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7. Kapitel.
Schwerer Abschied.

Fünf Tage waren Peter und Hanni nun schon im Elbinger Kriegskinderhort, und von Tag zu Tag gefiel es ihnen dort besser. Sie lernten niedliche Sächelchen flechten und kleben, nette Kinderlieder singen und sich mit den kleinen Spielgefährten gut vertragen. Bei dem friedfertigen Hanni war das eigentlich selbstverständlich; weniger bei Peter, die war es schon von daheim her gewöhnt, sich mit den Dorfbuben herumzuprügeln. Nur mit ihrem lieben Hannibruder war sie stets ein Herz und eine Seele.

Inzwischen gingen allerlei Briefe aus der Flüchtlingsstelle an die Heimatbehörde der Kinder, an die Bahnstation, auf der sie den Vetter und die Base verloren, und an mehrere Flüchtlingsstellen in anderen ostpreußischen Städten ab. Die Nachforschung bei der Heimatbehörde blieb unbeantwortet, da das Dorf in Händen der Russen war. Von den verschiedenen Flüchtlingsstationen kam die Auskunft, daß nach zwei Kindern namens Peter und Hanni Kaschuba nirgends Nachfrage gewesen sei. Denn Vetter Jochen und Base Stine hatten in ihrem einfachen Bauernverstand nicht daran gedacht, eine Flüchtlingsstelle zur Wiederauffindung der Kinder in Anspruch zu nehmen. Die hatten, nachdem sie selbst genügend nach den Kindern umhergesucht, sich ins Unabänderliche gefügt. Sie trösteten sich damit, daß die beiden wohl ihre Eltern wiedergefunden haben würden und gut aufgehoben seien. Die Base blieb in Königsberg und der Vetter meldete sich zum Militär.

In dem großen Zimmer an dem langen Tisch hielten nun die Herren und Damen Rat, was aus Peter und Hanni Kaschuba werden sollte. Denn man mußte annehmen, daß die Eltern der Kinder beim Einfall der Russen, die alles niedergebrannt und niedergestochen hatten, ums Leben gekommen waren.

Die Flüchtlingsstelle brachte Flüchtlingskinder, deren Angehörige tot oder nicht aufzufinden waren, in Familien unter, die sich hochherzig in der schweren Zeit dazu erboten hatten, ein fremdes Kind an Kindes Statt oder zur Miterziehung ihrer eigenen Kinder ins Haus zu nehmen.

Bald standen auch Peter und Hanni auf der Liste der auszugebenden Flüchtlingskinder.

Eines Nachmittags, als sie gerade mit Tante Ilse Vaterlandslieder sangen, erschien die Dame, die sie hergeführt. Sie sprach leise mit Tante Ilse und erfuhr, daß der Junge ein stilles, sanftes Kind sei und das Schwesterchen ein lebhaftes, ausgelassenes kleines Ding.

»Das paßt ja wunderschön«, sagte die Dame und wandte sich zu den Kindern.

»So, Hanni und Peter, nun kommt mal mit mir mit«, sagte sie freundlich.

»Sind Vater und Mutter angekommen?« wie erwartungsvoll die Kinderaugen an den Lippen der Dame hingen. Es tat derselben ordentlich weh, die Kleinen enttäuschen zu müssen.

»Nein, Herzchen, im Gegenteil, alle Nachforschungen sind umsonst gewesen. Aber andere gute Leute haben sich erboten, euch in ihr Haus zu nehmen.«

»Ei nein, da bleiben wir viel lieber bei Tante Ilse«, meinte Peter und setzte sich ganz gemütlich, als sei die Sache damit erledigt.

»Das geht nicht, mein Kind«, sagte nun auch Tante Ilse. »Kinder, die ihre Angehörigen nicht hier am Ort haben, können nur vorübergehend Unterkunft bei uns finden. Es geschieht zu eurem Besten. Geht nur mit der Dame mit.«

Ja, wenn Tante Ilse es auch sagte, dann mußten sie wohl gehorchen.

