Heinrich von Treitschke
Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts – Erster Band
Heinrich von Treitschke

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Preußens Erhebung

Freiherr vom Stein

Schon mehrmals hatte Preußen durch das plötzliche Hervorbrechen seiner verborgenen sittlichen Kräfte die deutsche Welt in Erstaunen gesetzt: so einst, da Kurfürst Friedrich Wilhelm seinen kleinen Staat hineindrängte in die Reihe der alten Mächte; so wieder, als König Friedrich den Kampf um Schlesien wagte. Aber keine von den großen Überraschungen der preußischen Geschichte kam den Deutschen so unerwartet, wie die rasche und stolze Erhebung der halbzertrümmerten Großmacht nach dem tiefen Falle von Jena. Während die gefeierten Namen der alten Zeit samt und sonders verächtlich zu den Toten geworfen wurden und in Preußen selbst jedermann den gänzlichen Mangel an fähigem, jungem Nachwuchs beklagte, scharte sich mit einem Male ein neues Geschlecht um den Thron: mächtige Charaktere, begeisterte Herzen, helle Köpfe in unabsehbarer Reihe, eine dichte Schar von Talenten des Rates und des Lagers, die den literarischen Größen der Nation ebenbürtig zur Seite traten. Und wie einst Friedrich auf den Schlachtfeldern Böhmens nur erntete, was sein Vater in mühereichen Friedenszeiten still gesät hatte, so war auch dies schnelle Wiedererstarken der gebeugten Monarchie nur die reife Frucht der schweren Arbeit langer Jahre. Indem der Staat sich innerlich zusammenraffte, machte er sich alles zu eigen, was Deutschlands Dichter und Denker während der letzten Jahrzehnte über Menschenwürde und Menschenfreiheit, über des Lebens sittliche Zwecke gedacht hatten. Er vertraute auf die befreiende Macht des Geistes, ließ den vollen Strom der Ideen des neuen Deutschlands über sich hereinfluten.

Jetzt erst wurde Preußen in Wahrheit der deutsche Staat, die Besten und Kühnsten aus allen Stämmen des Vaterlandes, die letzten Deutschen sammelten sich unter den schwarzundweißen Fahnen. Der schwungvolle Idealismus einer lauteren Bildung wies der alten preußischen Tapferkeit und Treue neue Pflichten und Ziele, erstarkte selber in der Zucht des politischen Lebens zu opferfreudiger Tatkraft. Der Staat gab die kleinliche Vorliebe für das handgreiflich Nützliche auf; die Wissenschaft erkannte, daß sie des Vaterlandes bedurfte, um menschlich wahr zu sein. Das alte harte kriegerische Preußentum und die Gedankenfülle der modernen deutschen Bildung fanden sich endlich zusammen, um nicht wieder voneinander zu lassen. Diese Versöhnung zwischen den beiden schöpferischen Mächten unserer neuen Geschichte gibt den schweren Jahren, welche dem Tilsiter Frieden folgten, ihre historische Größe. In dieser Zeit des Leidens und der Selbstbesinnung haben sich alle die politischen Ideale zuerst gebildet, an deren Verwirklichung die deutsche Nation bis zum heutigen Tage arbeitet.

Nirgends hatte die Willkür des Eroberers grausamer gehaust als in Preußen; darum ward auch der große Sinn des Kampfes, der die Welt erschütterte, nirgends tiefer, bewußter, leidenschaftlicher empfunden als unter den deutschen Patrioten. Gegen die abenteuerlichen Pläne des Napoleonischen Weltreichs erhob sich der Gedanke der Staatenfreiheit, derselbe Gedanke, für den einst der Neugründer des preußischen Staates gegen den vierzehnten Ludwig gefochten hatte. Den kosmopolitischen Lehren der bewaffneten Revolution trat die nationale Gesinnung, die Begeisterung für Vaterland, Volkstum und heimische Eigenart entgegen. Im Kampfe wider die erdrückende Staatsallmacht des Bonapartismus erwuchs eine neue, lebendige Anschauung vom Staate, die in der freien Entfaltung der persönlichen Kraft den sittlichen Halt der Nationen sah. Die großen Gegensätze, die hier aufeinander stießen, spiegelten sich getreulich wider in den Personen der leitenden Männer. Dort jener eine Mann, der sich vermaß, er selber sei das Schicksal, aus ihm rede und wirke die Natur der Dinge – der Übermächtige, der mit der Wucht seines herrischen Genius jeden andern Willen erdrückte; tief unter ihm ein Dienergefolge von tapferen Landsknechten und brauchbaren Geschäftsmännern, aber fast kein einziger aufrechter Charakter, fast keiner, dessen inneres Leben sich über das platt Alltägliche erhob, hier eine lange Schar ungewöhnlicher Menschen, scharf ausgeprägte, eigensinnige Naturen, jeder eine kleine Welt für sich selber voll deutschen Trotzes und deutscher Tadelsucht, jeder eines Biographen würdig, zu selbständig und gedankenreich, um kurzweg zu gehorchen, doch allesamt einig in dem glühenden Verlangen, die Freiheit und Ehre ihres geschändeten Vaterlandes wieder aufzurichten.

