht so keck, wie das sonst wohl ihre Art war.

Hurra! – Fräulein Specht nickte Gewährung.

»Also um vier Uhr versammeln sich alle Kinder hier im Schulhof«, damit entließ die Lehrerin ihre Klasse.

Annedore war von einer zappelnden Ungeduld. Sie machte Tante Gine ganz nervös. Schon beim Mittagessen ging es ihr nicht schnell genug, trotzdem noch zwei Stunden bis zur festgesetzten Stunde Zeit war.

»Tante Ginchen, wie bekomme ich denn die Marmelade und die Zigarren und die vielen Waffeln bloß fort? Ob ich alles in meinen Puppenwagen packe und Hektor vorspanne? Der würde sicherlich auch gern dabei sein«, überlegte das kleine Mädchen.

»Hunde haben im Lazarett nichts zu suchen.« Tante Gine hatte ihre Abneigung gegen den braven Hektor noch immer nicht überwunden, trotzdem er jetzt endgültig als Hausgenosse geduldet wurde. Seine kleine Herrin gegen den gewünschten, sanften Jungen einzutauschen, daran dachte schon längst keiner mehr bei Professors. Jedem der alten Leutchen war das liebenswürdige, heißblütige Kind mit all seinen Fehlern ans Herz gewachsen, und Tante Gine am allermeisten, wenn sie es auch nicht zugab.

Als das alte Fräulein die enttäuschte Miene ihres Pflegetöchterchens sah, daß es nicht mit Hund und Puppenwagen ins Lazarett ziehen durfte, tat es ihrem gütigen Herzen schon wieder leid. »Ich werde dir alles sorgsam verpacken, Annedorchen, daß du deine Liebesgaben gut hinbekommst«, tröstete sie.

Und wirklich! Um halb vier stand neben Annedores Nachmittagsmilch ein allerliebstes Körbchen, in das die gute Tante Gine noch manches andere Leckere getan hatte. Obenauf aber hatte sie eine wunderschöne Teerose gelegt.

»Tante Ginchen, deine Rose!« entsetzt wies das kleine Mädel auf die zarte Blüte. Wie ihren Augapfel hatte die Tante ihre gelbe Rose behütet, daß der Wildfang nur ja nicht dagegen lief oder sie aus Unachtsamkeit knickte. Seitdem die Knospe sich erschlossen hatte, war Tante Gines erster Gang jeden Morgen zu ihrem Röschen. Dort erquickte sie sich an dem zartherben Duft: »Meine Badereise«, pflegte sie scherzend diesen Morgenausflug zu nennen.

Und nun hatte Tante Gine selbst ihre Rose abgepflückt? Annedore traute ihren Augen nicht.

»Nimm sie nur, Kind, nimm sie nur«, meinte die Tante, gütig lächelnd. »Unsere braven Verwundeten bedürfen der Erquickung mehr als ich. Ich habe meine Freude seit Tagen daran gehabt, nun mögen sich andere auch noch daran erfreuen.«

Selig sprang Annedore mit ihrem Körbchen davon.

»Langsam, Kind, vorsichtig, daß du nichts vergießt«, rief die alte Tante von ihrem Hausbänkchen auf dem Beischlag hinter der wilden Hummel drein.

Paarweise, so zogen die kleinen Mädchen durch das Hohe Tor zum Lazarett. Ein jedes trug ein Körbchen oder Kästchen, manches auch wohl nur einen Blumenstrauß. Wie die Sperlinge, so piepsten und schwirrten sie durcheinander. Annedore, sonst die lebhafteste, war ziemlich nachdenklich. Sie zerbrach sich ihr Köpfchen, wem von all den Verwundeten sie wohl Tante Gines Teerose schenken sollte.

