Heinrich von Treitschke
Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts – Erster Band
Heinrich von Treitschke

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Politische Zustände in Preußen

Nach solchen ErfolgenSteuerreform. durfte Hardenberg sich's wohl zutrauen, daß er auch das letzte Ziel aller seiner Reformen noch erreichen und sein Tagewerk mit der Berufung des ersten preußischen Landtags abschließen werde. Durch die neuen Finanzgesetze war das Versprechen von 1815 förmlich erneuert und bekräftigt, die Staatsschuld unter die Obhut der Reichsstände gestellt, den Provinzialständen die Mitwirkung bei der Ausgleichung der Grundsteuer zugesagt, von so feierlichen Verheißungen wieder abzugehen schien unmöglich. Der König hatte nicht nur diese Gesetze von freien Stücken gebilligt, sondern auch während der Verhandlungen der jüngsten Monate fast immer im Sinne des Kanzlers sich entschieden und ihn selbst gegen die königlichen Prinzen nachdrücklich in Schutz genommen. Alles schien auf gutem Wege. In einem Privatbriefe, der bald die Runde durch die Zeitungen machte, mahnte Hardenberg, »dem langsamen, aber folgerechten Gange der Regierung« besseres Zutrauen zu schenken: unzweifelhaft werde die Verfassung noch zustande kommen. Er hoffte um so sicherer, über die Flüsterer und Warner, die am Hofe umherschlichen, noch den Sieg davonzutragen, da der König alle Eingaben der altständischen Partikularisten scharf abgewiesen hatte, und außer dem wenig einflußreichen Klewitz bisher noch kein namhafter Staatsmann, auch Metternich nicht, dem Verfassungsplane offen entgegengetreten war.

Allerdings hatten die Finanzverhandlungen abermals bewiesen, daß nicht bloß Vorurteile, sondern auch berechtigte, ernste Bedenken der Berufung der Reichsstände entgegenstanden. Wie sollte das notwendige Geheimnis, das über der Bank und der Staatsschuld lag, gewahrt bleiben, wenn die allgemeinen Landstände zusammentraten? Und war es nicht leicht möglich, daß der Landtag die zur Sicherung des neuen Abgabensystems unentbehrlichen Zollverhandlungen mit den deutschen Nachbarstaaten durch partikularistische Kleinmeisterei erschweren würde? Weit überwiegende Gründe sprachen jedoch für die entschlossene Durchführung der Pläne Hardenbergs. Wie schwer mußte die monarchische Gesinnung in diesem mit seiner Krone so fest verwachsenen Volke erschüttert werden, wenn zum ersten Male in Preußens Geschichte die zornige Frage erklang: ob man an einem Königsworte drehen und deuteln dürfe? Und wie konnte eine Großmacht mit gesetzlich geschlossener Staatsschuld der unberechenbaren Zukunft sicher entgegengehen? In ruhiger Zeit mochte ihr Kredit sich halten; brachen wieder Stürme herein, dann war, nach so bestimmten öffentlichen Verheißungen, keine Anleihe mehr möglich ohne Reichsstände. Ein gefährlicher Angriff der Landstände wider die Einheit des Staates stand jetzt schwerlich mehr zu befürchten, da die Krone diese letzten fünf Jahre ihrer Vollgewalt weislich benutzt hatte, um fast auf allen Gebieten der Gesetzgebung eine Reform durchzusetzen, die nur ein diktatorischer Wille vollenden konnte. Die Heeresverfassung war nunmehr gesichert, desgleichen die Einteilung der Provinzen und die neuen Formen ihrer Verwaltung, das System der Abgaben und Zölle, das Staatsschuldenwesen und der Unterhalt für das königliche Haus; auch von den Verhandlungen über die Rechte der katholischen Kirche, welche Niebuhr in Rom führte, sah Hardenberg mit seinem feinen diplomatischen Blicke voraus, daß sie bald ein leidliches Ergebnis bringen würden, obwohl der schwarzsichtige Gesandte beständig das Schlimmste fürchtete. Kam dies Werk noch unter Dach, wurde auch die Gemeinde- und Kreisordnung nach Hardenbergs Plan durch die Krone allein neugestaltet und endlich auch die Verfassung selbst allein durch den König verliehen, dann waren in den nächsten Jahren schwere politische Kämpfe kaum zu erwarten.

