Heinrich von Treitschke
Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts – Erster Band
Heinrich von Treitschke

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Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre

Nicht jede Zeit erkennt ihr eigenes Wesen. Namentlich in jenen müden Epochen, welche den Entscheidungsstunden des Völkerlebens zu folgen pflegen, täuschen sich die Mutigen und hochherzigen oft vollständig über die treibenden Kräfte des Zeitalters, vor dem Kriege hatte niemand geahnt, wieviel Tapferkeit und Bürgersinn, wieviel Opfermut und edle Leidenschaft in dem Volke des deutschen Nordens schlummerte; jetzt, da alle diese verborgenen Tugenden sich so herrlich bewährt hatten, wollten die erregten Wortführer der Patrioten schlechterdings nicht glauben, daß die hohe Begeisterung der Befreiungskriege, nachdem ihr Ziel erreicht war, wieder verrauchen könnte. Die Bundesakte und der Friedensschluß – wer hätte das bestritten? – waren ja doch nur darum mißraten, weil das Volk an den Verhandlungen der Diplomaten nicht teilnehmen durfte; um so gewisser mußte die Nation, sobald sie nur die verheißenen landständischen Verfassungen erhalten hatte, sich mit Eifer und Verständnis ihrer Angelegenheiten selbst bemächtigen und die irrenden Kabinette in die Bahnen nationaler Staatskunst zurückführen. In solchem Sinne schrieb Arndt beim Anbruch des ersten Friedensjahres: »Noch in diesem Jahre 1816 soll zwischen den Herrschern und den Völkern das Band der Liebe und des Gehorsams unauflöslich gebunden werden.« Er sah die Tore eines neuen Zeitalters weit geöffnet: wenn erst die schöne Neugeborene dieses Jahres, die verfassungsmäßige Freiheit, in alle deutschen Staaten einzieht, »dann jauchzen die Gefallenen, dann weinen die einsamen Bräute und Witwen süßere Tränen!«

Der Hoffnungsvolle sollte nur zu bald erfahren, wie gründlich er Charakter und Gesinnung seines Volkes verkannt hatte. Die Nation stand erst auf der Schwelle einer langen, an Irrtum und Enttäuschung reichen politischen Lehrzeit; die öffentliche Meinung, welche Arndt als »die gewaltigste Königin des Lebens« pries, zeigte für die Fragen des Verfassungswesens nur geringes Verständnis, kaum noch ernstliche Teilnahme. Den einsamen Witwen und Bräuten, den heimgekehrten Kriegern, die jetzt das Schwert mit dem Pfluge und dem Hobel vertauschten, brannte die Not auf den Nägeln; sie sorgten, wie sie sich nur das arme Leben fristen, wie sie nur wieder Hütten bauen sollten auf dem ausgeplünderten Schlachtfelde des Völkerkrieges. Deutschland war wieder das ärmste von allen Ländern Westeuropas; in manchen Strichen der Mark Brandenburg begann zum fünften Male das schwere Ringen um die ersten Anfänge bürgerlichen Wohlstandes. Mit ruhigem Gottvertrauen gingen die kleinen Leute wieder an ihr schweres Tagewerk und trugen geduldig das Los der Entbehrung, das ihnen als Lohn so vieler Siege zufiel. Jener Geist der Unruhe und Verwilderung, der gemeinhin nach großen Kämpfen noch eine Zeitlang im Gemüte der Massen nachzuzittern pflegt, zeigte sich nirgends unter den frommen und genügsamen Menschen, die diesen heiligen Krieg geschlagen hatten. Aber in dem Gedränge der wirtschaftlichen Sorgen blieb auch kein Raum für die politische Leidenschaft. Sogar die Erinnerung an alle die Wunder der jüngsten drei Jahre fand selten lauten Ausdruck, obwohl sie in den treuen Herzen still fortlebte. Zwei-, dreimal noch flammten am Abend des 18. Oktobers die Freudenfeuer auf den Bergen; dann verstummte die Feier an den meisten Orten, hier vor den Verboten der Polizei, dort vor der Gleichgültigkeit der Menge. Auffällig gering blieb in diesem schreiblustigen Geschlechte die Zahl der Volksbücher und Holzschnitte, welche der Nation von der schönsten Zeit ihrer neuen Geschichte erzählten. Ein gespreiztes Bild, »die Rückkehr des jungen Helden«, sah man zuweilen an den Wänden guter Bürgerhäuser, die ihre Söhne unter die freiwilligen Jäger geschickt hatten; auf den Jahrmärkten und in den Dorfschenken war selbst das Bildnis Blüchers, des volkstümlichen Helden, fast nirgends zu finden.

