Heinrich von Treitschke
Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts – Erster Band
Heinrich von Treitschke

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Geschichtswissenschaft – Radikalismus und Judentum

Als ob er ahnte, daß der große Tag der deutschen historischen Kunst herannahte, schrieb Wilhelm Humboldt um diese Zeit (1822) seine Abhandlung über die Aufgabe des Geschichtschreibers, eine geistvolle Schrift, die in Form und Inhalt den Übergang von der philosophischen zur historischen Weltanschauung darstellte. Den geheimnisvollen Dualismus, der in dem sittlichen Leben unseres staubgeborenen und gottverwandten Geschlechts unverkennbar waltet, suchte er dadurch zu erklären, daß er eine hinter den Erscheinungen der Geschichte stehende Ideenwelt annahm. Geschichte war mithin Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein in der Wirklichkeit zu gewinnen. Dem Historiker fiel die zweifache Aufgabe zu, das Geschehene tatsächlich zu ergründen und das Erforschte dergestalt zu verbinden, daß die Notwendigkeit der Ereignisse erwiesen und die Ratschlüsse der göttlichen Weltregierung erkannt würden. Es war eine großartige Ansicht, die zugleich mit Zartheit das persönliche Leben, mit Freiheit die allgemeinen Mächte der Geschichte zu verstehen suchte; sie sicherte der Geschichtschreibung großen Stiles ihre gebührende Stelle auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst. Die Frage, wie sich die Welt der Ideen zu der bewußten Tatkraft der wollenden Menschen eigentlich verhalte – diese entscheidende Frage blieb freilich unerörtert. Humboldts Bruder Alexander erhob daher den Einwand: Diese Ideen kämen ihm vor wie jene unerweisbaren Lebenskräfte, welche der Physiolog annehme, sobald er mit seinen Beobachtungen nicht mehr weiter könne. Wilhelm aber ließ sich nicht beirren; er wußte, daß die Geisteswissenschaft nicht wie die Naturwissenschaft allein den Gesetzen der Logik folgen darf, daß sie ihre letzten und höchsten Gedanken nur ahnen, nicht ganz erweisen kann.

Inzwischen traten schon die beiden Gelehrten auf die Bühne, welche in der nächsten Zukunft die deutsche Geschichtschreibung beherrschen sollten, Schlosser und Ranke. F. C. Schlosser zählt zu den erstaunlichsten Erscheinungen unserer Literaturgeschichte; denn selten geschieht es, daß ein Mann, der innerlich einer ganz andern Zeit angehört, dennoch auf die Mitwelt mächtig einwirkt. Er war ein Sohn des achtzehnten Jahrhunderts, ganz und gar erfüllt von dem strengen Pflichtbegriffe Kants. In scharfem Gegensatze zu Rotteck, der immer nur den Bürgersleuten das Wort von den Lippen nahm, betrachtete er die Parteikämpfe des Tages mit unverhohlener Verachtung, selbst die patriotische Erregung der Befreiungskriege berührte ihn wenig; war er doch im Jeverlande daheim, draußen unter den Friesen, die sich kaum recht zu Deutschland rechneten, hinter schroffen, rauhen Formen verbarg er schamhaft ein zartes, reiches Gemüt. Erst in reifen Jahren gelangte er durch den Einfluß sanfter, edler Frauen zum inneren Frieden und führte fortan in Heidelberg viele Jahre lang ein stilles Gelehrtenleben: die Selbstbeschauung und Selbstvollendung der freien Persönlichkeit blieb ihm des Daseins höchster Zweck. Der starke mystische Zug, der in seiner Seele dicht neben dem philosophischen Erkenntnisdrangs lag, fand seine Befriedigung in Dantes Werken. Mit diesem Dichter lebte er in allen guten Stunden, und weil er wußte, daß die Tatsachen der Geschichte erst vor dem Richterstuhle des Gewissens Sinn und Bedeutung erhalten, so meinte er sich berufen, gleich seinem Dante ein historisches Weltgericht zu halten, über den sittlichen Wert und Unwert alles Geschehenen nach dem strengen Gesetze Kantischer Pflichtenlehre abzuurteilen. Seine wissenschaftliche Stärke lag in der umfassenden Kenntnis der Literaturgeschichte; er zuerst in Deutschland versuchte die Entwicklung der Dichtung und Wissenschaft in ihrem Zusammenhange mit dem gesamten Schicksal der Völker darzustellen.