Nach menschlichem Ermessen ging Preußen zunächst einer jener stillen Epochen entgegen, welche sich nach den großen Zeiten der Reform überall einstellen. Sein erster Landtag, dem ja nur beratende Befugnisse zustehen sollten, hätte vermutlich ein unscheinbares Dasein geführt und sich begnügen müssen, einzelne Mißgriffe der neuen Reformgesetze zu rügen und zu verbessern; so konnte er vielleicht eine stille Lehrzeit durchlaufen, wie sie diesem unerfahrenen Volke gerade not tat, Ostpreußen und Rheinländer, Märker und Westfalen in gemeinsamer nüchterner Arbeit aneinander gewöhnen, aus dem verbissenen Partikularismus der Stände und der Provinzen allmählich eine kräftige Staatsgesinnung herausbilden und durch sein Dasein schon die verstimmte öffentliche Meinung in Deutschland beschwichtigen. In solchem Lichte sah der Staatskanzler die nächste Zukunft Preußens. Wer darf heute mit Sicherheit sagen, ob die Dinge wirklich so harmlos verlaufen, ob die abstrakten, staatsfeindlichen Gedanken des neufranzösischen Liberalismus nicht auch in den preußischen Landtag eingedrungen wären? Eine hohe Wahrscheinlichkeit spricht doch dafür, daß Hardenberg das Rechte traf, was den süddeutschen Staaten leidlich gelang, war für Preußen nicht unmöglich; ein Preußischer Landtag, zur rechten Zeit berufen, konnte der Krone die Schmach des Jahres 1848 ersparen.

Auch der König schien des langen Zauderns müde. Nachdem er schon durch die Kabinettsorder vom 17. Januar das Staatsministerium an die schleunige Ausarbeitung der Kommunalordnung erinnert hatte, befahl er am 12. Februar die Bildung einer besonderen Kommission, welche die gesamte erste Hälfte des Hardenbergischen Verfassungsplanes, Gemeinde- und Kreisordnung, binnen vier Wochen ins reine bringen und sodann ihre Arbeit »wegen des innigen Zusammenhanges mit der allgemeinen ständischen Verfassung« dem Ausschusse für die ständischen Angelegenheiten vorlegen sollte. Die Kommission bestand durchweg aus trefflichen Beamten: Friese führte den Vorsitz, zu Mitgliedern wurden Daniels, Eichhorn, Bernuth, Streckfuß, nachher auch Köhler und Vincke berufen. Aber ihr Werk mißriet, und dies Mißlingen ward verhängnisvoll: sobald der Unterbau der Verfassung sich als morsch erwies, stürzte das ganze Gebäude. An die feudale Verwaltung des flachen Landes war selbst der reformatorische Wille der großen Könige des achtzehnten Jahrhunderts immer nur behutsam herangetreten; hier in den breiten Niederungen des Staats hatte die unzähmbare Lust der Deutschen an örtlichem Sonderbrauche von jeher freies Spiel, hier lag das letzte und stärkste Bollwerk der altständischen Macht, hier herrschte noch ungebrochen ein uraltes Herkommen, und es war kein Zufall, daß an der zähen Kraft dieses örtlichen Kleinlebens, das dem alten absoluten Königtum so lange getrotzt hatte, auch der erste versuch konstitutioneller Reformpolitik zerschellte. –

