Heinrich von Treitschke
Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts – Erster Band
Heinrich von Treitschke

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Preußische Zustände nach Hardenbergs Tod

Trotz der allgemeinen Wehrpflicht, trotz der Städteordnung und der Provinzialstände blieb Preußen noch immer wesentlich ein Staat des Beamtentums. Ungeheuer war die Macht dieses politischen Standes; mit Einschluß der Offiziere, der Lehrer und der Geistlichen, die nach dem Landrechte noch zu den Beamten gerechnet wurden, umfaßte er nahezu alles, was die Nation an feinerer Bildung besaß, und ergänzte sich beständig durch den Zudrang frischer Kräfte aus allen Schichten der Gesellschaft. Durch das Beamtentum erfuhr die Krone, was im Volke vorging und das Volk, was Rechtens war; denn von dem öffentlichen Rechte des Landes, selbst von solchen Gesetzen, welche jeden unmittelbar angingen, besaß die Masse noch gar keine Kenntnis, sie befolgte, was die Behörden anordneten und beruhigte sich bei dem kindlichen Glauben, der auch selten getäuscht wurde, daß im königlichen Dienste alles mit rechten Dingen zugehe. Mit gutem Grunde sagte man in den Beamtenkreisen: in Preußen macht der Staatsdienst fast die Verfassung selber aus. Im Staatsdienst allein konnte der Ehrgeiz des politischen Talents seine Tatkraft erproben, sehr selten fand sich in den höheren Ständen ein guter Kopf, der nicht einmal auf längere oder kürzere Zeit ein Staatsamt bekleidet hätte. Durch Rechtschaffenheit, pflichttreue, gründliche Bildung übertraf der preußische Beamtenstand in dieser seiner klassischen Epoche jede andere regierende Klasse in Europa. Selber ohne wirtschaftliche Klassenselbstsucht, vermochte er, wie das Königtum, dem er diente, die Interessenkämpfe der bürgerlichen Gesellschaft gerecht und unbefangen zu betrachten. Aber er stand dem Leben zu fern, er gewann in der Stille seiner Amtsstuben nur selten ein vollständiges Bild von den Wünschen und Bedürfnissen des arbeitenden Volks, er vergeudete viel gute Kraft in formenseliger Papiertätigkeit und trug ein Selbstgefühl zur Schau, das den Deutschen draußen im Reich ein Greuel war. Wenn die steifen, sparsamen Berliner Geheimen Räte im Sommer nach Karlsbad oder Ems kamen, um sich von den Plagen des arbeitsreichen Winters zu erholen, dann ärgerte sich der gemütliche süddeutsche Badegast an dem scharf absprechenden Wesen der gestrengen Herren um so gründlicher, da er ihnen die geistige Überlegenheit selten bestreiten konnte. Der Stolz der Beamten stand niemals höher als in diesen Tagen, da ihr Staat in der großen Politik eine so bescheidene Rolle spielte, und vertrug sich sehr wohl mit dem altpreußischen Erbfehler der Tadelsucht.

Ganz unleidlich erklang das Selbstlob der Bureaukratie in der Schrift des Regierungsrats Wehnert über den Geist der preußischen Staatsorganisation. Mit dem unfehlbaren Dünkel eines Standes, »der wissenschaftliche Kultur und Erfahrung des Geschäftslebens« in sich vereinigte, sah der gescheite und wohlmeinende Beamte hernieder auf »die öde Pedanterie und die gewagte Spekulation einseitiger Gelehrten«. Er erklärte das Beamtentum für »die eigentliche ideelle Kraft des Volksgeistes« und versicherte herablassend: »der Widerstreit der Verfassungsformen, der heute die Welt erschüttert, geht an Preußen vorüber«; erst wenn die Provinzialstände in ihrem bescheidenen Wirkungskreise die nötige Reife erlangt hätten, wollte er dereinst einmal die Reichsstände berufen sehen. So wenig ahnte man in diesen Beamtenkreisen von der revolutionären Macht der konstitutionellen Ideen.