Einer aber stand in diesem Kreise nicht als Herrscher, doch als der erste unter gleichen: der Freiherr vom Stein, der Bahnbrecher des Zeitalters der Reformen. Das Schloß seiner Ahnen lag zu Nassau, mitten im buntesten Ländergemenge der Kleinstaaterei; von der Lahnbrücke im nahen Ems konnte der Knabe in die Gebiete von acht deutschen Fürsten und Herren zugleich hineinschauen. Dort wuchs er auf, in der freien Luft, unter der strengen Zucht eines stolzen, frommen, ehrenfesten, altritterlichen Hauses, das sich allen Fürsten des Reiches gleich dünkte. Standen doch die Stammburgen der Häuser Stein und Nassau dicht beieinander auf demselben Felsen; warum sollte das alte Wappenschild mit den Rosen und den Balken weniger gelten als der sächsische Rautenkranz oder die württembergischen Hirschgeweihe? Der Gedanke der deutschen Einheit, zu dem die geborenen Untertanen erst auf den weiten Umwegen der historischen Bildung gelangten, war diesem stolzen reichsfreien Herrn in die Wiege gebunden. Er wußte es gar nicht anders: »Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland, und da ich nach alter Verfassung nur ihm und keinem besonderen Teile desselben angehöre, so bin ich auch nur ihm und nicht einem Teile desselben von ganzem Herzen ergeben.« Wenig berührt von der ästhetischen Begeisterung der Zeitgenossen, versenkte sich sein tatkräftiger, auf das Wirkliche gerichteter Geist früh in die historischen Dinge. Alle die Wunder der vaterländischen Geschichte, von den Kohortenstürmern des Teutoburger Waldes bis herab zu Friedrichs Grenadieren, standen lebendig vor seinen Blicken. Dem ganzen großen Deutschland, soweit die deutsche Zunge klingt, galt seine feurige Liebe. Keinen, der nur jemals von der Kraft und Großheit deutschen Wesens Kunde gegeben, schloß er von seinem Herzen aus; als er im Alter in seinem Nassau einen Turm erbaute zur Erinnerung an Deutschlands ruhmvolle Taten, hing er die Bilder von Friedrich dem Großen und Maria Theresia, von Scharnhorst und Wallenstein friedlich nebeneinander. Sein Ideal war das gewaltige deutsche Königtum der Sachsenkaiser; die neuen Teilstaaten, die sich seitdem über den Trümmern der Monarchie erhoben hatten, erschienen ihm samt und sonders nur als Gebilde der Willkür, heimischen Verrates, ausländischer Ränke, reif zur Vernichtung, sobald irgendwo und irgendwie die Majestät des alten rechtmäßigen Königtums wieder erstünde. Sein schonungsloser Freimut gegen die gekrönten Häupter entsprang nicht bloß der angeborenen Tapferkeit eines heldenhaften Gemütes, sondern auch dem Stolze des Reichsritters, der in allen diesen fürstlichen Herren nur pflichtvergessene, auf Kosten des Kaisertums bereicherte Standesgenossen sah und nicht begreifen wollte, warum man mit solchen Zaunkönigen soviel Umstände mache.