Auch unter den Gebildeten waren es im Grunde nur drei scharf getrennte Kreise, welche sich die gehobene Stimmung, die stolzen vaterländischen Hoffnungen der Kriegsjahre noch im Frieden lange bewahrten: das preußische Offizierkorps, die akademische Jugend, endlich eine mäßige Anzahl von patriotischen Schriftstellern und Gelehrten, die man jetzt mit dem neuen spanischen Parteinamen der Liberalen zu bezeichnen anfing. Die preußischen Offiziere lebten und webten in den Erinnerungen der Feldzüge; sie blickten mit starkem Selbstgefühl auf den wiederhergestellten Glanz ihrer Fahnen, mit Unmut auf den gebrechlichen Bau des Deutschen Bundes und das traurige Ergebnis der Friedensverhandlungen, während des Kampfes hatten sie die kriegerische Kraft des Bürgertums achten gelernt, manchen tapferen Kameraden aus den Reihen der Freiwilligen in ihren Kreis aufgenommen. Nun wurde ihnen durch das neue Wehrgesetz die Erziehung der gesamten wehrhaften Jugend anvertraut, sie traten mit allen Klassen des Volkes in Verkehr und bewahrten sich auch den freien, einst durch Scharnhorst geweckten wissenschaftlichen Sinn; der Kastenhochmut der alten Zeit kehrte nur in vereinzelten Rückfällen wieder. Aber obschon die fremden Mächte und die kleinen deutschen Höfe allesamt den nationalen Stolz und das frische geistige Leben dieses Volksheeres voll Argwohns beobachteten, so blieb die streng monarchische Gesinnung der Offiziere doch allen Parteibestrebungen völlig unzugänglich. Ihre Kameraden von der russischen Garde hatten in Frankreich zum ersten Male die Ideen der Revolution kennengelernt und von dort radikale Anschauungen mit heimgenommen, welche nachher in törichten Verschwörungen ihre Früchte trugen. Auf die preußischen Offiziere dagegen wirkte der Anblick des allgemeinen Eidbruchs und der wilden Parteikämpfe der Franzosen nur abschreckend; sie fühlten sich wieder, wie in den neunziger Jahren, stolz als Gegner der Revolution, sie rühmten sich der alten preußischen Königstreue und schätzten die neue konstitutionelle Doktrin schon darum gering, weil sie aus Frankreich stammte. Selbst Gneisenau, der noch vorm Jahre die schleunige Vollendung der preußischen Verfassung gefordert hatte, kehrte mit veränderter Gesinnung heim und riet dringend, die Ausführung solcher Entwürfe nur langsam reifen zu lassen. Der einzige politische Gedanke, der in den Briefen und Gesprächen dieses Heeres mit Leidenschaft erörtert wurde, war die Hoffnung auf einen Dritten Punischen Krieg, der den Deutschen endlich ihre alte Westgrenze und eine angesehene Stellung unter den Völkern zurückbringen sollte.

