Heinrich von Treitschke
Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts – Erster Band
Heinrich von Treitschke

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Literarische Vorboten einer neuen Zeit

Goethe

Der Vertrag zwischen den beiden Zollvereinen des Südens und des Nordens eröffnete den Deutschen die Aussicht auf ein nationales Marktgebiet, das ihnen seit Jahrhunderten gefehlt hatte, und also auf einen unerhörten Aufschwung ihrer wirtschaftlichen Kräfte. Aber Jahre verliefen noch, bis aus jener ersten Verständigung ein dauernder Verein hervorging, und dann nochmals Jahre, bis unter dem Schutze der neuen Zollinien eine mächtige Großindustrie emporblühte. Erst um das Jahr 1840 begannen mit den Fabriken und den Börsen, den Eisenbahnen und den Zeitungen auch die Klassenkämpfe, die unstete Hast und das wagelustige Selbstgefühl der modernen Volkswirtschaft in das deutsche Leben einzudringen. Bis dahin verharrte die Mehrheit des Volkes noch in den kleinstädtischen Gewohnheiten der ersten Friedenszeiten, seßhaft auf der väterlichen Scholle, im hergebrachten Handwerk still geschäftig, zufrieden mit den bescheidenen Genüssen des ungeschmückten Hauses. Schon gegen das Ende der zwanziger Jahre verrieten jedoch manche Anzeichen, daß eine große Wandlung der nationalen Gesittung im Anzuge war. Wie auf die goldenen Tage der Dichtung unseres Mittelalters, so sollte auch auf die Zeiten von Jena und Weimar eine prosaische Epoche folgen, die ihre Tatkraft zumeist nach außen, auf die Kämpfe des Staates, der Kirche, der Volkswirtschaft richtete.

Die Vorboten dieses Umschwungs wurden in der Literatur, die so lange der treue Spiegel aller deutschen Herzensgeheimnisse gewesen war, früher bemerkbar als im praktischen Leben. Die Dichtung behauptete nicht mehr den Herrschersitz im Reiche der Geister. Wie einst der Verfall der italienischen Architektur sich gerade in der massenhaften und doch unfruchtbaren Bautätigkeit des achtzehnten Jahrhunderts bekundet hatte, so bewies jetzt die unübersehbare Menge der gehaltlosen Unterhaltungsromane und Taschenbuchsgedichte, welche den deutschen Büchermarkt überfüllten, daß unsere Poesie ins Kraut schoß und nur noch selten süße Trauben trug. Ein schlimmes Zeichen der Zeit war die zunehmende Schreiblust der Frauen. Gleich allen großen Epochen der Kunst war auch die Blütezeit der deutschen Dichtung nicht ohne die belebende Teilnahme der Frauen möglich geworden. Aber solange der Ehrgeiz der ersten Männer der Nation nach dem schwellenden Kranze des Dichters rang, galt noch die natürliche Regel, daß künstlerisches Schaffen, wie alles Schaffen, Männerarbeit ist. Unter den herrlichen Frauen, welche verstehend und empfangend den klassischen und den älteren romantischen Dichtern das Leben verschönten, waren nur wenige Schriftstellerinnen. Nun erst, seit die Dichtkunst zum eleganten Zeitvertreibe wurde, und jeder empfängliche Dilettant sich die literarischen Handgriffe leicht aneignen konnte, begann die Schar der Blaustrümpfe, wie der neue englische Name lautete, bedenklich anzuwachsen. Karoline Pichler, Johanna Schopenhauer, Helmine von Chezy, Karoline von Fouqué schwangen die Feder statt der Nadel, manche der modischen Taschenbücher wurden nur für Frauen und großenteils von Frauen geschrieben. Mit Besorgnis betrachtete Goethe diese neue soziale Krankheit. Er wollte weder die heiligen Schranken der Natur zerstört, noch den Tiefsinn der Kunst durch leere Niedlichkeit verdrängt sehen, und äußerte sich über die unfruchtbare weibliche Dichtung bald mit gutmütigem Spott, bald mit einer göttlichen Grobheit, wie sie nur der Sänger der Frauenliebe sich erlauben durfte:

Und sie in ihrer warmen Sphäre
Fühlt sich behaglich, zierlich, fein;
Da sie nicht ohne den Menschen wäre,
So dünkt sie sich ein Mensch zu sein.