So standen Peter und Hanni wieder vor dem langen Tisch und ahnten in ihrer kindlichen Unbefangenheit nicht, daß an demselben ihr künftiges Schicksal beschlossen wurde.

»Also Professor Kruse in Danzig wünscht einen ruhigen kleinen Knaben, der leicht zu erziehen ist, in sein Haus zu nehmen«, begann einer der Herren den Umsitzenden aus einem Schreiben, das er in der Hand hielt, mitzuteilen. »Ferner sucht der Gutsbesitzer Herr v. Breskow ein kleines Mädel an Stelle seines verstorbenen Töchterchens zur Miterziehung für seine fünf Knaben. Die Sache paßt ganz vorzüglich. Bitte wollen Sie mal notieren«, er wandte sich an eine Dame. »Also Peter Kaschuba kommt nach Danzig zu Professor Kruse, Frauengasse 6. Und Hanni Kaschuba nach dem Gut Tiemendorf zu Herrn von Breskow.« Der Herr glaubte natürlich, wie alle andern, daß Peter der Knabe wäre, und Hanni das Mädel.

Bis dahin hatten die beiden Kinder kaum zugehört. Was der Herr da mit den großen Leuten sprach, interessierte sie nicht. Peter belustigte sich inzwischen damit, Sonnenstäubchen zu fangen, während Hanni schüchtern an seinem Anzug herumzupfte. Kein Gedanke kam den beiden Kleinen, von welcher Tragweite die Worte des Herrn für ihr ganzes späteres Leben sein sollten.

Erst als Peter ihren Namen vernahm, horchte sie auf. Was – zu einem Professor nach Danzig sollte sie? Und Hanni nach einem Gut? Das war doch sicherlich nicht an demselben Ort.

»Der Professor in Danzig muß sich ein anderes Kind suchen«, erklärte das kleine Mädel plötzlich ganz dreist zum größten Erstaunen all der Herren und Damen. »Ich bleibe bei meinem Bruder.« Dazu schüttelte sie lebhaft ihr hübsches Köpfchen.

Den Umsitzenden taten die Geschwister, die das unbarmherzige Schicksal auseinanderreißen wollte, von Herzen leid. Aber man mußte froh sein, sie gut unterzubringen.

»Ja, mein Herzchen, danach geht es nicht. Zwei Kinder nimmt kein Mensch ins Haus«, wandte sich der Herr, der den Vorsitz führte, an das energische kleine Mädel. »Haltet euch zu morgen vormittag bereit. Zwei Damen, welche dieselbe Strecke fahren, werden so freundlich sein, euch an eurem Bestimmungsort abzuliefern.« Damit war die Sache für ihn erledigt.

Doch nicht für Peter.

»Ich gehe aber nicht, ich reise nicht wo anders hin, ich will bei Hanni bleiben«, weinte und schrie sie mit der ganzen ungestümen Lebhaftigkeit ihres Wesens. Dazu trampelte sie mit den Füßen zur Bekräftigung ihrer Worte.

»Pfui, schäme dich, hier so ungezogen zu sein«, meinte eine der Damen tadelnd. »Wenn deine neuen Pflegeeltern dich so sähen, dann würden sie dich wohl kaum in ihr Haus nehmen.«

»Ich will auch gar nicht zu ihnen – ich will nicht – ich will bei meinem Hannibruder bleiben!« Beide Arme schlang die ungezügelte Kleine fest, ganz fest um den Bruder, als sollte er ihr sogleich entrissen werden.

Hanni, der noch viel entsetzter darüber war, daß er ohne Peter, die er von kleinauf als seinen Schutz betrachtet hatte, zu fremden Leuten sollte, weinte in seiner stillen Art herzbrechend in sich hinein.