Ungleich erregter zeigte sich die Stimmung der jungen Freiwilligen, die jetzt von den Regimentern zu den Hörsälen der Hochschulen zurückkehrten, vaterländische Begeisterung und religiöse Schwärmerei, Groll über den faulen Frieden und unklare Vorstellungen von Freiheit und Gleichheit, die man unbewußt zumeist von den verachteten Franzosen entlehnt hatte, das alles brodelte in den Köpfen dieser teutonischen Jugend wirr durcheinander und erzeugte eine edle Barbarei, die nur noch die Tugenden des Bürgers gelten ließ und sich zu dem Ausspruch Fichtes bekannte: Besser ein Leben ohne Wissenschaft als eine Wissenschaft ohne Leben. Indes der überspannte Nationalstolz des Teutonentums widersprach allzusehr der freien Weitherzigkeit unseres weltbürgerlichen Volkes, das gar nicht vermag, auf die Dauer gegen fremdes Wesen ungerecht zu sein; die zur Schau getragene Verachtung aller Anmut und seinen Bildung war allzu undeutsch, das ganze, halb kindlich rührende, halb lächerliche Gebaren dieses anmaßlichen Studentenstaates trug allzusehr den Charakter des Sektenwesens, als daß sein politischer Fanatismus hätte auf weite Kreise wirken können. Es blieb bei der alten Regel, daß die Fünfzig- und Sechzigjährigen die Welt regieren. Unter den älteren Männern aber fanden die politischen Wächterrufe der patriotischen Schriftsteller zwar vereinzelte Zustimmung; die starke Leidenschaft, welche die Tat gebiert, erweckten sie nicht.

Sicherer als Arndt durchschaute Hegel den Geist der Zeit, da er sagte: Die Nation hat sich aus dem gröbsten herausgehauen, sie kann sich nun wieder nach innen, zum Reiche Gottes wenden. Die mächtigen Akkorde, welche das Zeitalter unserer klassischen Dichtung angeschlagen, hallten noch fort; noch waren die reichen Schächte, die sich seit zwei Menschenaltern der geistigen Arbeit der Nation erschlossen hatten, keineswegs erschöpft. Der Ehrgeiz dieses durchaus unpolitischen Geschlechts trachtete noch immer, unbekümmert um alle Prosa des äußeren Lebens, fast allein nach den Kränzen des Reiches der Geister. Seinen besten Männern erschien die Zeit der Napoleonischen Kriege bald nur wie eine Episode, wie ein Hagelschauer, der über den blühenden Garten deutscher Kunst und Wissenschaft dahingebraust war. Wie die kleinen Leute wieder zur Pflugschar griffen, so nahmen die Gebildeten die Feder wieder auf, doch nicht wie jene mit stiller Entsagung, sondern mit dem frohen Bewußtsein, sich selber und ihrem eigensten Leben wieder anzugehören, wunderbar grell trat jener innere Widerspruch hervor, der sich seit dem Aufblühen der neuen Literatur in dem Charakter unseres Volkes herausgebildet hatte: diese tapferen Germanen, die schon in den Lagen ihrer heidnischen Urzeit beständig von Krieg und Sieg geträumt und seitdem in jedem Jahrhundert die Welt mit dem Schalle ihrer Schwerter erfüllt hatten, schätzten den kriegerischen Ruhm niedriger als irgendein anderes Volk; sie lebten des Glaubens, Deutschlands schärfste Waffen seien seine Gedanken.

Das Jahrzehnt nach Napoleons Sturze wurde für den ganzen Weltteil eine Blütezeit der Wissenschaften und Künste. Die Völker, die soeben noch mit den Waffen aufeinandergeschlagen, tauschten in schönem Wetteifer die Früchte ihres geistigen Schaffens aus; nie zuvor war Europa dem Ideale einer freien Weltliteratur, wovon Goethe träumte, so nahe gekommen. Und in diesem friedlichen Wettkampfe stand Deutschland allen voran, welch eine Wandlung der Zeiten seit jenen Tagen Ludwigs XIV., da die Kultur unseres Volkes bei allen andern Nationen des Abendlandes demütig in die Schule gehen mußte! Jetzt huldigte die weite Welt dem Namen Goethes. Die winkligen Gastzimmer im »Erbprinzen« und im »Adler« zu Weimar wurden nicht leer von vornehmen Engländern, die den Fürsten der neuen Dichtung besuchen wollten. In Paris genoß Alexander Humboldt eines Ansehens, wie kaum ein einheimischer Gelehrter; wenn ein Fremder in den Mietwagen stieg und die Hausnummer des großen Reisenden nannte, dann griff der Kutscher achtungsvoll an den Hut und sagte: Ah chez Mr. de Humboldt! Und da Niebuhr als preußischer Gesandter nach Rom kam, wagte ihm niemand in der Weltstadt den Ruhm des ersten Gelehrten zu bestreiten.