Viele ernste Männer begannen schon die Poesie nur noch einer beiläufigen Teilnahme zu würdigen, wie tief war einst die gebildete deutsche Welt durch den Xenienstreit aufgeregt worden, und wie gleichmütig blieb sie jetzt, als Platen wider die Schicksalstragödien und die Neuromantiker zu Felde zog. Solche ästhetische Kämpfe rührten nicht mehr den Lebensnerv der Nation. Nur die einsame Gestalt des Altmeisters in Weimar, die immer wieder die Blicke von Freund und Feind dämonisch anzog, erinnerte das neue Geschlecht noch an die Tage, da die Dichtung den Deutschen eines und alles gewesen war. Die kräftigen jungen Talente, und darunter auch manche künstlerisch angelegte Naturen, wurden durch den Drang der Zeit meist der Gelehrsamkeit zugeführt. Die Wissenschaft aber warf sich mit wachsendem Eifer und Verständnis auf die großen Probleme des öffentlichen, des handelnden Lebens. In der Theologie bildeten sich geschlossene Parteien mit bestimmten kirchenpolitischen Zielen. Nachdem Philosophen, Juristen, Sprach- und Altertumsforscher der Historie den Gesichtskreis erweitert und den Stoff bereitet, begann endlich auch die Krone der historischen Wissenschaften, die darstellende politische Geschichtschreibung sich kräftig zu entfalten, und in der wissenschaftlichen Parteiung der Historiker kündigten sich schon die politischen Gegensätze des kommenden Jahrzehnts vernehmlich an. Die Philosophie lernte durch Hegel die Geschichte als den Tempel des allgegenwärtigen Gottes verstehen und vergötterte den Staat, den sie einst mißachtet hatte. Zugleich erklangen die ersten Lärmstöße einer radikalen Literatur, welche durch und durch tendenziös, allein auf die augenblickliche Wirkung rechnend, an allem, was bestand, mit übermütigem Hohne rüttelte und dem Traumleben der Romantik die Fehde ansagte. Das alles war erst im Werden, aber unverkennbar stand die Nation im Begriff, mit der ästhetischen Weltanschauung, die ihre unvergeßliche Zeit gehabt hatte, gänzlich zu brechen.

Goethe selbst, der in seiner Einsamkeit doch immer die Hand am Pulse des nationalen Lebens hielt, erkannte diesen realistischen Zug der Zeit und förderte ihn, indem er in »Wilhelm Meisters Wanderjahren« den Gedanken ausführte, welchen schon die »Lehrjahre« angedeutet hatten: Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt. Die Odyssee der allgemein menschlichen Bildung endete also mit der modernen Lehre der Arbeitsteilung: daß ein jeder eines recht wissen und ausüben, in sich selber einen Mittelpunkt, um den alles kreise, finden solle:

Und dein Streben, sei's in Liebe.
Und dein Leben sei die Tat.

Anfang und Schluß des Romans verhielten sich zueinander wie Jugend und Alter, wie Poesie und Prosa. Aber weil der Dichter fühlte, daß die nützliche Tätigkeit für die bürgerliche Gesellschaft an sich noch nicht poetisch ist, und weil er selber mit allen Fasern seines Wesens in der allseitigen Bildung des alten Jahrhunderts wurzelte, darum wollte und konnte er den Grundgedanken der »Wanderjahre« nicht künstlerisch ausgestalten, sondern nur symbolisch andeuten; er schilderte nicht, wie der tatenfrohe Mann im einseitigen Schaffen sich selber zugleich beschränkt und kräftig auslebt, sondern ließ seinen Helden in bewußter Entsagung die freie Lebenslust überwinden und sein Ich vergessen in einem nüchternen Berufe. Für einen Roman der bürgerlichen Arbeit war in Deutschland die Zeit noch nicht gekommen. Die heitere Anmut der eingestreuten Novellen, die plastische Anschaulichkeit des Bildes der heiligen Familie und vieler andern Schilderungen erinnerten an die schönsten Zeiten der Goethischen Muse. Auch die lehrhaften Abschnitte enthielten neben manchem seltsamen Gedankenspiele eine Fülle reifer und tiefer Wahrheiten. Wie fühlte sich der junge Ludwig Richter in tiefster Seele gepackt, als er hier die Mahnung las: Große Gedanken und ein reines Herz, das ist's, was wir uns von Gott erbitten sollten, wie scharf durchschaute der Dichter die schwerste sittliche Gefahr, welche dem heranwachsenden Geschlechte drohte, wenn er die Erziehung zur Ehrfurcht seiner pädagogischen Provinz zur Aufgabe stellte. Aber ein abgerundetes Kunstwerk gab er nicht; seine alte Neigung zum fragmentarischen Schaffen überwältigte ihn wieder, fast planlos reihte er alles aneinander, was er so viele Jahre hindurch über das Problem der Menschenbildung gedichtet und gedacht hatte. Die Leser vermochten sich in dem Irrgarten nicht zurechtzufinden.