Ein mächtiger Bundesgenosse erstand der bureaukratischen Selbstgenügsamkeit in der Staatslehre der herrschenden Philosophenschule. Fast noch überschwenglicher als die Beamten selbst pries Hegel den Staat der Intelligenz. Er fand in dem preußischen Beamtentum das alte Ideal der Philosophen, die Herrschaft der Wissenden verwirklicht, und nach Schülerart des Meisters Gedanken übertreibend, erwies der Jurist Sietze in den tollen Dithyramben seiner »Preußischen Staats- und Rechtsgeschichte« (1829) geradezu die begriffsmäßige Vollkommenheit der preußischen Verfassung. Da war Preußen »eine Riesenharfe, ausgespannt im Garten Gottes, um den Weltchoral zu leiten«, das preußische Recht die Frucht des Selbstbewußtseins von Europa, die Verkörperung des göttlichen Wortes; zum Schluß die Weissagung: »Preußen wird alle Völker beherrschen, nicht durch Ketten, aber durch seinen Geist.« So wunderliche Verirrungen trieb das Stilleben dieses literarischen Zeitalters hervor: der rüstige Staat, der durch den Schrecken seiner siegreichen Waffen als Störenfried der alten Staatengesellschaft emporgekommen war, sollte als weltbürgerlicher Schulmeister seine Tage friedlich beschließen! Diese harmlose Ansicht von Preußens historischem Berufe, begann auch im Auslande bereits Anklang zu finden. Die liberalen Redner der französischen Kammer pflegten den preußischen Staat, obgleich er ihnen sonst kaum der Beachtung wert schien, als das Musterland ernster wissenschaftlicher Bildung zu feiern. Royer Collard gestand: »Ihr habt die Freiheit des Unterrichts, wir die Freiheit der Presse«, und V. Cousin, den die Torheit der Demagogenverfolger eine Zeitlang in Berlin festgehalten hatte, hielt nach der Heimkehr, der erlittenen Unbill hochherzig vergessend, begeisterte Vorträge über die Wunder der Hegelschen Philosophie und des preußischen Schulwesens.–

Die Preußen blickten mit Stolz auf ihren Staat und stimmten aus vollem Herzen ein, als Spontinis mächtige Hymne »Borussia« zuerst auf dem hallischen Musikfeste 1829 erklang. Und doch hatte diese Nation schon längst das Alter erreicht, das der Kämpfe eines freien öffentlichen Lebens bedarf, um seine Kultur gesund zu erhalten. Die gerühmte Bildung des Staates der Intelligenz zeigte der schwächlichen, krankhaften Züge genug. Welch einen seltsamen Anblick boten doch die Zustände der Hauptstadt mit ihrer Fülle edler geistiger Kräfte und ihrem abgeschmackten, kindisch unreifen Philistertum. Selbst nach deutschen Begriffen war Berlin, obwohl der Verkehr beständig wuchs, noch immer eine arme Stadt. Eine Spiegelscheibe in einem Fenster des königlichen Palastes, ein Geschenk des russischen Kaisers, war die einzige in der Residenz und wurde ebenso andächtig bewundert wie das neue Muschelgrottenzimmer in Fuchs' Konditorei Unter den Linden oder die überaus bescheidenen Gaslaternen, die seit 1826 in den Hauptstraßen leuchteten, von dem sozialen Unfrieden der Großstädte blieben diese fleißigen Hunderttausende noch ganz verschont; denn den rohen Soldatenpöbel der alten Zeit hatte die allgemeine Wehrpflicht hinausgefegt, und das Proletariat der Fabriken war erst im Werden.