An dem langen Tisch war man bereits zu der folgenden Sache übergegangen. Keiner der Herren und Damen ahnte, daß eine Verwechselung stattgefunden. Daß Peter Kaschuba, welcher zu dem Professor nach Danzig kommen sollte, der einen kleinen Jungen wünschte, ein kleines Mädchen war. Und Hanni Kaschuba, die an Stelle des verstorbenen Töchterchens nach dem Gut geschickt wurde, kein Mädel, sondern ein kleiner Junge.

Die Herren und Damen verstanden ihr eigenes Wort nicht, denn Peter schrie unentwegt weiter:

»Muttchen – Muttchen – –!« Ach, der Name, der sonst der Kleinen immer Hilfe und Beruhigung gebracht, wollte heute nichts nützen. Denn Muttchen war weit – weit.

»Du bist ein ganz undankbares Kind«, eine Dame führte die Kinder, welche störten, wieder zurück in den Kriegskinderhort. Erst Tante Ilses liebevollem Zureden gelang es nach langer Zeit, das laute wilde Schluchzen des kleinen Mädchens zu besänftigen. Hannis bitterliche Tränen aber wollten nicht aufhören zu fließen.

»Weine nicht, mein kleiner Hannibruder«, flüsterte Peter ihm ins Ohr. »Ich gehe ganz, ganz bestimmt nicht von dir fort. Ich steige einfach mit in deinen Zug ein.« Da trocknete auch Hanni endlich seine Tränen.

Aber die rechte Freude und der kindliche Frohsinn wollte den beiden Kindern trotzalledem heute nicht beim Spielen kommen. Wenn auch Peter fest entschlossen war, sich nicht von Hanni zu trennen, so hatten sie doch alle beide ein unbehagliches Gefühl, wenn sie an den morgigen Tag dachten

Goldener Sonnenschein lachte am andern Tage vom blauen Himmel, und auch die Menschen in den Straßen lachten und freuten sich, denn von den Häusern wehten bunte Fahnen, die ersten Siegesfahnen – Lüttich war im Sturm erobert.

Aber die Kinderchen, die da an der Hand von Tante Ilse durch die Straßen der Stadt Elbing dem Bahnhof zuschritten, sahen trotz der lustigen Fahnen gar nicht vergnügt drein. Nicht einmal Peter, die doch sonst stets mit der lieben Sonne um die Wette zu lachen pflegte.

War es der Abschied vom Kriegskinderhort und von Tante Ilse, oder war es das Gefühl, daß sie ihre Eltern nie mehr wiederfinden würden, wenn sie weit fort in eine andere Stadt kamen – Peter wußte es selbst nicht zu sagen. Die Trennung von Hanni hatte keine Schuld an dem ungewöhnlichen Ernst der Kleinen. Denn sie blieb ja bestimmt bei ihm, sie stieg ganz gewiß in seinen Zug hinein!

Hanni war weniger fest davon überzeugt. Wenn nun die Damen es nicht erlaubten, daß Peter mit ihm fuhr? Wenn er nun allein zu den fremden Leuten mußte, die ihn nicht kannten und ihn nicht lieb hatten? Das Herz schlug dem armen kleinen Kerl vor Angst.

Auf dem Bahnhof erwarteten sie zwei Damen, welchen Tante Ilse die beiden Kinder übergab. Zärtlich verabschiedete sie sich von den Kleinen, denn sie mußte zu den andern Kindern in ihren Hort zurück. »Schreibt mir mal, wie es euch ergeht – und Weihnachten besuchst du dein Brüderchen, nicht wahr?« rief Tante Ilse noch aufmunternd zurück. Sie freute sich, daß das kleine Mädchen sich so artig in die unabänderliche Trennung von dem Bruder zu fügen schien.

Jede der beiden Damen hatte einen Zettel mit dem Namen des ihr anvertrauten Kindes und der Adresse der künftigen Pflegeeltern bei sich.

»Also Peter reist mit mir nach Danzig«, die eine Dame wandte sich zu dem kleinen Jungen, um ihn an die Hand zu nehmen.

