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5. Kapitel.
Im Kohlenkeller.

Es war fast dunkel, als der Gepäckträger mit seiner Equipage vor einem armselig kleinen Häuschen anhielt.

»Da wären wir«, sagte er, und es ward ihm jetzt doch ein wenig bedenklich zumute, wie seine Frau, die niemals sehr sanftmütig war, sich wohl zu seinen kleinen Gästen stellen würde.

Die blickten mit großen neugierigen Kinderaugen auf das wenig einladende Haus. Wie ganz anders hatte ihr schmuckes Häuslein daheim ausgeschaut!

Aber noch erstaunter wurden die Blicke der beiden Kleinen, als der Gepäckträger jetzt mit einladendem »Kommt nur, kommt!« ihnen eine schiefgetretene Kellertreppe voran herabzusteigen begann.

»Kohlenhandlung von Emilie Storchbein« las Peter in aller Eile auf dem über dem Eingang angebrachten Schild.

Aber ehe die Kleine noch fragen konnte, was sie denn bloß in einem Kohlenkeller sollten, hatte ihr Führer schon eine wacklige Tür, die beim Öffnen einen scharfen Schellenton hören ließ, aufgestoßen.

Es war ein häßlicher, dunkler Raum, in den die Geschwister blickten. An den feuchten Wänden waren bis zur niedrigen Decke schwarze Kohlen aufgestapelt. Das machte ihn noch düsterer. Die Hängelampe vermochte die Kellerdunkelheit kaum zu erhellen.

In dem zittrig trüben Lampenschein gewahrten die beklommen folgenden Kinder eine Frau, die den struppigen Kopf über eine kleine Pappschachtel mit Geld beugte. Beim Anschlagen der Türschelle hielt sie im Zählen des Geldes inne und wandte sich zur Tür, wohl in der Meinung, ein verspäteter Kunde trete ein. Das war Frau Emilie Storchbein, die Frau des Gepäckträgers, welche neben dem Beruf ihres Mannes noch einen Kohlenhandel betrieb, um die vielen hungrigen Mäuler alle satt zu machen.

»Na, wieder mal was vergessen? Was haste denn noch zu holen?« brummte sie ihren Mann an und begann von neuem mit dem Zählen ihrer Tageskasse. In der Finsternis bemerkte sie die beiden kleinen Gäste, welche die gedrungene Gestalt des Gepäckträgers verdeckte, nicht.

»Nein, mein Herzchen, im Gegenteil, ich habe dir etwas mitgebracht«, meinte ihr Mann, ein wenig unsicher, und schob Peter und den sich sträubenden Hanni nach vorn in den Lichtkreis.

»Nanu?!« stieß Frau Emilie Storchbein entgeistert heraus und nichts weiter.

Eine beklemmende Stille trat ein.

Der Frau fehlten vor Überraschung die Worte. Ihr Mann, der auf eine stürmische Auseinandersetzung gefaßt sein mußte, wagte sich nicht weiter mit der Sprache heraus. Der bescheidene Hanni pflegte selten ungefragt zu sprechen, und selbst Peter, dem dreisten Ding, schwand angesichts dieser dunklen Ungemütlichkeit die freimütige Keckheit.

Da äußerte sich als erster einer, der wohl am wenigsten das Recht dazu hatte: Hektor, der ihnen gefolgt, begann plötzlich feindselig zu blaffen. In seiner treuen Hundeseele fühlte er es, daß man den ihm anvertrauten Kindern hier nicht wohlgesinnt war.

»Ein toller Hund – ein toller Hund!« Wie von der Tarantel gestochen, sprang Frau Emilie Storchbein jetzt in die Höhe. »Schaff die tolle Bestie hinaus und die beiden Rangen dazu!« rief sie und flüchtete in die entgegengesetzte Kellerecke.

Peter hielt sich die Seiten vor Lachen. Herr Storchbein aber versuchte vergebens, seine ängstliche Frau von der gutmütigen Harmlosigkeit Hektors zu überzeugen.

»Nur für eine Nacht, Herzchen, wollen wir ihnen Obdach gewähren. Die armen Dingerchen mußten vor den Russen flüchten. Die Eltern sind ihnen noch nicht gefolgt. Man kann solche armen Würmer doch nicht auf der Landstraße lassen«, überredete er sie.