Um die Kämpfe des Völkerlebens bekümmerte sich nur ein kleiner Kreis von Beamten und Gelehrten; der echte Berliner betrachtete den politischen Stumpfsinn geradezu als einen Vorzug seiner »intellektuellen Bildung« und spottete mit jener selbstgenügsamen Ironie, die an der Spree für geistreich galt, über die politische Leidenschaftlichkeit anderer Nationen. Die Zensoren hatten gute Tage, da die drei einzigen politischen Blätter miteinander um den preis saftloser Langweiligkeit wetteiferten; nur die »Staatszeitung« brachte zuweilen einmal einen gründlichen Artikel über die Elbschiffahrt oder die Klassensteuer aus der Feder eines Geheimen Rats. Der Besprechung preußischer Zustände ging das Leibblatt des Bürgers, die »Vossische« ebenso sorgsam aus dem Wege wie die etwas vornehmere »Spenersche Zeitung«. Als beim Einzuge der Braut des Kronprinzen an zwanzig Menschen im Gedränge umgekommen waren, wagte kein Berliner Blatt auch nur der Tatsache zu gedenken, denn wie leicht konnte sich die Polizeibehörde dadurch beleidigt fühlen. Nur die Lokalsatire, die überall im deutschen Stilleben blühte, und der Theaterklatsch erregten die Teilnahme der großstädtischen Leserwelt; und wie kläglich war selbst diese belletristische Plauderei in der Berliner Presse vertreten. Weder der Herausgeber des »Gesellschafters«, F. W. Gubitz, ein kreuzbraver Mann, der in einem langen Schriftstellerleben niemals einen einfachen, fehlerfreien deutschen Satz fertigbrachte, noch der schreibselige Ludwig Rellstab, der gefürchtete, aber gänzlich harmlose Feuilletonist der »Vossischen Zeitung«, konnte sich mit den Kritikern des Stuttgarter »Morgenblattes« irgend vergleichen.

Einige Jahre lang trieb auch Saphir in Berlin sein Wesen, ein ungarischer Jude ohne Geist, ohne Geschmack, sogar ohne die gewöhnlichsten Schulkenntnisse, aber von unverwüstlicher Frechheit, ein Meister in der Verfertigung jener faulen Wortwitze, welche nicht zufällig den Namen Kalauer erhalten haben, da der Märker allein unter allen Germanen sie genießbar findet. Mit Saphir zog die geschäftliche, allein auf Geldgewinn berechnete journalistische Betriebsamkeit, die in England und Frankreich längst heimisch war, zuerst in Berlin ein. In zwei Zeitschriften zugleich, dem »Kurier« und der »Schnellpost«, witzelte er über »Theater, Mode, Eleganz und Lokalität« der Hauptstadt, fast noch geistloser als unsere heutigen Witzblätter, und buhlte mit allen Mitteln der Marktschreier um die Gunst »seiner lieben, goldenen Pränumeranten«. Da er vor dem königlichen Hause und den Behörden in tiefster Untertänigkeit erstarb, so erlaubte ihm die Zensur nach Belieben gegen Dichter und Künstler, Sänger und Schauspieler seine Klopffechterkünste zu treiben. Das Publikum aber ließ sich von ihm alles bieten, sogar diese Verse: »Die Dichtkunst weibisch ist, das wißt ihr. Drum Poe-sie sie heißt, nicht Poe-er.« Er war der Held des Tages, das Bild des häßlichen Mannes mit der goldgelockten Perücke hing in allen Schaufenstern; eine reiche Literatur von Flugschriften bekämpfte oder vergötterte ihn, bis er sich endlich durch das Übermaß seiner Händelsucht doch unmöglich machte. Die Lust an lärmendem Streite, die jeder großstädtischen Bevölkerung im Blute liegt, konnte sich nur in solchem Gezänk entladen.

Im Theater drückte die Polizei ein Auge zu und ließ es geschehen, daß mißliebige Schauspieler auf der Bühne zu feierlicher Abbitte vor dem souveränen Volke genötigt wurden; Männer wie Callot Hoffmann trugen kein Bedenken, persönlich solche Volksgerichte zu leiten. Leidenschaftlich, als gälte es einen Kampf um die politische Macht, ergriffen die Berliner Partei für und wider, als das Königstädtische Theater eröffnet wurde. Begeisterte Romantiker hofften schon, Berlin werde nun endlich eine Volksbühne erhalten und die deutsche Kunst aus dem Vagabundentum der alten Komödiantenbuden frische Kraft erschöpfen. An Karl von Holtei, dem Improvisator auf dem Papier, wie Goethe ihn nannte, besaß die neue Bühne einen liebenswürdigen, leichtlebigen Poeten, der mit seiner munteren schlesischen Natürlichkeit auf die Berliner Überbildung wohltätig einwirken konnte. Aber die bureaukratische Leitung der Königlichen Schauspiele wollte sich nicht entschließen, die leichte Ware der Possen und Singspiele dem Volkstheater zu überlassen. So begann ein gehässiger Wettbewerb, der beide Bühnen herunterbrachte. Der Skandal ward vollständig, als die schönste aller deutschen Sängerinnen, Henriette Sontag, in der Königstadt die Bretter betrat. Die ganze Stadt geriet in Bewegung; die Neider und die Verehrer der schönen Henriette befehdeten einander in Zeitungsartikeln und Libellen, sogar in Prozessen vor dem Kammergerichte; Hegel selbst stieg aus dem reinen Äther der Idee hernieder, um seinen philosophischen Unwillen über die Schwänke der Königstadt kräftig zu bekunden, und die Buben auf den Gassen pfiffen ein neues Volkslied »Lott' ist tot«, das mit einem geistvollen Scherze über die Spitzenkleider der Demoiselle Sontag und ihren hoffnungslosen Anbeter, den englischen Gesandten Lord Clanwilliam, endigte.