Von unserm Staate, von seinen Waffentaten sprach das Ausland wenig. Allen fremden Mächten kam das plötzliche wiedererstarken der Mitte des Weltteils ungelegen, sie alle bemühten sich, wetteifernd den Anteil Preußens an der Befreiung Europas der Vergessenheit zu übergeben. Keiner der ausländischen Kriegsschriftsteller, welche in diesen Jahren die Geschichte der jüngsten Feldzüge darstellten, ward den Verdiensten des Blücherschen Hauptquartiers irgend gerecht. Das alte Ansehen der preußischen Armee, die in Friedrichs Tagen jedermann als die erste der Welt gefürchtet hatte, war durch die Siege von Dennewitz und Belle-Alliance keineswegs wiederhergestellt. Da der wirkliche Verlauf eines Koalitionskrieges sich nur schwer übersehen läßt, so beruhigte sich die öffentliche Meinung Europas gern bei dem einfachen Schlusse: Als die Preußen bei Jena allein fochten, wurden sie geschlagen, nur fremde Hilfe hat sie gerettet. Daher kümmerte sich auch niemand im Auslande um die politischen Institutionen, denen Preußen seine Freiheit verdankte. Preußen blieb nach wie vor der am wenigsten bekannte und am gründlichsten verkannte Staat Europas, vollends der neue Regensburger Reichstag, der jetzt in Frankfurt zusammentrat, erregte durch sein unfruchtbares Gezänk den Spott des Auslandes; und bald nach der wunderbaren Erhebung unseres Volkes stand bei allen Nachbarn wieder die alte bequeme Meinung fest: die deutsche Nation sei durch den weisen Ratschluß der Natur zu ewiger Ohnmacht und Zwietracht bestimmt. Um so bereitwilliger erkannte man nunmehr die geistige Größe dieses machtlosen Volkes an; allein ihren Künstlern und Gelehrten verdankten die Deutschen, daß sie von den alten Kulturvölkern des Westens wieder zu den großen Nationen gerechnet wurden. Sie hießen jetzt im Auslande das Volk der Dichter und der Denker; nur sollten sie auch bei der Teilung der Erde zufrieden sein mit dem Poetenlose, das ihnen Schiller geschildert, und sich begnügen, berauscht vom göttlichen Lichte, das Irdische zu verlieren.

Zum ersten Male seit den Zeiten Martin Luthers machten Deutschlands Gedanken wieder die Kunde durch die Welt, und sie fanden willigere Aufnahme, als vormals die Ideen der Reformation. Deutschland allein hatte die Weltanschauung des achtzehnten Jahrhunderts schon gänzlich überwunden. Der Sensualismus der Aufklärung war längst verdrängt durch eine idealistische Philosophie, die Herrschaft des Verstandes durch ein tiefes religiöses Gefühl, das Weltbürgertum durch die Freude an nationaler Eigenart, das Naturrecht durch die Erkenntnis des lebendigen Werdens der Völker, die Regeln der korrekten Kunst durch eine freie, naturwüchsige, aus den Tiefen des Herzens aufschäumende Poesie, das Übergewicht der exakten Wissenschaften durch die neue historisch-ästhetische Bildung. Diese Welt von neuen Gedanken war in Deutschland durch die Arbeit dreier Generationen, der klassischen und der romantischen Dichter, langsam herangereift, sie hatte unter den Nachbarvölkern bisher nur vereinzelte Jünger gefunden und drang jetzt endlich siegreich über alle Lande. (3-7.)


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