Und dieser durchaus unpolitische Gelehrte wurde gleichwohl ein Wortführer der öffentlichen Meinung, weil er der erste rein bürgerliche Historiker Deutschlands war. Einem freien Bauernlande entsprossen, hatte er einst an dem kleinen Hofe von Varel das wüste Treiben der Emigranten mit angesehen, das seinen angeborenen Adelshaß bis zum Abscheu steigerte. Unter den Rechtssätzen seines Kant stand ihm keiner so fest wie der Grundsatz der Rechtsgleichheit für alle Teilnehmer am Staatsvertrage. Das Selbstgefühl des Bürgertums, das so mächtig anwuchs, seit die neue, überwiegend bürgerliche Literatur die Nation beherrschte, fand in Schlossers Schriften den lautesten und trotzigsten Ausdruck. Darum galt er für liberal, obwohl er sich den konstitutionellen Ideen nie befreunden konnte; darum wurde er trotz seiner ausgeprägten niederdeutschen Eigenart den Süddeutschen fast ebenso lieb wie ihr Rotteck, denn dort im Oberlande war die bürgerliche Gesinnung zur Zeit noch am stärksten. Schlosser betrachtete den Staat grundsätzlich nur von unten her, vom Standpunkte der Regierten; niemals versuchte er sich in die Lage der Regierenden hineinzudenken, den Zwang der Umstände, der ihre Entschlüsse bestimmte, billig zu würdigen. Da er, wie alle Gemütsmenschen, jede Verletzung seines sittlichen Gefühls mit leidenschaftlicher Bitterkeit empfand, so zeigte das sittliche Weltgericht, das er halten wollte, sehr wenig von der Erhabenheit der »Göttlichen Komödie«. Ungeschlacht wie er war, ohne Sinn für den Adel der Form, geriet er in ein heftiges Poltern und Schelten, die Freude an der historischen Größe ging ihm verloren, und den Lesern blieb der trostlose Eindruck, als ob die vielgestaltige Herrlichkeit der Geschichte nur ein ödes Einerlei glücklicher Schurkenstreiche wäre. Eben diese ungerechte und unpolitische Härte des moralischen Urteils gewann ihm die Herzen der Mittelstände; denn die strenge Kantische Pflichtenlehre war, verdünnt und verflacht, längst in das Bürgertum eingedrungen, und in dem gedrückten politischen Leben dieser Tage fühlte sich jeder im Herzen erleichtert, wenn die Sünden der Mächtigen der Erde von einem rücksichtslos ehrlichen Manne gründlich abgestraft wurden. Durch die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts errang diese moralisierende Geschichtschreibung ihren ersten großen Erfolg, aber erst im folgenden Jahrzehnt, als Schlosser den ersten Entwurf dieses Buches breiter ausführte, wurde er eine anerkannte Macht im deutschen Bürgertum.