Noch einmal mußte Preußen die verderblichen Folgen von Steins frühem Sturze schwer empfinden. Der große Reformer hatte, als er fiel, den Entwurf einer Landgemeindeordnung fast vollendet hinterlassen, wäre dies Werk damals ins Leben getreten, was nur Steins eisernem Willen gelingen konnte, so hätte die Gesetzgebung jetzt das Kommunalleben der alten Provinzen in leidlicher Ordnung und damit einen festen Anhalt für weitere Reformen vorgefunden, wie nun die Dinge lagen, stand die Kommission ratlos einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit örtlicher Sonderrechte und Sonderbräuche, einem schlechthin chaotischen Zustande gegenüber. In den östlichen Provinzen bestanden etwa 25 000 Landgemeinden und 15 000 Rittergutsbezirke. Unter dieser ungeheuren Zahl befanden sich zwar manche starkbevölkerte, halbstädtische Ortschaften, wie Langenbielau und die andern gewerbreichen Dörfer, die sich stundenweit in den Tälern des Riesengebirges hinaufzogen; doch die große Mehrzahl der Landgemeinden des Nordostens war über die einfachen Zustände der ersten Zeiten deutscher Ansiedlung noch kaum hinausgekommen. Das kleine, um den Herrenhof planmäßig angesiedelte Kolonistendorf bildete noch immer die Regel; Gemeinden von hundert, ja fünfzig Köpfen waren nicht selten, eine Ortschaft von vierhundert Einwohnern galt schon für ein großes Dorf. Dies Kleingemeindetum hatte den Bedürfnissen des Landvolks genügt, so lange die Landgemeinde wesentlich den wirtschaftlichen Zweck des gemeinsamen Feldbaus verfolgte und die Kirche für Armenpflege und Unterricht notdürftig sorgte. Seit aber die Reformation das Armen- und Schulwesen säkularisiert und die Landgemeinde sich nach und nach aus einer wirtschaftlichen Genossenschaft in eine politische Gemeinde verwandelt hatte, zeigten sich die zwerghaften Kommunalgebilde des Nordostens völlig hilflos. Wie konnten sie mit ihren dürftigen Mitteln Wege bauen, Schulen unterhalten und alle die andern Leistungen für das gemeine Wohl aufbringen, welche der erstarkte Staat jetzt von ihnen heischte? Zumal in Altpreußen und Polen, wo das Dorf durchschnittlich kaum zweihundert Köpfe zählte, war von modernen Kommunalanstalten noch fast gar nichts vorhanden.

Einige Beihilfe leistete freilich der Grundherr, dem hier im Osten noch fast überall die Patrimonialgerichtsbarkeit, die niedere Polizei und das Kirchenpatronat zustanden: er war in seinem Gutsbezirke selber der Gemeindevorstand und ernannte den Schulzen für sein Dorf. Dies patriarchalische Verhältnis, das noch im Allgemeinen Landrecht als die normale Dorfverfassung betrachtet wurde, begann sich indes seit der neuen Agrargesetzgebung gänzlich zu verschieben. Durch die Ablösung der bäuerlichen Lasten und Dienste wurde das Dorf von dem Rittergutsbesitzer wirtschaftlich unabhängig; die Grundherrschaft war jetzt nur noch ein Privatbesitz, der in einer freien Nachbargemeinde den größten Teil der Kommunallasten zu tragen und die Rechte der Ortsobrigkeit auszuüben hatte, wie oft hatte der König seit dem Jahre 1808 ausgesprochen, daß diese Trümmer der altständischen Staatsordnung baldigst fallen müßten. Die Verbindung obrigkeitlicher Rechte mit dem Besitz der Scholle widersprach nicht nur den ersten Grundsätzen moderner Rechtsgleichheit; die Grundherrschaft vermochte auch ihren polizeilichen Pflichten nicht mehr zu genügen, seit die Fabriken auf das flache Land drangen und die Freizügigkeit viele heimatlose in die Dörfer warf; ohne die Hilfe der Gendarmerie des Staates hätten sich die Ortsobrigkeiten nicht einmal der Vagabunden erwehren können. Und während der wachsende Verkehr seine Ansprüche an die ländliche Polizei täglich steigerte, ging der Grundherr ganz in den Sorgen seiner eigenen Wirtschaft auf. Wer sich jetzt noch auf dem verschuldeten und verwüsteten väterlichen Gute behaupten wollte, mußte hart arbeiten und die neue Lehre der rationellen Landwirtschaft gründlich kennen. Das alte Sprichwort, daß auf dem Lande jeder mit einer Handvoll Glück und Verstand auskomme, galt längst nicht mehr; das Rittergut verlangte einen ganzen Mann, zumal seit die Brennerei, dank der neuen Branntweinsteuer, bei geschicktem Betriebe reichen Ertrag bringen konnte, und mancher Edelmann, der auf den Krämergeist der Städte stolz herabsah, wurde, ohne es zu merken, selber ein eifriger Industrieller, wo blieb da noch Zeit und Kraft für die Pflichten der Ortsobrigkeit?