»So bringe sie in die Flüchtlingsstelle, dort wird man schon Rat schaffen. Was mußt du dich um ungelegte Eier kümmern! Hast wohl noch nicht genug an unsern zehn«, schimpfte die Frau.

»Morgen, Herzchen, morgen. Heute ist die Flüchtlingsstelle bereits geschlossen. Wo zehn Platz haben, werden die zwei dünnen Dingerchen schon noch mit unterkriechen können, nicht wahr, Herzchen?«

»Nichts als Dummheiten machst du. Aber morgen früh müssen sie mir aus dem Hause, das sage ich dir. Und den bissigen Köter jagst du sofort hinaus, dem wird's nichts schaden, wenn er auf der Straße übernachtet«, befahl die mit »Herzchen« Angeredete ärgerlich.

»Nein, unser lieber Hektor soll nicht fortgejagt werden!« rief da eine weinerliche Kinderstimme in das Gezänk hinein. Hanni, das schüchterne Jungchen, schlang beide Arme um den Hals des vierfüßigen Freundes, um ihn zu schützen.

Peter aber rief mit blitzenden Augen: »Wir wollen gar nicht bei dir bleiben, du garstige Frau, du! In deinem alten schmutzigen Keller gefällt es mir gar nicht. Bei uns zu Hause ist es viel, viel schöner! Hier graulen wir uns tot!«

»Ja, ich fürchte mich!« Hanni weinte laut.

»Da hörst du's ja, daß sie gar nicht hierbleiben will, die undankbare Brut! Raus mit euch!« Frau Emilie Storchbein, mit ihrer langen, dürren Gestalt, ihrem Namen alle Ehre machend, wies gebieterisch zur Tür.

Aber wieder legte sich der kleine, gutmütige Herr Storchbein besänftigend ins Mittel.

»Sie wissen ja gar nicht, was sie reden, die dummen kleinen Dinger. Haben sich den lieben langen Tag auf dem Bahnhof herumgedrückt und vergeblich auf die Eltern gewartet. Da sind sie natürlich übermüdet. Kommt nur, Kinderchen, kommt, ihr findet nebenan schon ein Plätzchen zum Schlafen.« Ohne noch eine Gegenrede seiner Frau abzuwarten, schob er Peter und Hanni, die viel lieber durch die Eingangstür wieder hinausgelaufen wären, in einen Nebenraum.

Das war die Stube. Aber viel freundlicher sah es auch dort nicht aus. Nur das notwendigste Hausgerät. Ein Tisch, ein Bett, ein paar wacklige Stühle, mehrere alte Kisten, die am Tage Stühle vertreten mußten und des Nachts zum Schlafen benutzt wurden. Keine hellen Gardinen, kein zierliches Deckchen, kein freundlicher Blumenstock, wie es die beiden Kinder von daheim gewöhnt waren.

Bei einer qualmenden Küchenlampe saß ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen und besserte gähnend zerlöcherte Kinderhöschen aus.

»Amanda,« wandte sich der Vater zu seiner Ältesten, »hier sind zwei kleine Flüchtlingskinder, welche die Nacht über bei uns bleiben sollen. Weise ihnen einen Platz an und sorge für sie.«

»Haben allein keinen Platz«, brummte Amanda, recht wenig erbaut von dem Auftrag, sah aber doch neugierig auf die kleinen Ankömmlinge.

»So, Kinderchen, und nun Gott befohlen – ich muß zum Dienst. Schlaft gut, morgen früh sehen wir uns wieder.« Es war den beiden Kindern, als ob mit der breiten Gestalt des Herrn Storchbein ihr letzter Schutz von ihnen wich. Unsagbar verlassen kamen sie sich in dem häßlichen Keller vor.

Doch da war ja noch einer, der sie beschützen wollte und der schwanzwedelnd Peters herabhängendes Händchen leckte. Ungeachtet der Ausweisung der strengen Frau Storchbein hatte sich Hektor mit durch die Tür in die Stube gequetscht. Er gehörte zu seinen Kindern. Aber als er seine kleinen Freunde jetzt so verzagt dreinschauen sah, begann er, um ihnen Mut zuzusprechen, aufmunternd zu bellen.