Bescheiden und fest, einer großen Zukunft sicher, erklärte Leopold Ranke schon in seiner Erstlingsschrift, den Geschichten der romanischen und germanischen Völker (1825), daß er sich des Amtes, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, nicht unterwinde. Er wolle »bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen«, vertraut mit der Philosophie Fichtes und Hegels, beabsichtigte er durch dies tiefsinnige Wort keineswegs, dem Historiker die Darstellung des Ideengehaltes der Geschichte zu verbieten, aber in der genauen Ergründung des Tatbestandes sah er das Nächste, was der noch ganz verwahrlosten neuen Geschichte not tat; und der Quellenkritik dieses Zeitraums brach der junge Meister gleich selbst die Bahn, indem er in einer klassischen Untersuchung die Unglaubwürdigkeit der berühmten Historiker des Cinquecento darlegte, die Berichte, die Briefe, die Tagebücher der unmittelbar Beteiligten als die allein probehaltigen Zeugnisse empfahl. In dem Werke über die Fürsten und Völker Südeuropas, das großenteils aus den unvergleichlichen Gesandtschaftsberichten der Venetianer geschöpft war, trat der Charakter dieser neuen diplomatischen Geschichtschreibung bereits schärfer hervor, wesentlich politisch, betrachtete sie den Staat stets von oben. Sie suchte die Beweggründe und Absichten der Handelnden, der Herrschenden zu verstehen, und gelangte also zu einer vornehmen Zurückhaltung, welche die Tatsachen meist für sich selber reden ließ; durch die vollständige Beherrschung des Stoffes gewann die Erzählung die ruhige Schönheit des Kunstwerks. Wohl lag die Gefahr nahe, daß die Stimme des Gewissens, die in Schlossers Schriften nur zu oft und lärmend sprach, in den Werken der diplomatischen Historiker ganz verstummte, daß der breite Unterbau der Gesellschaft, die Masse des Volks mit ihrer Not und Sorge, mit ihrer Tapferkeit und ihren dunklen Instinkten nicht genugsam beachtet würde, und auch die Kräfte des Gemüts, deren jede lebenswahre Schilderung des Menschendaseins bedarf, die Liebe und der Humor nicht ganz zu ihrem Rechte kämen. Aber der feste Grund war gelegt, auf dem sich die deutsche Geschichtsforschung zur Höhe einer gesicherten Fachwissenschaft erheben konnte, und die Zeit sollte noch kommen, da die anfangs nur von kleinen Kreisen beachtete Schule Rankes die volksbeliebten Schlosserschen Werke gänzlich aus dem Felde schlug.

Nach allen Seiten hin entfaltete sich frisch und kerngesund das neue Leben der historisch-philologischen Wissenschaften. Als Karl Ritter nach Berlin kam, wollten sich zuerst keine Zuhörer finden für das unbekannte Fach der Geographie; nach wenigen Jahren stand er schon als anerkannter Meister da. Unter den klassischen Philologen erforschte F. G. Welcker zuerst mit feinsinnigem Verständnis den trilogischen Bau der Tragödien des Äschylus, während Lobecks Aglaophamus mit scharfer, zuweilen allzu nüchterner Kritik die Wahngebilde der Symboliker zerstörte, und Otfried Müller, den Spuren Niebuhrs folgend, die Verfassungsgebilde der Dorier aus den sozialen Zuständen des Zeitalters der peloponnesischen Eroberung erklärte. Im Kreise der Germanisten verloren v. d. Hagen und die andern Dilettanten der ersten Lehrjahre allmählich alles Ansehen. Die strengen Forscher aber hielten zusammen wie eine gläubige Gemeinde; sie genossen noch die Seligkeit jugendlicher Erkenntnis und empfanden dankbar, daß die Wissenschaft mehr als die Kunst, die den Schaffenden so leicht vereinzelt, die Herzen zu verbinden vermag. Der arme Wilhelm Wackernagel spürte kaum den Frost, wenn er in seiner ungeheizten Kegelbahn die langen Winternächte hindurch über den alten Handschriften saß. Freudig arbeitete einer dem andern in die Hände. Als Uhland das Leben Walthers von der Vogelweide geschildert und nach Künstlerart die Dichtung aus der Persönlichkeit des Dichters erklärt hatte, ließ Lachmann bald nachher seine kritische Ausgabe der Werke Walthers erscheinen und widmete das Buch dem Schwaben. Auch zwei reiche Sammler halfen mit durch ihre Bücherschätze. Wer die Bibliothek des Freiherrn von Meusebach in Berlin benutzen wollte, wurde von dem witzigen Sonderling unbarmherzig im Lesezimmer eingeschlossen, nur die Gebrüder Grimm, die Unwiderstehlichen, hatten freien Zutritt ins Heiligtum. Behaglicher lebte und forschte sich's bei dem Freiherrn von Laßberg auf dem alten Schlosse Meersburg am Bodensee; dort walteten noch die Gastfreundschaft und der ritterliche Sinn des Mittelalters.