»Weißt du, Lilli,« meinte sie schließlich zu ihrer kleinen Kameradin, »ich gebe sie dem, der am dollsten verwundet ist, der am bleichsten aussieht. Und die Marmelade kriegen die, welche schon ein bißchen gesünder sind. Aber zu Waffeln müssen sie ganz gesund sein, sonst verderben sie sich am Ende den Magen. Und Leute, die im Bette liegen, können doch auch keine Zigarren rauchen. Du, Lilli, mein Zeitungsblatt von Hanni habe ich auch eingesteckt. Die Verwundeten werden sich aber mal wundern, daß kleine Jungens auch schon so tapfer sein können.«

Doch es kam anders, als es sich Annedore überlegt hatte. Die Liebesgaben mußten beim Eintritt ins Lazarett abgeliefert werden, damit sie gleichmäßig verteilt werden konnten. Daß nicht einer alles bekam, und der andere gar nichts.

»Aber Tante Gines Teerose gebe ich nicht ab, die will ich selbst den Verwundeten bringen«, ereiferte sich Annedore. Sie war grenzenlos enttäuscht, daß sie ihre Gaben nicht persönlich verteilen durfte.

Mit ihrer Teerose bewaffnet, so schritt die Kleine im Zuge der Schulkameradinnen in den großen, hellen Saal, in dem Bett neben Bett stand. Darüber das Täfelchen mit dem Namen des Verwundeten.

Ganz beklommen wurde den lustigen kleinen Mädeln zumute, als sie die bleichen Gesichter alle in den Kissen sahen. Sie wagten kaum aufzutreten, geschweige denn ein Wort zu reden. Fräulein Specht sprach mit diesem und jenem und ließ sich seine Verwundungsgeschichte erzählen. Die Schwestern in den blaugestreiften Kleidern und weißen Häubchen ermutigten die scheuen Kinder. »Gebt unsern Soldaten nur die Hand und sagt ihnen guten Tag, sie freuen sich mit euch.«

Aber verlegen hielt sich der kleine Besuch zurück. Nur Annedore fand ihre kecke Unbefangenheit wieder. Sie trat an einen verwundeten Landsturmmann, der sein Bein eingebüßt hatte, heran und gab ihm freundlich die Hand. »Guten Tag, Herr Soldat, ich habe Ihnen feine Erdbeermarmelade, die meine Tante Ginchen selbst eingekocht hat, mitgebracht. Und wenn Sie erst aufstehen dürfen, kriegen Sie auch was von Minnas Waffeln und von Onkel Adalberts Zigarren«, so erzählte sie ihm zutraulich.

Der Verwundete lächelte trotz seiner Schmerzen erfreut. Weniger über die in Aussicht gestellten Genüsse, als über das reizende kleine Mädchen, das so allerliebst zu plaudern wußte.

»Schenke ihm doch deine schöne Rose«, meinte eine der Schwestern.

Aber Annedore hielt Tante Gines Teerose fest. »Ei nein, der ist noch nicht blaß genug. Ich muß erst mal sehen, ob nicht noch ein ganz doll blasser kommt. Aber riechen darf er mal an meiner Rose.« Damit hielt sie ihm die zarte Blüte unter die Nase.

Der Landsturmmann und die Schwester lachten um die Wette, und auch die Verwundeten, die in der Nähe lagen und Annedores Worte gehört hatten, belustigten sich. Eins der andern Kinder trat an das Lager heran und legte ihren Blumenstrauß auf die Bettdecke. Annedore aber schritt mit ihrer Teerose weiter, hinter Fräulein Specht her, in den Nebensaal.

Hier war es vergnüglicher. Die leichter Verletzten hatte man in diesem Saal einquartiert. Die meisten waren schon außerhalb des Bettes. Sie spielten Karten, rauchten Zigarren, schrieben Ansichtskarten und verfertigten allerlei niedliche Sachen. Der flocht ein Körbchen, jener schnitzte Tierchen und pinselte sie an; hier knüpfte einer aus Bindfaden eine Netztasche und dort – Annedore mußte hell auflachen – da lernte ja einer sogar bei der Schwester stricken. Nein, sah das komisch aus. Er stellte sich entschieden geschickter dabei an, als sie selbst. Die Strickstunde bei Tante Ginchen war nämlich für den Unband eine Qual.