Da kam Leben in die stille Stube, in der, bis auf die Älteste, bereits alles zur Ruhe gegangen war.

»Ein Hund – ein Hund!« schrie, kreischte und jubelte es durcheinander. Aus dem Bett, aus allen Ecken, aus allen Kisten kribbelte und krabbelte es – lauter kleine Storchbeinchen. Die einen jauchzten, die andern weinten und fürchteten sich. Ein Höllentumult herrschte plötzlich in dem stillen Keller.

Mit weitaufgerissenen Augen blickten Peter und Hanni auf die vielen kleinen Storchbeine. Wo waren die denn bloß alle hergekommen?

In der Tür aber erschien, einen Lederriemen in der Hand, mit entrüsteter Miene die Mutter, Frau Emilie Storchbein.

»Wollt ihr wohl ins Bett – wollt ihr wohl Ruhe halten!« herrschte sie ihre Sprößlinge an, die ebenso flink, wie sie aufgetaucht, wieder in sämtlichen Kisten und Ecken verschwanden. Denn wenn Mutter den Lederriemen in der Hand hatte, war nicht mit ihr zu spaßen.

Hektor fuhr kläffend auf seine Wirtin los, in der Annahme, die Bedrohung gelte Peter und Hanni. Er bekam als erster eins übers Fell gezogen. Das machte sein sonst so sanftmütiges Hundeherz noch rebellischer. Wütendes Gebell erklang. Es übertönte Hannis Weinen, Peters »Kusch dich, Hektor!« und das Räsonieren der Frau.

Aus sämtlichen Kisten und Ecken lugten wieder aufgeregte Storchbeinchen.

Hektor wurde von Amanda auf Befehl der Mutter an die Luft befördert und setzte draußen sein Konzert fort.

»Und ihr macht jetzt auch, daß ihr zur Ruhe kommt. Wehe euch, wenn ich noch mal Radau höre, dann fliegt ihr ebenfalls raus!« Mit diesem Gutenachtgruß wandte sich Frau Emilie Storchbein noch einmal zu ihrem kleinen Besuch, ehe sie ihr Geschäftslokal wieder aufsuchte.

Hanni weinte leise vor sich hin. Peter aber flüsterte, die kleinen Fäuste ballend: »Du, wir wollen tüchtig Radau machen, damit uns die böse Frau rauswirft. Auf der Straße ist es tausendmal besser, als hier im Keller.«

Noch ehe sie diesen Vorsatz ausführen konnte, trat Amanda auf sie zu. »Sucht euch nur einen Platz zum Schlafen, ich will jetzt auch ins Bett gehen, es ist schon spät«, gähnte sie.

Das war leichter gesagt, als getan. In dem Bett schliefen bereits vier Storchbeinchen, je zwei an dem Kopf- und zwei an dem Fußende. In einer Kiste waren zwei kleine Jungen, anscheinend Zwillinge, von etwa vier Jahren, einquartiert. In der anderen lagen zwei kleine Mädchen von drei und einem Jahr. Amanda und die zwölfjährige Meta schliefen auf einem Strohsack auf der Erde, während die Eltern noch eine kleine Kammer nebenan hatten.

»Wo sollen wir uns denn bloß hinlegen?« erkundigte sich Peter, die aus dem Staunen über die vielen Storchbeine gar nicht herauskam.

»Seht selbst zu, ich weiß allein nicht!« war die unliebenswürdige Antwort.

»Komm, kleines Mädchen, du kannst mit deinem Bruder hier auf meinem Strohsack schlafen«, klang's da aus einer Ecke. Meta, untersetzt und rundlich wie ihr Vater, mit denselben freundlichen Augen, reichte den kleinen Fremden die Hand zum Willkommen.

Da fand es Peter, die eben noch fest entschlossen war, Radau zu machen, um bloß hinausgeworfen zu werden, nicht mehr ganz so düster in dem dunklen Kohlenkeller. Auch Hannis warmes Kinderherz fror nicht mehr so arg.