Im Jahre 1828 vollendete Jakob Grimm wieder eines seiner grundlegenden Werke, die Rechtsaltertümer. Hier lehrte er die Deutschen das sinnliche Element ihrer alten Rechtsgeschichte kennen und zeigte ihnen, wie Uhland dankbar sagte, über dem steinernen Richterstuhl die blühende Linde. Der Sammlerfleiß, der diese Masse alter Rechtsformeln und Symbole zusammengetragen, war ebenso erstaunlich, wie die starke und doch maßvolle Phantasie, welche ein seit Jahrhunderten vergessenes Recht wieder zu beleben, seine zerrissenen Fäden wieder anzuknüpfen vermochte. Überall verriet sich die Freude an dem frohen, beseelten Leben des Mittelalters, wie Grimm der gemeinen Volkssprache und den Volksliedern stets den Vorzug gab, so entnahm er auch seine Kenntnis der alten Rechtsbräuche mit Vorliebe den Weistümern, jenen Rechtweisungen aus dem Munde des Landvolkes selber, welche nur den Germanen eigentümlich, ihm als »ein herrliches Zeugnis der freien und edlen Art unseres eingeborenen Rechtes« galten. Obwohl er nur als Altertumsforscher, nicht als Staats- und Rechtslehrer schreiben wollte, so warfen doch seine Untersuchungen über die Mark und den Hammerwurf ein erklärendes Licht auf weite, noch unerforschte Epochen deutscher Staats- und Wirtschaftsgeschichte, auf jene Zeiten namentlich, da die Germanen von der Viehzucht zum seßhaften Ackerbau übergingen und die tragende Habe die treibende zurückdrängte. Er zuerst entdeckte, daß bei der Vermischung verschiedener Nationen der Kern des Rechtes wie der Sprache noch lange unverändert bleibt, während die Prozeßformen und die Formen der Wörter sich rascher verwandeln.

Einige Ergebnisse der germanistischen Forschung wurden allmählich zum Gemeingut der Gebildeten, seit Karl Simrock die »Nibelungen« und dann auch andere mittelhochdeutsche Dichtungen übersetzte – ein geistvoller, liebenswürdiger Rheinländer, dem der Schelm im Nacken saß, zugleich Dichter und Gelehrter, hochbegeistert für Deutschlands alte Größe und die Schönheit seines sagenreichen heimischen Stromes. Als Nachdichter wollte er nicht, wie die Übersetzer aus fremden Sprachen, alles in blankes, neues Deutsch übertragen; er begnügte sich, die dem heutigen Sprachgefühle ganz unverständlichen Worte schonend zu ersetzen, und wahrte also jenen altertümlichen Hauch, der an vaterländischen Dichtungen nicht befremdet, sondern anheimelt.

Nicht minder fruchtbar wurde dies Jahrzehnt für die Theologie. In seiner Glaubenslehre (1821) führte Schleiermacher die Grundgedanken der Reden über die Religion mit methodischer Strenge durch. Er zeigte, wie die Religion in der Einheit unseres inneren Lebens wurzelt, in dem unmittelbaren Selbstbewußtsein des Menschen, das alles wollen und Denken beherrscht und durchdringt. Nicht in dem Fürwahrhalten bestimmter Dogmen fand er das Wesen des Glaubens, sondern in der inneren Erfahrung von der Erlösung. Dies innerlich Erlebte wollte er den Denkenden darlegen und also die wissenschaftliche Bildung des Jahrhunderts mit dem Glauben versöhnen. Das Unternehmen konnte nicht völlig gelingen; mehr denn einmal überschritt der große Dialektiker die Schranken des Erkennens und suchte zu erweisen, was jenseits aller Beweise liegt. Aber ein mächtiger Geist sprach aus dieser seelenvollen Auffassung des Christentums, eine weitherzige Liebe, die selbst den Gedanken der ewigen Verdammnis nicht fassen, an einer allgemeinen Wiederherstellung aller Seelen nicht verzweifeln wollte. Bald darauf (1828) eröffneten Ullmann und Umbreit in ihren »Studien und Kritiken« einen Sprechsaal für die Vermittlungstheologie, die sich von Paulus ebenso bestimmt abschied wie von Hengstenberg; die drei großen Richtungen der evangelischen Theologie erschienen nunmehr sämtlich als festgeordnete Parteien.