Und wie selten hegte der Bauer jetzt noch zu seinem Grundherrn das herzliche Zutrauen, das allein die Macht der Ortsobrigkeit erträglich machen konnte! Schon früherhin hatte sich der arme Adel des Nordostens bei den ewig wiederkehrenden Kriegsnöten nur selten lange in seinem Besitz behauptet, und es galt schon als Merkwürdigkeit, daß noch einzelne alte Geschlechter, wie die Bredows im Havellande, die Brandts von Lindau in dem kursächsischen Brandtswinkel, seit Jahrhunderten auf ihren Stammgütern hausten. Neuerdings, seit die Rittergüter frei veräußert werden durften, ward der Besitzwechsel noch häufiger und die Überlegenheit des bürgerlichen Kapitals auch auf dem Lande bald bemerkbar. Zuerst die Amtmänner der Domänen, dann auch andere Bürgerliche siedelten sich in den alten Rittersitzen an; in Ostpreußen war schon jetzt die Mehrzahl der großen Güter in bürgerlichen Händen, hier und da regte sich auch schon die gewerbsmäßige Güterspekulation. Mancher der neuen Besitzer blieb seinen Bauern ganz fremd, und war er hartherzig, so versuchte er sich der Ortsarmen mit jedem Mittel zu entledigen, auch wohl die kleinen Nachbarn, die ihm zur Last fallen konnten, auszukaufen.

Trotzdem waren diese verschrobenen Zustände im Volke keineswegs unbeliebt. Der Bauer haftete zäh am alten Herkommen und fand es bequem, Gericht und Polizei so nahe vor der Tür zu haben; er blickte über manche grobe Mängel der gutsherrlichen Verwaltung gleichgültig hinweg, da die Grundherrschaft jetzt nichts mehr von ihm zu fordern, sondern nur für ihn Lasten zu tragen hatte. Noch in den vierziger Jahren dankten die Bauern des brandenburgischen Provinziallandtags ihrem Könige aus vollem Herzen, weil er ihnen ihre alte Gemeindeverfassung unangetastet gelassen habe. Der Adel andererseits betrachtete die Grundherrschaft als ein teures Ehrenrecht seines Standes, und es war nicht bloß Junkerhochmut, was aus solchen Ansichten sprach. Die Grundherren durften sich rühmen, daß sie sich ihre Machtstellung auf dem flachen Lande durch schwere Opfer täglich neu erwarben; viele von ihnen empfanden wirklich den Drang nach freier gemeinnütziger Tätigkeit, der in der Aristokratie gesunder Völker immer lebendig ist. Mit Entrüstung hatten sich schon im Jahre 1809 die Stände des Mohrunger Kreises, voran die Grafen Dohna und Dönhoff, wider die geplante Aufhebung der gutsherrlichen Polizei verwahrt, weil sie es für eine unwürdige Zumutung hielten, daß der Grundherr fortan untätig von seinen Einkünften leben solle, wenn der Gesetzgeber diese ehrenhafte Gesinnung auf ein richtiges Ziel zu lenken verstand, wenn er die Privilegien des Landadels entschlossen beseitigte und ihm dafür auf dem Boden des gemeinen Rechtes einen neuen fruchtbaren Wirkungskreis eröffnete, dann konnte das vorurteilsvolle Junkertum des Nordostens dereinst noch zu einer festen Stütze der ländlichen Selbstverwaltung werden.

Wie anders die Landgemeinden der westlichen Provinzen! Hier hatte die Gesetzgebung Frankreichs und seiner Vasallenstaaten jeden rechtlichen Unterschied zwischen Stadt und Land, Rittergut und Bauerngut beseitigt. Am Rhein waren die großen Güter fast allesamt zerschlagen; in Westfalen bestanden zwar noch einige ritterschaftliche Gutsbezirke, doch sie waren Gemeinden wie die andern auch, nur daß dem Grundherrn das Amt des Gemeindevorstandes zustand, und übten kein Herrenrecht über die Nachbardörfer. Die Einebnung aller sozialen Ungleichheiten entsprach den wirtschaftlichen Zuständen dieser dichtbevölkerten Landschaften, wo der städtische Gewerbfleiß sich schon längst auf den Dörfern eingebürgert hatte. Der abstrakte Begriff der französischen Municipalité war hier tief ins Volk gedrungen; wenn ein Westdeutscher über die deutsche Gemeindeverfassung schrieb, wie der Nassauer Pagenstecher 1818, so sprach er stets nur von der Gemeinde schlechthin, ohne nach der Eigenart von Dorf und Stadt zu fragen.