Zugleich wogte auf der königlichen Bühne selbst ein unablässiger Kampf zwischen der Generalintendanz und dem Musikdirektor Spontini; Graf Brühl erlag schließlich dem ewigen Ärger, aber auch sein Nachfolger, der kunstsinnige junge Graf Redern, konnte trotz seiner höfischen Feinheit dem Streite mit dem herrschsüchtigen Italiener nicht ausweichen. Mehr als zwanzig Jahre lang behauptete sich der Musiker des Napoleonischen Zäsarenruhms in der Hauptstadt des Volkes, das den entscheidenden Schlag gegen den Bonapartismus geführt hatte, in einer Welt von Feinden, allein gehalten durch die Gunst des Königs und die Meisterschaft eines unbestreitbaren Talents, wenn der hohe hagere Mann, mit Edelsteinen und Spitzenmanschetten pomphaft angetan, die Blitze seiner schwarzen Augen über das Orchester gleiten ließ, dann empfanden alle, daß ein Zug napoleonischer Herrscherkraft in der brütenden Wildheit dieses leidenschaftlichen Gesichtes lag, und mit tadelloser Sicherheit folgte die Kapelle jeder Regung seines Taktstocks. Er fühlte sich stolz als letzter klassischer Vertreter jener alten Prachtoper der Romanen, deren große Zeit nun zu Ende ging. Brachte ihm ein junger Anfänger ein schwächliches Musikstück, dann führte er den Unglücklichen ans Fenster, zeigte hinüber nach der majestätischen Kuppel der Französischen Kirche und sagte erhaben: Mon ami, il vous faut des idées grandes comme cette coupole! Doch unmöglich konnte dieser stolze Fremdling einer Nation genügen, die sich in der Musik längst ihre eigenen Ideale geschaffen hatte. Mit patriotischer Entrüstung stürzte sich die Presse auf ihn, obgleich er unbedenklich Polizei und Zensur, zuweilen sogar ein Machtwort des Königs selber zu Hilfe rief. Die Jugend verlangte nach nationaler Kunst, sie wollte ihren Liebling C. M. von Weber auf dem Stuhle des Kapellmeisters sehen. Als der junge Felix Mendelssohn-Bartholdy in dem neuen schönen Saale, den der König der Singakademie geschenkt hatte, Bachs Matthäus-Passion aufführte, da hätte der Maestro wohl lernen können, daß diese weihevollen vaterländischen Klänge die deutschen Herzen doch ganz anders ergriffen als die Trommelwirbel seines Cortez; aber was kümmerten ihn diese nordischen Barbaren, deren Sprache er niemals recht lernte? –