Welch eine Wandlung seit jenen Tagen kirchlicher Stille, da Schleiermacher zuerst wieder die längst vergessene Wahrheit verkündigte, daß die Religion die Einsamkeit hasse. Jetzt war längst erfüllt, was damals Arnim unter dem Eindruck der Reden über die Religion gesungen hatte:

Doch wo viele sind beisammen,
Zeigen sich der Andacht Flammen,
wie der Blitz, wo Wolk' an Wolke,
Zündet Andacht sich im Volke.

In ungewohnter Kraft regte sich wieder das kirchliche Leben, und mit ihm eine Fülle des Hasses. Die unversöhnlichen Gegensätze, welche Deutschland barg, traten häßlich zutage, als Voß starb (1826) und über dem Grabe des alten Kämpfers die Parteien ihre Schwerter kreuzten. Paulus, Tiedemann, Schlosser verherrlichten den streitbaren Nationalisten, als ob ihm ein Platz dicht neben Luther und Lessing gebührte. Görres aber machte sich den Hochmut der Rationalisten zunutze und schilderte in einer gewandten Streitschrift den verstorbenen als den geistigen König von Niederdeutschland: in ihm, wie einst in der Reformation, hätte sich der hausbackene Bauernverstand der sassischen Niederungen verkörpert. Dieser nordischen Welt des platten Verstandes stehe aber ein anderes, schöneres Deutschland gegenüber: Der reiche Süden mit seiner Phantasie, seiner Kunst, seiner katholischen Kirche! – wo war die Brücke, welche über diese ungeheure Kluft hinüberführte?

*

Unterdessen begannen die radikalen Ideen, welche seit den Revolutionen Südeuropas den Weltteil wieder erfüllten, auch in die deutsche Literatur einzudringen. Die prahlerische Selbstgefälligkeit des Teutonentums konnte nach so vielen getäuschten Hoffnungen nicht mehr dauern, ein Umschwung war notwendig, und in der Geschichte unseres schwer lebenden Volkes pflegen solche Rückschläge meist heftig, gewaltsam, mit elementarischer Macht einzutreten. Immer blieb es ein Zeichen politischer Unreife und verschrobener Zustände, daß die Umstimmung diesmal so ganz unvermittelt erfolgte. Der neue Radikalismus, der jetzt, ohne die Spitzen unserer Bildung zu berühren, in der Jugend und den Mittelklassen überhandnahm, war undeutsch vom Wirbel bis zur Sohle; er verhöhnte schlechthin alles, was den Helden von Leipzig und Belle-Aliance heilig gewesen, unsere Dichtung und Wissenschaft, unsern christlichen Glauben, selbst die Taten des Befreiungskrieges, und suchte seine Ideale in demselben Lande, das jene Älteren mit glühendem Hasse verfolgt hatten. Es war ein Unheil für die beiden Nachbarvölker, und leider eine notwendige Folge der vielen zwischen ihnen noch schwebenden ungelösten Machtfragen, daß sie niemals in ein ruhiges Verhältnis gegenseitiger Achtung gelangten; das Urteil der Deutschen über die Franzosen schwankte unsicher zwischen Haß und Überschätzung. In Frankreich wuchs ein junges Geschlecht heran, die blutigen Greuel der Revolution waren vergessen, alle Welt sprach wieder von der Glorie der Bastillestürmer, und in dies Selbstlob der Franzosen stimmte eine Schar von Deutschen, die mit jedem Jahre wuchs, begeistert ein. Unwiderstehlich drangen seit der Mitte der zwanziger Jahre Frankreichs politische Ideen über den Rhein hinüber.