Zum ersten Male rief eine Dichtung Goethes allgemeine Enttäuschung hervor, und nun kamen gute Tage für alle die kleinen Leute, die dem Dichter seine Größe nicht verzeihen konnten, wählend der letzten Jahre, solange die Nation noch unter dem frischen Eindruck von »Dichtung und Wahrheit« stand, hatten sich die Neider selten herausgewagt. Jetzt fanden die »Falschen Wanderjahre«, welche der westfälische Pfarrer Pustkuchen gleichzeitig mit dem Anfang der echten (1821) in der berüchtigten Basseschen Buchhandlung zu Quedlinburg erscheinen ließ, starken Absatz und selbst in geachteten Zeitschriften ernsthafte Besprechung. Das boshafte Machwerk ahmte den umständlichen Stil des alten Herrn nicht ohne Geschick nach und bekämpfte seine Unsittlichkeit mit den Gemeinplätzen der platten Moral. Dann ließ auch Hengstenbergs »Kirchenzeitung« die Kartaunen ihres allein wahren Christentums gegen den großen Heiden spielen, und in gleichem Sinne schrieb Wolfgang Menzel, der Herausgeber des mit dem Cottaschen »Morgenblatt« verbundenen »Literaturblattes«. Der blieb sein Leben lang der alte christlich-germanische Burschenschafter und rügte mit achtungswertem Mute die Verirrungen des weltbürgerlichen glaubenlosen Radikalismus. Aber die Grazien hatten nicht an der Wiege des unliebenswürdigen Mannes gestanden; das klassische Altertum war ihm nur eine Welt der Sünde, und niemals wollte er den Päpsten verzeihen, daß sie den Vatikan mit der schönsten Skulpturensammlung der Welt geschmückt hatten. So hielt er es denn für Christenpflicht, den Deutschen ihren ersten Dichter zu verleiden und ließ auch nicht ab in seinem puritanischen Eifer, als seine Todfeinde, die Radikalen, in dasselbe Horn stießen und den geadelten Fürstenknecht in Weimar mit gesinnungstüchtiger Entrüstung brandmarkten.