Wie kleinlich erschien dies leichte Geplänkel neben den ernsten Kämpfen, welche das wissenschaftliche Leben Berlins bewegten. Die junge Universität war jetzt wirklich, wie W. Humboldt einst gehofft, die erste Deutschlands; sie hatte Fichte, Niebuhr, K. F. Eichhorn verloren, aber Bopp, Ritter, Ranke und viele andere glänzende junge Talente gewonnen; die schöpferischen Gedanken, welche in der Theologie, der Rechtswissenschaft und auf dem weiten Gebiete der historisch-philologischen Forschung neue Bahnen brachen, gingen großenteils von Berlin aus. Und nun schlug auch die Hegelsche Philosophie an der Spree ihr Lager auf, das letzte der großen philosophischen Systeme, welche wirklich gelebt und die Nation beherrscht haben. Im Bewußtsein eines welthistorischen Berufs hatte Hegel (1818) sein preußisches Amt angetreten: »Auf der Universität des Mittelpunktes muß auch der Mittelpunkt der Wissenschaft, die Philosophie, ihre Stelle finden.« Er widmete sich in Berlin ganz dem Katheder, und ungeheuer war die Wirkung seines lebendigen Wortes. Neben den Studenten saßen auch viele bedeutende Männer aus dem Beamtentum und dem Heere zu des Meisters Füßen und bewunderten die großartige Architektonik eines fest in sich geschlossenen, die ganze Welt umspannenden Gedankenbaues, der, so lange der Grundfehler seiner Anlage unentdeckt blieb, dem Selbstgefühl des denkenden Geistes die höchste mögliche Befriedigung gewährte. Die Philosophie war nicht mehr Liebe zum Wissen, sie wähnte die Weisheit selber zu sein und zog mit maßlosem Hochmut wider das bloß verständige Denken der gemeinen Sterblichen zu Felde; sie wollte in Schleiermachers religiösem Gefühle nur die Willkür des endlichen Subjekts, in den Forschungen der historischen Juristen nur die ideenlose Überschätzung der schlechten Wirklichkeit sehen. In den »Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik« gründeten sich die Hegelianer eine streitbare Parteizeitschrift, zur selben Zeit, da Hengstenberg die Orthodoxen um das Banner seiner »Kirchenzeitung« sammelte; und auch die häßlichen Ränke fehlten nicht, die sich in Deutschland mit jedem Gelehrtenstreit verschlingen. Dem redefertigsten seiner Schüler, dem Todfeinde Savignys, E. Gans, verschaffte Hegel durch die Gunst des Ministers einen Lehrstuhl in der juristischen Fakultät; ihm selber aber verweigerten seine Gegner, kleinlich genug, den gebührenden Platz in der Akademie der Wissenschaften. Zu allen diesen soweit auseinander strebenden Parteien der protestantischen Wissenschaft gesellte sich noch eine rührige kleine Kongregation, wie die Liberalen sie nannten: bei der liebenswürdigen Konvertitin Henriette Mendelssohn kamen Jarcke, Philipps und andere strenge Ultramontane zusammen, deren Einfluß am kronprinzlichen Hofe schon zuweilen fühlbar wurde.

Unterdessen fuhr der König fort, seine Hauptstadt zu schmücken, soweit die knappen Mittel langten; kein Jahr verging, wo er nicht – immer ganz in der Stille – ihre Sammlungen vermehrte oder einen Palast, ein Säulentor, ein Standbild stiftete. In dieser Zeit wurde Berlin allmählich eine schöne Stadt, anziehend auch für den Fremden. Die Bibliothek, die erst unter Humboldts Verwaltung ein festes Jahreseinkommen von 3500 Talern erhalten hatte, ward endlich reichlicher ausgestattet und durch außerordentliche Geschenke des Königs so weit gehoben, daß sie in die Reihe der großen Büchersammlungen eintrat; mit ihren älteren Schwestern in München oder Dresden konnte sie sich freilich noch immer nicht von fern vergleichen. Schinkel erlebte jetzt seine glücklichsten Tage. Seit ihm der große Wurf des Schauspielhauses gelungen war, gewann er etwas freiere Hand für seine kühnen Pläne, er erbaute die prächtige Schloßbrücke, ließ das versumpfte Bett des Flusses umgestalten, so daß der einzige ästhetische Reiz, den die karge Natur den Berlinern gewährt hat, der freie Blick über die Wasserflächen zu seinem Rechte kam; und aus dem Morastboden hinter dem Lustgarten erhob sich die festlich heitere Säulenhalle des Museums, ebenso wirksam in ihrer einfachen Schönheit wie die schwere Masse des Schlosses gegenüber.