Niemals in aller Geschichte hat sich der Sieger so freiwillig unter das Joch des Besiegten gebeugt. Als Frankreich im Zeitalter Ludwigs XIV. unsere Bildung beherrschte, da konnte das entvölkerte und verstümmelte Deutschland von dem gallischen Sieger fast nur empfangen. Jetzt behaupteten die Franzosen nur noch in den exakten Wissenschaften den Vorrang, auf allen andern Gebieten der Literatur und Kunst waren die Deutschen ihnen ebenbürtig oder überlegen. Mochte der Deutsche seinen Nachbar um die früher errungene Staatseinheit mit Recht beneiden, Preußen zum mindesten besaß in seiner nationalen Krone, seiner Wehrpflicht, seinem Schulwesen, seiner Selbstverwaltung, seinem redlichen Beamtentum alle die Grundlagen eines geordneten und freien politischen Lebens, welche dem französischen Staate fehlten. Aber der laute, von den Pariser Kammerrednern und Zeitungsschreibern mit so glänzendem Talent geführte Parteikampf erschien der radikalen Jugend Deutschlands nicht als ein Beweis hoffnungslosen inneren Unfriedens, sondern als ein Zeichen hochausgebildeter Freiheit; denn in weiten Kreisen der Halbgebildeten herrschte noch von den ersten Zeiten der Revolution her, wie Niebuhr mit Trauer bemerkte, die staatsfeindliche Ansicht: »Daß die ganze Äußerung der Freiheit im Konflikt besteht: im Konflikt der Deputierten und der Regierung, im Konflikt des einzelnen gegen den Souverän.« In Wahrheit hatten die Deutschen nur wenig zu lernen von der unnatürlichen Verquickung englischer Parlamentsbräuche mit Napoleonischem Verwaltungsdespotismus, welche die Franzosen als konstitutionelle Monarchie rühmten. Was jetzt als neueste politische Weisheit aus Frankreich herüberkam, war für uns im Grunde nur ein Anachronismus, ein frischer Aufguß jener durch Niebuhr und Savigny längst wissenschaftlich überwundenen formalistischen Staatslehre, welche das Wesen der Freiheit allein in der Verfassung suchte. Die Bewunderung des französischen Wesens wirkte jetzt nur verwirrend und betörend; sie entfremdete unsere Jugend dem Vaterlande, sie raubte ihr die Ehrfurcht vor den Helden der Nation, sie verdarb ihr das Verständnis für die vorhandenen Anfänge einer gesunden nationalen Politik, sie vergiftete die ohnehin mächtige Mißstimmung noch künstlich durch die revolutionären Schlagworte und den maßlosen Parteihaß der Nachbarn. Die jungen Deutschen, die in dem Bannkreise dieser französischen Anschauungen aufwuchsen, wußten kaum, daß Gneisenau noch in voller Manneskraft unter uns lebte, und von Motz hatten sie nie ein Wort gehört; den General Foy, der in der Pariser Kammer die Trikolore, das Banner der Marseillaise, für Frankreich zurückforderte, kannten und bewunderten sie alle.

Ein rühriger Bundesgenosse erwuchs dem neuen Radikalismus in der jungen Macht des literarischen Judentums. Die moderne Judenschaft besaß schon längst nicht mehr die geistige Kraft, um aus sich heraus eine gesunde eigenartige Bildung zu erzeugen, wie vor Zeiten inmitten der orientalischen Kultur des spanischen Maurenreichs. In den alten Kulturvölkern Westeuropas stand die nationale Gesittung so fest, daß die Juden dort gar nicht wagen durften, in Politik und Literatur als eine selbständige Macht aufzutreten. Auch der erste deutsche Jude, der in unserer Literatur Ansehen errang, Moses Mendelssohn, folgte dem Strome unseres nationalen Lebens, half redlich mit an der Gedankenarbeit der deutschen Aufklärungsphilosophie; wenn er den Glauben seiner Väter, wie sein gutes Recht war, gegen Lavater verteidigte, so war er doch keineswegs gemeint, die deutsche Welt mit jüdischen Ideen zu durchtränken, er bemühte sich vielmehr, seine Stammesgenossen für die deutsche Bildung zu gewinnen. Mittlerweile war seine Saat aufgegangen, ein Teil der Judenschaft hatte sich mehr oder minder germanisiert, in der Presse wirkten schon mehrere jüdische Schriftsteller, aber bald regte sich in diesen Kreisen ein gefährlicher Geist der Absonderung und der Anmaßung. Die Judenschaft war in Deutschland weit zahlreicher als in den westlichen Nachbarlanden, und da der deutsch-polnische Judenstamm sich von jeher schwerer an das abendländische Wesen gewöhnt hatte als die spanischen Juden, die in England und Frankreich damals noch überwogen, so geschah es, daß in Deutschland – und hier allein – eine eigentümliche halbjüdische Literatur aufkam, welche ihre orientalische Weltanschauung, ihren ererbten Christenhaß in abendländische Formen hüllte. Ein durchgebildeter Nationalstolz, der solche Versuche von Haus aus verhindert hätte, war hier nicht vorhanden; dieser geduldige deutsche Boden hatte schon allen Nationen Europas zum Tummelplatze gedient, hier durfte auch das Judentum noch sein Glück versuchen.