Die Landgemeinden des Westens waren aus den mächtigen Markgenossenschaften der Germanen hervorgegangen, an sich schon größer als die Kolonialdörfer des Ostens, durchschnittlich 500–700 Köpfe stark und überdies durch die Fremdherrschaft zu Samtgemeinden zusammengeschlagen worden. Als Rudler einst mit seinen Genossen die französische Verwaltung auf dem linken Rheinufer einrichtete, hatte er nicht genug Maires, die Französisch sprachen, auftreiben können, und daher nach Gutdünken oft mehrere Gemeinden unter einen Bürgermeister gestellt. Dies Verfahren, das dem Gesetze widersprach und erst nachträglich die Billigung der Konsuln fand, war dann von den kaiserlichen Präfekten fortgesetzt worden, weil die Bureaukratie mit einer kleinen Zahl von Bürgermeistern so viel leichter auskommen konnte. Auch in Berg waren seit 1808 Samtgemeinden, ähnlich den Amtsverbänden der guten alten Zeit, entstanden. So traten denn den zahllosen winzigen Gemeinden des Ostens in den westlichen Provinzen nur an fünftehalbtausend Landgemeinden gegenüber, die zu etwa tausend Bürgermeistereien und Ämtern vereinigt waren. Der rheinische Bürgermeister samt seinen Beigeordneten wurde durch den Staat ernannt und regierte nach jenem obersten Grundsätze des Napoleonischen Verwaltungsrechts, kraft dessen die Verwaltungstätigkeit ausschließlich den Staatsbeamten, den Regierten nur ein unmaßgeblicher Beirat zustand; seine bureaukratische Gewalt war oft härter als das patriarchalische Regiment des pommerschen Gutsherrn.

Gleichwohl hat auch diese undeutsche Einrichtung rasch feste Wurzeln im rheinischen Lande geschlagen. Den neuen preußischen Landräten erschien sie ebenso bequem wie einst den Unterpräfekten. Zudem war der ernannte Bürgermeister den Einflüsterungen des Klerus, den Launen der öffentlichen Meinung weniger zugänglich als ein gewählter Dorfschulze; begreiflich also, daß die Regierungen der westlichen Provinzen allesamt, bis auf drei, sich für den Fortbestand der Bürgermeistereien aussprachen. Auch das Volk hielt seine Gemeindeverfassung hoch, schon weil sie rheinisch war. »Wir wolle bleibe, was wir sin«, hieß es kurzab, sobald man vernahm, daß der Preuß eine Änderung beabsichtige. Der kleine rheinische Landmann, der mit der Gartenwirtschaft und dem Glücksspiele des Weinbaues schon seine liebe Not hatte, sah es keineswegs ungern, daß ihm der gestrenge Bürgermeister die Arbeit und Sorge für das Gemeindewesen abnahm; auch konnten die großen Bürgermeistereien für die Zwecke der Wohlfahrtspolizei ungleich mehr leisten als die Zwerggemeinden der alten Provinzen. Dieser praktische Vorteil war so unleugbar und die Volksmeinung so entschieden, daß selbst die abgesagten Feinde der französischen Gesetzgebung, Stein und Vincke, die Bürgermeistereien und Ämter nicht antasten wollten.