»Ich bin ja Peter,« sagte da zu ihrer Verwunderung das kleine Mädchen, »und Hanni ist mein Bruder.«

»So – so«, die Dame lachte. »Also kommst du mit mir nach Danzig. Aber was wird denn aus dem Hund?« Sie blickte auf das große Tier, das die Geschwister zwischen sich führten. »Von einem Hund steht auf keinem der beiden Zettel etwas vermerkt.«

»Unser Hektor bleibt bei uns«, sagte Peter in so bestimmtem Ton, als sei daran nicht zu rühren.

»Das wird kaum gehen, Herzchen. Wer weiß, ob eure Pflegeeltern damit einverstanden sind.«

»Aber was fangen wir bloß mit dem Hund an, wo bringen wir ihn unter?« überlegten die Damen in ziemlicher Verlegenheit.

»Ich würde ihn ganz gern nehmen, er könnte meiner Frau den Kohlenwagen ziehen«, ließ sich da eine Stimme hören. Es war der Gepäckträger, der seine kleinen Freunde begrüßt und die Überlegungen mitangehört hatte.

»Nein – nein – Hektor geht mit uns!« beide Kinder riefen es in größter Aufregung.

Was – ihr lieber Hektor in den dunklen Kohlenkeller zu der unfreundlichen Frau Storchbein? Nein, das gaben Peter und Hanni nie und nimmer zu. Fest hielten sie Hektor, der schwanzwedelnd zu ihnen aufsah, an seinem Halsband.

»Auf dem Gut würde der Hund am Ende Aufnahme finden«, meinte schließlich die Dame, welcher Hanni anvertraut war, als sie sah, wie schwer es den Kindern wurde, von ihrem vierfüßigen Freunde zu lassen.

»Ja, auf einem Gut kommt es schließlich auf ein Tier mehr oder weniger wohl nicht an«, erklärte sich auch die andere Dame zur ungeheuren Erleichterung der Kinder einverstanden.

Peter frohlockte. Wenn sie dann zu Hanni einstieg, blieben sie alle drei zusammen.

Ein Zug wurde signalisiert. Der Gepäckträger eilte davon, und die eine Dame wandte sich zu Peter: »So, Kleine, nun sage deinem Brüderchen Lebewohl, der Danziger Zug wird gleich einfahren.«

»Was?« Peters Augen wurden schreckensweit. »Hanni muß doch erst abreisen.«

»Nein, Hannis Zug geht erst in einer halben Stunde, wir fahren vorher.«

»Das geht doch aber nicht.« Peter sah mit Entsetzen ihren schönen Plan zertrümmert. »Ich reise nicht nach Danzig, ich will mit Hanni und Hektor auf das Gut.« Das Brausen des einfahrenden Zuges verschlang Peters Gebrüll.

»Flink – flink – einsteigen!«

Aber Peter rührte sich nicht von der Stelle. Den einen Arm hatte sie fest um Hannis Flachskopf, den andern um Hektors schwarzen Hundekopf geschlungen.

Hanni hielt ebenfalls sein Schwesterchen fest umklammert. Mit Gewalt mußte man die Kinder voneinander lösen, und das mit Händen und Füßen sich zur Wehr setzende kleine Mädchen in ein Bahnabteil heben. Peter schrie, als ob sie am Spieße steckte. Es gab einen großen Menschenauflauf auf dem Bahnhof.

Hektor, die alte, gute Kinderfrau, überlegte: War er dem brüllenden kleinen Mädel, das man fortbrachte, nicht notwendiger als dem Hanni?

Mit einem Satz, ehe noch die Tür geschlossen wurde, war auch der treue Hektor hinterdrein gesprungen.

»Hüi – ü üüh – –« da pfiff die Lokomotive. Mitleidslos führte sie das laut nach ihrem Hannibruder schreiende Schwesterchen davon, während das Brüderchen, jämmerlich vor sich hinschluchzend, zurückblieb.

Wie würde es den beiden Flüchtlingskindern bei den fremden Menschen ergehen?


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