Die edleren und ernsteren Männer der deutschen Judenschaft hatten längst eingesehen, daß ihr Stamm nur dann die bürgerliche Gleichberechtigung beanspruchen durfte, wenn er selber seine Sonderstellung aufgab und ohne Vorbehalt im deutschen Leben aufging, wenige Jahrzehnte, nachdem Moses Mendelssohn seinen Weckruf hatte erscheinen lassen, wirkten schon überall in Kunst und Wissenschaft begabte Männer jüdischer Abstammung, getaufte und ungetaufte, die sich ganz als Deutsche fühlten und in ihren Werken durchaus deutsche Züge zeigten: In der Musik Felix Mendelssohn-Bartholdy, in der Malerei Veit, in der Theologie der kindlich gläubige Neander. Die schnellfertigen jüdischen Talente dagegen, welche in der Tagespresse das Wort führten, trugen ihre jüdische Sonderart hochmütig zur Schau und verlangten gleichwohl als Wortführer der deutschen öffentlichen Meinung geachtet zu werden. Dies vaterlandslose Judentum, das sich als Nation innerhalb der Nation gebärdete, wirkte auf das noch unfertige nationale Selbstgefühl der Deutschen ebenso zerstörend und zersetzend wie vormals auf die versinkenden Völker des Römischen Kaiserreichs.

Soweit der jüdische Kosmopolitismus abendländische Völker verstehen konnte, fühlte er sich zunächst zu den Franzosen hingezogen, nicht bloß durch eine berechtigte Dankbarkeit, sondern auch durch das Bewußtsein innerer Verwandtschaft. Einer Nation, die seit Jahrhunderten keine politische Geschichte mehr besaß, war nichts so fremd wie der historische Sinn. Die Pietät der Germanen erschien ihr lächerlich, das moderne Frankreich aber hatte mit seiner Geschichte gebrochen, hier fand sie sich leichter zurecht, denn hier war der Staat blank und neu, scheinbar rein aus dem Verstande heraus erschaffen. Das jüdische Literatentum bestärkte daher den deutschen Radikalismus in seiner urteilslosen Vorliebe für Frankreich. Auch das gellende Zetergeschrei, das die jüdischen Publizisten nach ihrer nationalen Gewohnheit anzustimmen liebten, diente nicht zur Veredlung unserer politischen Sitten, zumal da die Deutschen selber im Streite leicht geschmacklos werden. Der berechtigte politische Groll der Zeit verfiel in maßlose Übertreibungen, seit der jüdische Christenhaß die Flammen schüren half.