Er hatte die rheinischen Feldzüge in der Nähe beobachtet und die Überzeugung gewonnen, die er einmal der Kaiserin von Rußland vor versammeltem Hofe aussprach: das Volk sei treu und tüchtig, nur die Erbärmlichkeit seiner Fürsten verschulde Deutschlands Verderben. Er haßte die Fremdherrschaft mit der ganzen dämonischen Macht seiner naturwüchsigen Leidenschaft, die einmal ausbrechend unbändig wie ein Bergstrom dahinbrauste; doch nicht von der Wiederaufrichtung der verlebten alten Staatsgewalten, noch von den künstlichen Gleichgewichtslehren der alten Diplomatie erwartete er das Heil Europas. Sein freier großer Sinn drang überall gradaus in den sittlichen Kern der Dinge. Mit dem Blick des Sehers erkannte er jetzt schon, wie Gneisenau, die Grundzüge eines dauerhaften Neubaues der Staatengesellschaft. Das unnatürliche Übergewicht Frankreichs – so lautete sein Urteil – steht und fällt mit der Schwäche Deutschlands und Italiens; ein neues Gleichgewicht der Mächte kann nur erstehen, wenn jedes der beiden großen Völker Mitteleuropas zu einem kräftigen Staate vereinigt wird. Stein war der erste Staatsmann, der die treibende Kraft des neuen Jahrhunderts, den Drang nach nationaler Staatenbildung ahnend erkannte; erst zwei Menschenalter später sollte der Gang der Geschichte die Weissagungen des Genius rechtfertigen. Noch war sein Traum vom einigen Deutschland mehr eine hochherzige Schwärmerei als ein klarer politischer Gedanke; er wußte noch nicht, wie fremd Österreich dem modernen Leben der Nation geworden war, wollte in den Kämpfen um Schlesien nichts sehen als einen beklagenswerten Bürgerkrieg.

Immerhin hatte er schon in jungen Jahren die lebendige Macht des preußischen Staates erkannt und, weit abweichend von den Gewohnheiten des Reichsadels, sich in den Dienst der protestantischen Großmacht begeben. Wie ward ihm so wohl in der naturfrischen, den Körper stählenden Tätigkeit des Bergbaus, und nachher, da er als Kammerpräsident unter den freien Bauern und dem stolzen, alteingesessenen Adel der westfälischen Lande eine zweite Heimat fand, bei Wind und Wetter immer selbst zur Stelle, um nach dem Rechten zu sehen, herrisch durchgreifend, rastlos anfeuernd, aber auch gütig und treuherzig, durch und durch praktisch, nicht minder besorgt um die Kühe der kleinen Kötter, wie um die Wasserwege für die reichen Kohlenwerke – ein echter Edelmann, vornehm zugleich und leutselig, großartig in allem, ein kleiner König in seiner Provinz.

Den Osten der Monarchie kannte er wenig. Der Reinfranke konnte das landschaftliche Vorurteil gegen die dürftigen Kolonistenlande jenseits der Elbe lang nicht überwinden; er meinte, in den ernsthaften, verwitterten Zügen der brandenburgischen Bauern, die freilich die Spuren langer Not und Unfreiheit trugen, einen scheuen, bösen Wolfsblick zu erkennen, und mit dem naiven Stolze des Reichsritters sah er auf das arme anspruchsvolle Junkertum der Marken herunter, das doch für Deutschlands neue Geschichte unvergleichlich mehr geleistet hatte als der gesamte Reichsadel. Sold zu nehmen und seinen steifen Nacken in das Joch des Dienstes zu schmiegen, fiel dem Reichsfreiherrn von Haus aus schwer. Als er dann auf der roten Erde die nach lebensfähigen Überreste altgermanischer Gemeindefreiheit und altständischer Institutionen kennenlernte, als er die gemeinnützige Wirksamkeit der Landstände, der bäuerlichen Erbentage, der Stadträte und Kirchensynoden beobachtete und damit die formensteife Kleinmeisterei, die allfürsorgende Zudringlichkeit des königlichen Beamtentums verglich, da überkam ihn eine tiefe Verachtung gegen das Nichtige des toten Buchstabens und der Papiertätigkeit. Mit harten und oftmals ungerechten Worten schalt er auf die besoldeten, buchgelehrten, interesselosen, eigentumslosen Buralisten, die, es regne oder scheine die Sonne, ihren Gehalt aus der Staatskasse erheben und schreiben, schreiben, schreiben.

So in rüstigem Handeln, in lebendigem Verkehr mit allen Ständen des Volkes bildete er sich nach und nach eine selbständige Ansicht vom Wesen politischer Freiheit, die sich zu den demokratischen Doktrinen der Revolution verhielt, wie die deutsche zur französischen Staatsgesinnung. Adam Smiths Lehre von der freien Bewegung der wirtschaftlichen Kräfte hatte schon dem Jüngling einen tiefen Eindruck hinterlassen; nur lag dem deutschen Freiherrn nichts ferner als jene Überschätzung der wirtschaftlichen Güter, worein die blinden Anhänger des Schotten verfielen, vielmehr bekannte er sich laut zu der friderizianischen Meinung, daß übermäßiger Reichtum das Verderben der Völker sei. Justus Mösers lebenswarme Erzählungen von der Bauernfreiheit der germanischen Urzeit ergriffen ihn lebhaft, das Studium der deutschen und der englischen Verfassungsgeschichte kam seiner politischen Bildung zu statten, und sicher hat die romantische Weltanschauung des Zeitalters, die allgemeine Schwärmerei für die ungebrochene Kraft jugendlichen Volkslebens unbewußt auch auf ihn eingewirkt. Doch der eigentliche Quell seiner politischen Überzeugung war ein starker sittlicher Idealismus, der, mehr als der Freiherr selbst gestehen wollte, durch die harte Schule des preußischen Beamtendienstes gestählt worden war.