Ebenso schroffe Unterschiede zeigten sich im Städtewesen. In den alten Provinzen war Steins Städteordnung, nachdem sie die schwere Prüfungszeit des Befreiungskrieges glücklich überstanden, den Bürgern allmählich fest ans Herz gewachsen, und Stein hoffte, sein erprobtes Werk mit einigen unwesentlichen Änderungen bald auch in den neuen Provinzen eingeführt zu sehen, weil die Selbstverwaltung die beste Schule preußischer Staatsgesinnung sei. Die Rheinländer aber ließen sich's nicht träumen, wieviel freier die Städteverfassung des verachteten Ostens war. Die formale Gleichheit der französischen Munizipalitäten genügte ihnen; bei uns, sagte man stolz, gehen alle Klassen der Gesellschaft in dem einen Begriffe des Bürgers auf. Der ernannte Bürgermeister mit seinen Beigeordneten war nach rheinischer Anschauung den deutschen Magistraten des Ostens ebenso überlegen wie der Napoleonische Präfekt den Preußischen Regierungskollegien. Der rheinländische Bürger freute sich, daß ihm die vielen lästigen Ehrenämter der Steinschen Städteordnung erspart blieben, und niemand bemerkte, daß ein Gemeinderat, der nicht selbst verwaltete, auch keine wirksame Kontrolle über den allmächtigen Bürgermeister ausüben konnte. Gewählte Magistrate wünschte man schon darum nicht, weil man die Wiederkehr des Kölnischen Klüngels und seiner Vetternherrschaft befürchtete. Die tiefsinnige Auffassung vom Staate und seinen Pflichten, welche der Städteordnung Steins zugrunde lag, erschien hier im Westen, wo alles für die Ideen von 89 schwärmte, ganz unverständlich. Noch im Jahre 1845 behauptete L. Buhl in einer Schrift über die Gemeindeverfassung der preußischen Rheinprovinz: das Beispiel »des Musterlandes Frankreich« beweise genugsam, daß Freiheit des Staates und Freiheit der Gemeinden einander ausschlössen; vor diese Wahl gestellt, müsse das liberale Rheinland die Freiheit des Staates vorziehen. Der wackere Publizist, einer der klügsten Liberalen der Rheinpfalz, hatte damit fast allen Bewohnern des linken Rheinufers aus der Seele gesprochen. Ein Volk, das in solchen Anschauungen lebte und sich dabei noch seines Freisinns rühmte, war für die harten Pflichten deutscher Selbstverwaltung offenbar noch schwerer zu gewinnen, als vormals das verschüchterte Kleinbürgertum der Städte des Ostens.

Auch in der Kreisverwaltung verriet sich überall der Gegensatz von Ost und West. Gleichzeitig mit den Provinzen und den Regierungsbezirken war auch die altbewährte brandenburgische Kreiseinteilung mitsamt dem Landratsamte in die neuen Gebiete eingeführt worden, und im Jahre 1816 hatte der König den Kreisständen wieder gestattet, für die erledigten Landratsstellen drei Kandidaten aus den Grundbesitzern des Kreises vorzuschlagen. Nach dem Buchstaben des Gesetzes war der Landrat fortan nur noch ein Staatsbeamter, und Hardenberg erklärte ausdrücklich: wenn der Landrat aus den Kreiseingesessenen ernannt würde, so »liege dem keineswegs die Vorstellung von einem repräsentativen Verhältnis zugrunde, sondern nur die Idee, daß ein solcher mit seinem Grundeigentum für die Vermutung bürge, daß er kennen und befördern werde, was zum Wohl der Kreisinsassen gereicht«. Tatsächlich blieb der Landrat im Osten doch wie von alters her zugleich Organ der Regierung und Vertrauensmann seines Kreises. Die eigentümliche Doppelstellung, die dem Hauptamt der alten Provinzen seinen Charakter gab, ließ sich leider auf die westlichen Landesteile nicht kurzweg übertragen, hier war die Zahl der gebildeten Grundbesitzer so gering, daß man auch »andere geeignete Personen«, namentlich Offiziere, an die Spitze der Kreisverwaltung stellen mußte. Solche Beamtenlandräte konnten nicht viel mehr sein als Nachfolger der Napoleonischen Unterpräfekten. Einzelne von ihnen wurden zwar allmählich in dem neuen Neste warm: so der wackere Bärsch, der Genosse Schills, der in dem armen Eifelkreise Prüm ein strenges Regiment führte und bald durch seine Schriften über die Landeskunde der Eifel bewies, daß er in dem rauhen Gebirge besser Bescheid wußte als die Eingeborenen selber. Viele aber blieben ihrem Kreise fremd und betrachteten ihr Amt als einen Durchgangsposten zu höheren Stellen. Die radikale Zerstörung aller aristokratischen Kräfte führte hier wie in Frankreich zu einer rein bureaukratischen Verwaltung. Über die Kreisversammlungen war noch nichts bestimmt, seit der König das unglückliche Gendarmerie-Edikt außer Kraft gesetzt hatte; doch jedermann fühlte, daß die Kreisstände in dem bürgerlichen Westen eine andere Form erhalten mußten als in den aristokratischen alten Provinzen. (98–105.)


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