Am verderblichsten aber wurde dem deutschen Radikalismus die sonderbare jüdische Unart der Selbstverhöhnung. Dies Volk ohne Staat, das weithin durch die Welt zerstreut, Sprache und Sitten anderer Völker annahm, ohne doch sich selber aufzugeben, lebte in einem ewigen Widerspruche, der, je nachdem man sich stellte, bald tragisch, bald komisch erschien. Dem behenden jüdischen Witze konnte die Lächerlichkeit des Kontrastes morgenländischer Natur und abendländischer Form nicht entgehen. Seit langem waren die europäischen Juden gewohnt, sich selber mit der äußersten Rücksichtslosigkeit zu verspotten; das Grausamste, was jemals über die Juden gesagt wurde, stammt aus jüdischem Munde. Der Rassenstolz des auserwählten Volkes gegenüber den Gojim war freilich so tief eingewurzelt, daß er selbst durch die frechste Selbstverspottung nicht erschüttert werden konnte. Jetzt drang diese jüdische Unsitte auch in die deutsche Literatur ein, wo ihr durch die spielende Ironie der Romantiker und die politische Verbitterung der Liberalen der Boden schon bereitet war; es galt für geistreich, über das Vaterland schamlos, ohne jede Ehrfurcht, so von außen her abzusprechen, als gehörte man selber gar nicht mit dazu, als schnitte der Hohn gegen Deutschland nicht jedem einzelnen Deutschen ins tiefste Herz. Die Deutschen verstanden sich aber wenig auf den Scherz, am wenigsten auf diese orientalische Witzelei, sie nahmen manche Schmähung, die gar nicht bös gemeint war, in vollem Ernst. Die radikale Jugend begann die freche Verunglimpfung des Vaterlandes bald für das sichere Kennzeichen der Gesinnungstüchtigkeit zu halten, weil der durch tausend Hemmnisse beengte deutsche Staat ihren ungeduldigen Wünschen so schnell nicht zu folgen vermochte; sie schimpfte so lange auf deutsche Hundedemut und Schafsgeduld, bis sie selber an dies alberne Zerrbild deutschen Wesens glaubte und sich wirklich einbildete, das leidenschaftlichste Volk Europas, das Volk der furia tedesca, sei phlegmatisch.

In diesen Jahren der Besudelung alles deutschen Wesens erhielt auch das nationale Scherzbild des deutschen Michels eine neue widerliche Gestalt. Der deutsche Michel der alten Zeit war, seinem kriegerischen Namen gemäß, ein gewaltiger Schlagetod, grob und plump, aber tapfer und geradezu, ein lebensfroher Gesell, wie John Bull oder Robert Macaire, nicht unwürdig eines großen Volkes, das an sich selber glaubte und darum auch einmal über sich selber lachen durfte. Neuerdings wurde in Bild und Wort unter dem alten Namen ein feiger und fauler Philister dargestellt, der, von aller Welt mißhandelt, sich die Schlafmütze über die Ohren zog. Das Spottbild war während der Kämpfe der Romantiker gegen die Philister aufgekommen, zuerst auf dem Titelblatte der »Heidelberger Einsiedlerzeitung«, aber Achim von Arnim hatte dabei feierlich erklärt, mit diesem Faulpelz sei nur das wohlhabende lesende Publikum gemeint, »nicht mein Volk, das ich ehre, mit dem ich nimmermehr zu scherzen wage«. Das junge radikale Geschlecht kannte solche Scheu nicht mehr und fand es nicht unehrenhaft, die Nation, welche soeben mit ihrem siegreichen Degen das Napoleonische Weltreich gestürzt hatte, unter dem ekelhaften Bilde eines trägen Feiglings zu verhöhnen.

Die zerreibende und verhetzende Wirksamkeit des radikalen Judentums war um so gefährlicher, da die Deutschen sich über den Charakter dieser neuen literarischen Macht lange täuschten. Sie hielten arglos für deutsche Aufklärung und deutschen Freisinn, was in Wahrheit jüdischer Christenhaß und jüdisches Weltbürgertum war. Nur Wolfgang Menzel und wenige andere Publizisten empfanden die Gefahr, doch da sie sämtlich der hochkirchlichen Richtung angehörten, so wurden ihre Warnungen mißachtet. Erst in einer weit späteren Zeit erkannte die Nation, daß seit dem Ende der zwanziger Jahre ein fremder Tropfen in ihr Blut geraten war. Es war der Ruhm der Deutschen gewesen, daß sie niemals auf der Bank der Spötter gesessen hatten, daß ihre freien Köpfe mit Kühnheit, aber stets mit Ehrfurcht an das Heilige herangetreten waren. Jetzt ging dieser Ruhm verloren; auch Deutschland sollte Schriften sehen, die sich mit Voltaires Frechheit, freilich nicht mit seinem Geiste, messen konnten. (696–705.)


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