»Wir haben ja noch gar kein Abendbrot gegessen«, schluchzte er, noch unter Tränen. Denn er hatte bisher niemals in seinem Leben hungrig ins Bett zu gehen brauchen.

»Das fehlt auch noch, fremde Jören mitfüttern zu müssen«, murrte Amanda. Meta aber lief gutherzig zu einer an die Wand gestellten Kiste, die den Schrank vertrat. Sie bestrich zwei Brotschnitten mit Pflaumenmus und reichte sie den hungrigen Kleinen.

»Wenn wir erst wieder zu Haus sind, darfst du uns mal besuchen, weil du so gut zu uns bist«, versprach Peter dankbar kauend. »Ach, da sollst du Augen machen, wie schön es bei uns ist. Ein weißes Häuschen haben wir mit einem roten Dach, und eine feine Stube mit einem grünen Plüschsofa. Und jedes von uns hat sein Bettchen, keine alte Kiste wie ihr hier, und – – –«

»Und einen großen Garten und einen Bach haben wir, und – und einen großen Vorratsschrank mit lauter Marmeladentöpfchen«, fiel Hanni, ebenfalls von der Erinnerung begeistert, ein.

»Ja, warum seid ihr denn da bloß fortgegangen, wenn's so schön bei euch zu Hause ist?« beteiligte sich jetzt auch Amanda. Denn sie wollte ebenfalls gern mit eingeladen werden.

»Weil doch die alten Russen kamen. Da mußten wir mitten in der Nacht auf einem Leiterwagen fort.«

»Und denn waren Vetter Jochen und Base Stine, die uns mitgenommen, auch mit einemmal fort.« Um Hannis beschmierten Mund begann es schon wieder weinerlich zu zucken.

»Ja, und Vater und Mutti sind nicht nachgekommen, trotzdem wir den ganzen Tag auf sie gewartet haben«, berichtete Peter weiter.

Wenn die beiden Mädchen auch nicht ganz aus der Erzählung klug wurden, soviel entnahmen sie doch daraus, daß die beiden fremden Kleinen, die sie noch soeben wegen ihres schönen Häuschens und ihrer feinen Stube beneidet hatten, durchaus nicht beneidenswert waren. Daß sie selbst es trotz des dunklen Kohlenkellers und des schlechten Strohsacks viel besser hatten, da sie daheim bei ihren Eltern sein konnten, als die in der Welt herumgestoßenen Flüchtlingskinder.

Selbst Amandas Mitleid war erregt. Sie wußte es nicht anders zu betätigen, als daß sie Peter und Hanni noch eine zweite Schnitte strich.

Nachdem auch die in den Magen der hungrigen Kleinen gewandert, war es aber nun wirklich höchste Zeit zum Schlafengehen geworden.

Meta kroch mit auf Amandas Strohsack und überließ den fremden Kindern den eigenen. Aber die waren gar nicht entzückt von der Schlafstätte.

»Was, auf der Erde sollen wir schlafen wie Hektor?« halb belustigt, halb aufsässig klang's von Peters Lippen.

Aber da sie sah, daß auch die beiden großen Mädchen es sich auf ihrem Strohsack in der Ecke bequem machten, zog die Kleine den Bruder ebenfalls zu sich nieder. Zärtlich küßte sie ihn zur »Gutenacht«.

»Schlaf wohl, mein kleiner Hannibruder, morgen kommen Vater und Muttchen, und dann ist alles wieder gut«, flüsterte sie ihm unter Tränen zu.

Ja, heute war es nicht nur Hanni, der sich in den Schlaf weinte. Auch Peter, das übermütige Ding, vergrub den Kopf tief in den Strohsack, um die kleinen Storchbeinchen nur ja nicht durch ihr Schluchzen zu wecken. Gestern war doch noch der Mond und all die lieben Sternchen bei ihnen gewesen und hatten ihnen wie daheim zugelächelt. In den dunklen Kohlenkeller hier aber sandten sie keinen Schein. Nicht einmal Hektor, der treue Wächter, durfte bei ihnen sein. Nur sein Winseln erklang die ganze Nacht hindurch zum größten Ärger von Frau Emilie Storchbein.


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