Die Verwaltungsordnung des ersten Friedrich Wilhelm hatte einst das dem öffentlichen Leben ganz entfremdete Volk in den Dienst des Staates hineingezwungen. Stein erkannte, daß die also Erzogenen nunmehr fähig waren, unter der Aufsicht des Staates die Geschäfte von Kreis und Gemeinde selbst zu besorgen. Er wollte an die Stelle der verlebten alten Geburtsstände die Rechtsgleichheit der modernen bürgerlichen Gesellschaft setzen, aber nicht die unterschiedslose Masse souveräner Einzelmenschen, sondern eine neue gerechtere Gliederung der Gesellschaft, die den »Eigentümern«, den Wohlhabenden und vornehmlich den Grundbesitzern, die Last des kommunalen Ehrendienstes auferlegte und ihnen dadurch erhöhte Macht gäbe – eine junge, auf dem Gedanken der politischen Pflicht ruhende Aristokratie. Er dachte, die Revolution mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, den Streit der Stände auszugleichen, die Idee des Einheitsstaates in der Verwaltungsordnung vollständig zu verwirklichen; doch mit der Tatkraft des Neuerers verband er eine tiefe Pietät für das historisch Gewordene, vor allem für die Macht der Krone. Eine Verfassung bilden, sagte er oft, heißt das Gegenwärtige aus dem Vergangenen entwickeln. Er strebte von jenen künstlichen Zuständen der Bevormundung und des Zwanges, die sich einst aus dem Elend des Dreißigjährigen Krieges herausgebildet hatten, wieder zurück zu den einfachen und freien Anschauungen der deutschen Altvordern, denen der Waffendienst als das Ehrenrecht jedes freien Mannes, die Sorge für den Haushalt der Gemeinde als die natürliche Aufgabe des Bürgers und des Bauern erschien. Dem begehrlichen revolutionären Sinne, der von dem Staate unendliche Menschenrechte heischte, trat das strenge, altpreußische Pflichtgefühl entgegen, dem dreisten Dilettantismus der Staatsphilosophen die Sach- und Menschenkenntnis eines gewiegten Verwaltungsbeamten, der aus den Erfahrungen des Lebens die Einsicht gewonnen hatte, daß der Neubau des Staates von unten her beginnen muß, daß konstitutionelle Formen wertlos sind, wenn ihnen der Unterbau der freien Verwaltung fehlt.

Diese Gedanken, wie neu und kühn sie auch erschienen, ergaben sich doch notwendig aus der inneren Entwicklung, welche der preußische Staat seit der Vernichtung der alten Ständeherrschaft bis zum Erscheinen des Allgemeinen Landrechts durchlaufen hatte; sie berührten sich zugleich so nahe mit dem sittlichen Ernst der Kantischen Philosophie und dem wieder erwachenden historischen Sinne der deutschen Wissenschaft, daß sie uns Nachlebenden wie der politische Niederschlag der klassischen Zeit unserer Literatur erscheinen. Gleichzeitig, wie auf ein gegebenes Stichwort, wurden sofort nach dem Untergange der alten Ordnung die nämlichen Ideen von den besten Männern des Schwertes und der Feder geäußert, von keinem freilich so umfassend und eigentümlich wie von Stein. In den Briefen und Denkschriften von Scharnhorst und Gneisenau, von Vincke und Niebuhr kehrt überall derselbe leitende Gedanke wieder: es gelte, die Nation zu selbständiger, verantwortlicher politischer Arbeit aufzurufen und ihr dadurch das Selbstvertrauen, den Mut und Opfermut der lebendigen Vaterlandsliebe zu erwecken. Ein geschlossenes System politischer Ideen aufzubauen, lag nicht in der Weise dieser praktischen Staatsmänner; sie rühmten vielmehr als einen Vorzug des englischen Lebens, daß dort die politische Doktrin so wenig gelte. Und so war auch das einzige literarische Werk, das unter Steins Augen entstand, Vinckes Abhandlung über die britische Verwaltung, der Betrachtung des Wirklichen zugewendet. Die kleine Schrift gab zum ersten Male ein getreues Bild von der Selbstverwaltung der englischen Grafschaften, die bisher neben der bewunderten Gewaltenteilung des konstitutionellen Musterstaates noch gar keine Beachtung gefunden hatte; sie enthielt zugleich eine so unzweideutige Kriegserklärung gegen die rheinbündisch-französische Bureaukratie, daß sie erst nach dem Sturze der Napoleonischen Herrschaft gedruckt werden durfte. Darum ist den Zeitgenossen der ganze Tiefsinn der Staatsgedanken Steins niemals recht zum Bewußtsein gekommen. Erst die Gegenwart erkennt, daß dieser stolze Mann mit der Idee des nationalen Staates auch den Gedanken der Selbstverwaltung, eine edlere, aus uralten, unvergessenen Überlieferungen der germanischen Geschichte geschöpfte Auffassung der Volksfreiheit für das Festland gerettet hat. Jeder Fortschritt unseres politischen Lebens hat die Nation zu Steins Idealen zurückgeführt.