Am liebsten wären die Kinder gar nicht wieder aus dem gemütlichen Saal hinausgegangen. Hier tauten auch die Schüchternen auf und schwatzten munter drauf los. Aber es galt, noch mehr Verwundete zu besuchen.

Über die Terrasse ging's, auf der die schon Genesenden in Liegestühlen sich des warmen Sonnenscheins und des jungen Frühlingsgrün erfreuten.

Annedore hielt ihre Teerose krampfhaft fest. Nein, die brauchten sie alle nicht, die waren nicht so krank. Schlimmstenfalls, wenn sie keinen »ganz doll blassen« fand, brachte sie Tante Gine ihre Teerose wieder mit heim.

Aber nun betraten sie zum Schluß noch einen Saal, in dem erst kürzlich Schwerverwundete eingeliefert worden. Viele von ihnen waren gar nicht bei Besinnung, sondern lagen im Fieber. Andere ruhten mit leidenden Gesichtern in den Kissen und sahen den fremden kleinen Besuch kaum. Auf den Zehenspitzen wagten sich die kleinen Mädchen hier nur vorwärts.

Annedore überlegte. Ob sie einem der Fiebernden ihre gelbe Rose aufs Bett legen sollte? Damit er sich, wenn er erwachte, daran freute. Aber das konnte noch lange dauern, inzwischen war die Rose am Ende verwelkt. Während sie noch schwankte und zauderte, kam sie mit der Hand gegen die Kleidertasche. Darin knisterte es. Richtig – ihr Zeitungsblatt. Sie hatte ja ganz vergessen, den Verwundeten von ihrem tapferen Hannibruder zu erzählen. Aber in diesem Saal waren ja auch einige bei Besinnung, die würden sich gewiß darüber freuen. Dort drüben las ja sogar einer selbst die Zeitung.

Annedore zog das Blatt aus der Tasche und trat damit zu dem Lesenden, dessen Gesicht hinter der Zeitung ziemlich verschwand. Das kleine Mädchen blickte neugierig mit in die Zeitung hinein.

Nanu?!

Das war ja dasselbe Blatt, das sie ihm gerade zeigen wollte. Der Blick des Verwundeten hing an der gleichen Stelle, die Onkel Adalbert in ihrer Zeitung rot angestrichen hatte. Stolz wies Annedore mit dem Zeigefinger darauf.

»Das ist mein kleiner Hannibruder, der die vielen Soldaten und den Prinzen gerettet hat«, verkündete sie frohlockend.

Jäh fuhr der Kopf des Verwundeten beim Klang der Kinderstimme herum.

»Peter« – rief es in höchster Aufregung aus den Kissen, »mein Peterchen!« Starr stand die Annedore und lauschte dem so lange nicht vernommenen Namen. Aber nur für eine Sekunde, dann kam wieder Leben in das kleine Ding, und »Vater!« – jauchzte es, »Vaterchen!« – so jubelte es durch den stillen Krankensaal.

Und dann lag das Töchterchen in den Armen des verwundeten Kriegers, die es so fest hielten, als könne es ihm aufs neue genommen werden. Der Kleinen aber war es am Vaterherzen zumute, als hätte sie aus der Fremde endlich wieder heimgefunden.

Mit großen, neugierigen Blicken standen die Schulkameradinnen herum. Fräulein Specht hatte Tränen der Rührung in den Augen über das unvermutete Wiedersehensglück von Vater und Kind. Und all die verwundeten Soldaten, die nicht im Fieberschlaf lagen, freuten sich mit den beiden.

Als Annedore endlich wieder den Kopf von Vaters Brust hob, da lag Tante Gines Teerose von der stürmischen Umarmung geknickt auf der Bettdecke. Aber was fragte die Kleine jetzt noch danach. Vater bekam sie ja doch, kein anderer! Vater freute sich auch so mit der duftenden Rose. War es nicht gerade, als ob sie dieselbe für ihn aufgehoben hatte?