Wie vormals Luther und Friedrich, so sah auch Goethe seine letzten Jahre durch die häßlichste aller deutschen Sünden, durch die ungeheure Undankbarkeit der Nation getrübt – eben jetzt, da das Ausland den Dichter erst zu würdigen begann, da die jungen Schriftsteller des Pariser »Globe« die französische Kunst auf die Naturwahrheit Goethes und Shakespeares hinwiesen, und der einzige Brite, der Deutschland ganz verstanden hat, Thomas Carlyle, seinen Landsleuten den Sinn des »Faust« erklärte. Die radikale deutsche Jugend hörte nur zu willig auf die Stimme der Verleumder. Ein Liebling der jungen Männer war Goethe nur zweimal gewesen, in den Tagen des »Werther« und wieder, als der erste Teil des »Faust« erschien; was er jetzt noch schrieb, konnte einem grollenden Geschlechte nicht genügen, das sich nach politischen Kämpfen sehnte und in seiner Ungeduld den Adel der Form kaum noch zu schätzen wußte. In der neuen Burschenschaft, unter den Freunden Arnold Ruges, galt der arbeitsamste Mann des Zeitalters allgemein für einen bequemen, selbstischen Epikureer – ein Märchen, das in den Kreisen der Halbbildung noch durch Jahrzehnte lebendig blieb; wer sich zeitgemäßen Freisinns rühmen wollte, mußte den Aristokraten Goethe geringschätzen. Für diese Entfremdung der Jugend bot es keinen Ersatz, daß die Höchstgebildeten und die Frauen in ihrer Dankbarkeit nicht irre wurden und manche ästhetische Kreise den Kultus des Dichters wie einen Geheimdienst betrieben. Die Berliner Goethe-Gemeinde gewann jetzt an Hegel einen mächtigen Bundesgenossen; in der Verehrung des absoluten Philosophen und des absoluten Dichters genoß der Hegelianer strenger Observanz seine eigene Überlegenheit, und zum Glück fielen die Geburtstage der beiden Heroen im Kalender dicht hintereinander. Da saßen denn am Abend des 27. August die Eingeweihten beim Festmahl und gedachten ernst des nächtlichen Fluges der Eule der Minerva; sobald aber die Mitternachtsstunde ausgeschlagen hatte, erhob sich ein Redner, um fröhlich anzukündigen, daß jetzt Apoll, der Gott der Lieder, auf seinem Sonnenwagen den heiteren Tag des 28. heraufführe.

Nicht ohne Bitterkeit bemerkte Goethe, wie die Mittelmäßigkeit, die Philisterei und die rohe Tendenz sich abermals, und mächtiger als zu Kotzebues Zeiten, gegen ihn aufbäumten. Er tadelte in scharfen Epigrammen die unglückliche Neigung der Deutschen, sich selber die Freude am Schönen und Großen zu verderben, und seufzte zuweilen: »ein deutscher Schriftsteller, ein deutscher Märtyrer« – denn jene stoische Unempfindlichkeit, wovon die Sittenprediger fabeln, ist dem Schaffenden, der doch für andere schafft, unmöglich. Aber lange konnte seine fröhliche Lebenskraft sich dem Ärger nicht hingeben, mit einigen Kernflüchen schüttelte er sich die Kläffer von den Fersen: »Hat doch der Walfisch seine Laus, muß ich auch meine haben.« Den Namen des Meisters wies er ab, nur der Befreier der deutschen Dichtung wollte er heißen, und ebendeshalb hatte er seine Freude an den Kritikern des »Globe«, weil sie ihn als den Überwinder des falschen Regelzwanges anerkannten. Mochten sie ihn dann immerhin nach französischem Sprachgebrauch einen Romantiker nennen – »was will all der Lärm über klassisch und romantisch! Es kommt darauf an, daß ein Werk durch und durch gut und tüchtig sei, und es wird auch wohl klassisch sein.« Als vierundsiebzigjähriger Greis ward er noch einmal von einer mächtigen Leidenschaft ergriffen. Er überwand sich und fand wie immer Trost im Liede. In der »Trilogie der Leidenschaft« nahm er Abschied von dem Glück und Leid der Liebe, das kein anderer Dichter je so tief empfunden. Durch die Liebeslieder seiner Jugend war er einst der Liebling aller Weiberherzen geworden; die geheimnisvolle Glut dieses Scheidegedichts konnte nur der leiderfahrene, gedankenreiche Mann ganz verstehen. Noch einmal beschwor er die vielbeweinten Schatten aus seinen seligen Wetzlarer Tagen wieder herauf und gestand, im Innersten erschüttert, wie ihn die Götter sein Leben lang durch das Geschenk der Pandora geprüft hätten:

Sie drängten mich zum gabeseligen Munde,
Sie trennen mich und richten mich zugrunde.

Die Sprüche und Gedichte, die sich wie eine Perlenschnur durch seine alten Tage schlangen, wurden der Größe wie der Kleinheit, dem Ewigen wie dem Vergänglichen des Menschenlebens gerecht. Er mahnte die Brüder der Loge, sich der langen Folge der Jahrhunderte bewußt zu bleiben, weil das Beständige der irdischen Tage uns ewigen Bestand verbürge; aber er wußte auch, daß der schwache Mensch doch nur am Tage den Tag lebt, und gab ihm jenen herzhaften Trost, der so vielen redlich Schaffenden die Augen trocknen und die ermattenden Arme stählen sollte:

Liegt dir gestern klar und offen,
Wirkst du heute kräftig, frei,
Darfst auch auf ein Morgen hoffen,
Das nicht minder glücklich sei.