Es war der Schatten seiner Tugenden, daß er in den verschlungenen Wegen der auswärtigen Politik sich nicht zurechtfand und die unentbehrlichen Künste diplomatischer Verschlagenheit als niederträchtiges Finassieren verachtete. Ihm fehlte die List, die Behutsamkeit, die Gabe des Zauderns und Hinhaltens. Auf dem Gebiete der Verwaltung bewegte er sich mit vollendeter Sicherheit, wenn aber eine Aussicht auf die Befreiung seines Vaterlandes sich zu eröffnen schien, so verließ ihn die besonnene Ruhe, und fortgerissen von dem wilden Ungestüm seiner patriotischen Begeisterung rechnete er dann leicht mit dem Unmöglichen.

Den Staat bedachtsam zwischen den Klippen hindurchzusteuern, bis der rechte Augenblick der Erhebung erschien, war diesem Helden des heiligen Zornes und der stürmischen Wahrhaftigkeit nicht gegeben. Doch niemand war wie er für die Aufgaben des politischen Reformators geboren. Der zerrütteten Monarchie wieder die Richtung auf hohe sittliche Ziele zu geben, ihre schlummernden herrlichen Kräfte durch den Weckruf eines feurigen Willens zu beleben – das vermochte nur Stein, denn keiner besaß wie er die fortreißende, überwältigende Macht der großen Persönlichkeit. Jedes unedle Wort verstummte, keine Beschönigung der Schwäche und der Selbstsucht wagte sich mehr heraus, wenn er seine schwerwiegenden Gedanken in markigem, altväterischem Deutsch aussprach, ganz kunstlos, volkstümlich derb, in jener wuchtigen Kürze, die dem Gedankenreichtum, der verhaltenen Leidenschaft des echten Germanen natürlich ist. Die Gemeinheit zitterte vor der Unbarmherzigkeit seines stachlichen Spottes, vor den zermalmenden Schlägen seines Zornes, wer aber ein Mann war, ging immer leuchtenden Blickes und gehobenen Mutes von dem Glaubensstarken hinweg. Unauslöschlich prägte sich das Bild des Reichsfreiherrn in die Herzen der besten Männer Deutschlands: die gedrungene Gestalt mit dem breiten Nacken, den starken, wie für den Panzer geschaffenen Schultern; tiefe, funkelnde braune Augen unter dem mächtigen Gehäuse der Stirn, eine Eulennase über den schmalen, ausdrucksvoll belebten Lippen; jede Bewegung der großen Hände jäh, eckig, gebieterisch: ein Charakter wie aus dem hochgemuten sechzehnten Jahrhundert, der unwillkürlich an Dürers Bild vom Ritter Franz von Sickingen erinnerte – so geistvoll und so einfach, so tapfer unter den Menschen und so demütig vor Gott – der ganze Mann eine wunderbare Verbindung von Naturkraft und Bildung, Freisinn und Gerechtigkeit, von glühender Leidenschaft und billiger Erwägung – eine Natur, die mit ihrer Unfähigkeit zu jeder selbstischen Berechnung für Napoleon und die Genossen seines Glücks immer ein unbegreifliches Rätsel blieb. Er war der Mann der Lage; selbst seine Schwächen und einseitigen Ansichten entsprachen dem Bedürfnis des Augenblicks, wenn er das Beamtentum und den kleinen Adel ungebührlich hart beurteilte, die Österreicher schlechtweg als Preußens deutsche Brüder ansah: um so besser für den Staat, der jetzt die adligen Privilegien, die Alleinherrschaft der Bureaukratie zerstören und alles, was trennend zwischen den beiden deutschen Großmächten stand, hochherzig vergessen mußte. (269-275.)


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