Fräulein Specht gestattete Annedore, nachdem sie von Herrn Kaschuba erfahren, daß er eine nicht allzu schwere Verwundung am Bein davongetragen, noch ein Stündchen beim Vater zu bleiben. Sie selbst verließ mit den Schülerinnen das Lazarett.

Ach, was hatten sich der Vater und sein Peterchen nicht alles zu erzählen. Vom ersten Tage der Flucht an, bis zu dem Augenblick, wo sie sich von Hanni trennen mußte.

»Und wer weiß, Vaterchen, ob wir uns ohne Hannis Heldentat überhaupt gefunden hätten. Am Ende wäre ich durch den Saal gegangen, ohne dich zu erkennen. Nur weil du die Zeitung gelesen, kam ich zu dir.« Glückselig lauschte der Vater dem kindlichen Geplauder, das er solange entbehrt.

Von Onkel Adalbert und Tante Ginchen berichtete das Plappermäulchen, von Minna und von Hektor. »Es ist ja ganz schön bei Professors, aber nun bleibe ich lieber wieder bei dir, nun gehe ich nie mehr von dir fort, Vaterchen. Jetzt ziehen wir wieder alle zusammen in unser hübsches Häuschen, ja?«

»Ei, mein Herzchen,« meinte der Vater mit wehmütigem Ernst, »sobald ich gesund bin, muß ich wieder in den Schützengraben. Da kann ich mein kleines Mädchen nicht mitnehmen. Und unser Häuschen? Du lieber Herrgott! Kein Ziegel steht mehr davon. Dem Erdboden gleich haben die russischen Kosaken es gemacht. Aber das läßt sich neu aufbauen. Wenn ich nur wüßte, was aus unserer Mutter geworden ist. Du glaubst es gar nicht, Kind, wie schwer euer Schicksal mir all die Zeit auf der Seele gelastet hat. Aus allen Himmeln war ich, als ich von der Tante Friedchen in Thüringen die Nachricht erhielt, daß ihr nicht, wie ich hoffte, bei ihr Unterkunft gesucht, und daß jede Spur von euch fehle. Wenigstens habe ich dich jetzt wieder, mein Peterchen, und kann um unseren Hanni ebenfalls beruhigt sein. Und unsere Mutter wird der liebe Gott hoffentlich in seinen Schutz genommen haben. Möge er uns, wenn erst Frieden im Vaterlande ist, alle wieder zusammenführen!« So sprach der Vater leise und schloß ermattet die Augen.

Da trat Professor Kruse, dem Fräulein Specht von dem merkwürdigen Wiederfinden seines Pflegetöchterchens mit ihrem Vater in Kenntnis gesetzt hatte, in den Lazarettsaal. Er wollte Herrn Kaschuba begrüßen und Annedore heimholen.

Aber das war ein schweres Stück Arbeit. Die Kleine wollte sich durchaus nicht wieder von ihrem Vater trennen. Sie bat den Professor, die Schwestern, ja selbst den Arzt flehentlich, sie doch bei ihrem Vater zu lassen. Sie wollte ihn auch ganz bestimmt gesund pflegen.

Das ging natürlich nicht.

Erst als eine der Schwestern die Kleine darauf aufmerksam machte, daß vieles Sprechen dem kranken Vater schade, und daß er jetzt Ruhe brauche, ließ sie sich dazu bewegen, mit Onkel Adalbert heimzukehren.

»Aber gleich nach dem Mittagessen komme ich morgen wieder und pflege dich, Vaterchen«, versprach sie noch im Fortgehen.

»Tante Ginchen – Minna – Hektor – Vater ist da – Vater ist hier in Danzig! Im Lazarett habe ich ihn gefunden! Und deine Teerose habe ich ihm geschenkt, Tante Ginchen«, so jauchzte sie bald darauf durch das stille Haus in der Frauengasse. »Und paßt mal auf, mein Muttchen kommt auch wieder. Ganz bestimmt! Der liebe Gott ist ja so gut, der hat sicher nicht erlaubt, daß die bösen Russen ihr etwas zuleide getan haben!«

Sollte die kindliche Zuversicht des kleinen Mädchens getäuscht werden?!


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