Goethe hatte die Genossen seiner Jugend schon alle begraben und stand längst in dem Alter, das den Tod gelassen als eine gemeine Schickung hinnimmt; gleichwohl fühlte er sich tief ergriffen und konnte nur in der gewohnten Einsamkeit auf den Dornburger Schlössern den Frieden des Gemütes wiederfinden, als auch sein großer fürstlicher Freund vor ihm dahinging. Karl August starb am 28. Juni 1828 auf der Rückreise von Berlin, wo er mit jugendlicher Wißbegierde alles Neue und Schöne, was die letzten Jahre geschaffen, betrachtet hatte. Die letzten Tage über mußte Humboldt beständig um ihn sein; der greise Fürst ward nicht müde, den Gelehrten auszuforschen über die schwierigsten Fragen der Naturwissenschaft; hell und lauter schlugen die Flammen seiner großen Seele noch einmal aus dem gebrechlichen Körper auf; mit Verachtung sprach er von der erkünstelten Frömmelei dieser Tage, aber auch mit Ehrfurcht von der menschenfreundlichen Lehre des ursprünglichen Christentums. Dann verschied er im Schlosse Graditz, die Augen der Abendsonne zugewendet. Das alte Weimar war nicht mehr. Auch Goethe fühlte das Bedürfnis des Alters, mit dem Vergangenen abzuschließen, und veröffentlichte seinen Briefwechsel mit Schiller. Bald nachher, im Frühjahr 1830, ließ Wilhelm Humboldt die Briefe erscheinen, welche er einst mit Schiller gewechselt hatte, und schilderte im Vorwort die Natur des Dichters mit kongenialem Verständnis. Das junge Geschlecht war aber in neuen Sorgen und Kämpfen zu tief befangen, um das Vermächtnis einer großen Zeit dankbar aufzunehmen; erst in späteren, ruhigeren Tagen erkannte die Nation, welch ein Schatz künstlerischer Weisheit in diesen Briefen lag.

Durch den Zauber der alten Erinnerungen wurde Goethe dem lebendigen Schaffen der Gegenwart nicht entfremdet. Grillparzer und andere junge Dichter erfreuten sich seines ermunternden Zuspruchs, und mit strahlenden Augen folgte der Alte den kühnen Flügen Byrons. Die revolutionäre Macht der Byronischen Muse erinnerte ihn an die Zeiten, da er selber als ein Himmelsstürmer in den zahmen Frieden der deutschen Dichtung eingebrochen war. Er überschätzte sogar den englischen Dichter; denn seine kerngesunde Natur konnte sich die Empfindung des leeren Weltschmerzes an einem großen Künstler nicht vorstellen. Er wußte nicht, wie stark der Spleen des blasierten Weltmannes bei der finsteren Menschenverachtung des Briten mitwirkte, und wenn er Byron nannte, »stark angewohnt, das tiefste Weh zu tragen«, so glaubte er wirklich, das Gewissen des Lords sei mit einer schweren Blutschuld belastet. Mit den Malern und Bildhauern, die er unter seine Flügel nahm, hatte er bisher wenig Ehre eingelegt, da führte ihm ein gütiger Stern den jungen Friedlich Preller zu. Mit väterlicher Sorgfalt nahm er sich des Jünglings an, erwirkte ihm die Gunst Karl Augusts und verwies ihn auf die Meister des großen Stiles der Landschaftsmalerei, auf Claude Lorrain und Poussin. So fiel noch ein letzter warmer Sonnenstrahl aus Weimars goldener Zeit auf die Jugend des Künstlers, der nach langen Jahren wieder einen schönen Nachsommer über die kleine Musenstadt heraufführen sollte. Mittlerweile legte Goethe die letzte Hand an seinen »Faust«, während die vorlauten jungen Leute ihn bereits zu den Toten warfen, sah er, jugendlicher als sie alle, schon das tatkräftige Zeitalter nahen, das die Elemente bändigen und seinen Ruhm finden sollte in dem Gedanken: auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen. (682–688.)


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