Die innere Einrichtung des Museums leitete W. Humboldt, den der König neuerdings vielfach auszeichnete und zuweilen in seinem Tegel besuchte; als seine Gattin starb, suchte Friedrich Wilhelm den Tiefgebeugten durch diese würdige Beschäftigung zu trösten. Dankbar folgte Humboldt dem Rufe; seit jenem letzten Schicksalsschlage war aller Spott und alle Schärfe von ihm gewichen; verklärt von der milden Weisheit des Alters lebte er nur noch in der Welt der Ideen, und es tat ihm wohl, nachdem er einst dem wissenschaftlichen Leben seines Staates neue Wege gewiesen, nun auch noch an der ästhetischen Erziehung der Preußen mitzuhelfen. Denn darin war er mit Schinkel einig, daß die Kunstschätze des Museums nicht der gelehrten Forschung dienen, sondern zunächst der überkritischen hauptstädtischen Welt die harmlose Freude am Schönen erwecken sollten. Was Preußen in den drängenden Nöten seiner kriegerischen Geschichte hatte versäumen müssen, ließ sich freilich nicht mehr ganz nachholen; die Meisterwerke der Malerei waren fast allesamt längst in festen Händen, und Bunsen wurde wie ein Schoßkind des Glücks angestaunt, als er Raffaels Madonna Colonna, die er in Rom für den unerschwinglichen Preis von 1000 Louisdor erstanden, eigenhändig nach Berlin überbrachte. Immerhin war dies jüngste der großen europäischen Museen eine unschätzbare Bildungsstätte für unsern prosaischen Nordosten; vor der Hoheit des Geistes, die aus Schinkels mächtiger Rotunde sprach, verstummte selbst das Berliner Besserwissen. Auch Meister Rauch schritt vorwärts in kräftigem Schaffen, neidlos bewundert von seinem alten Lehrer Gottfried Schadow. Wieviel freier, einfacher, größer als einst jener erste Versuch Schadows in Rostock, war Rauchs neues Berliner Bücherdenkmal. Als das Standbild am Frühmorgen geräuschlos enthüllt wurde, standen nur drei Zuschauer auf dem weiten Platze: Gneisenau, Hegel und der Meister selbst. Preußens Heer, Wissenschaft und Kunst huldigten dem Helden des heiligen Völkerzornes. –

Trotz dieser Menge bedeutender Menschen fehlte der Hauptstadt noch gänzlich der beste Reiz des großstädtischen Lebens, die weitherzige, alle Gegensätze umfassende Geselligkeit. Friedrich Wilhelm verstand wohl die Talente der Kunst und Wissenschaft an der rechten Stelle zu verwenden; jedoch sie in regem geselligen Verkehr um sich zu versammeln, widersprach seinen anspruchslosen Gewohnheiten. Noch immer freilich boten der Hof und die Erlebnisse des königlichen Hauses den einzigen Gesprächsstoff, der allen Ständen gemein war; die Berliner lebten mit ihrem Monarchen, sie redeten gemütlich von »unserm Schwiegersohn« in Petersburg, von »unserer Alexandrine« in Schwerin und jubelten aus vollem Herzen, als ihr alter Herr nach seiner Genesung zum ersten Male wieder im Theater erschien. Von Zeit zu Zeit entschloß sich der König auch, der gesamten Berliner Gesellschaft ein Schauspiel königlicher Pracht zu geben, wobei Schinkel, Spontini und der Maler W. Hensel ihre ganze Kunst aufbieten mußten. Zwei dieser Feste, die beiden Märchenspiele »Lalla Rookh« und »Die weiße Rose«, erlangten einen europäischen Ruf, und das Fest der weißen Rose verdiente in der Tat durch den Pinsel des jungen Adolf Menzel verherrlicht zu werden, denn es war das letzte großartige und vom Zauber der Kunst durchleuchtete höfische Spiel der neuen Geschichte, der letzte Triumph der alten Romantik und der aristokratischen Gesellschaft der Restauration. In denselben Tagen, da die königlichen Prinzen in Potsdam, von Tausenden ehrwürdiger Zuschauer bewundert, in goldenem Aarhelm und schimmernder Rüstung Karussell ritten, um ihrer Schwester Charlotte, der weißen Rose, ritterlich zu huldigen, zog schon der Sturmvogel der Revolution, »Die Stumme von Portici«, über die Theater Europas und verkündete das Nahen eines demokratischen Zeitalters, das mit seinen Volksfesten und politischen Kämpfen den Glanz der Höfe ganz verdunkeln sollte.

Doch solche Tage, da der Hof aus seinem Stilleben heraustrat, erschienen nur selten. Auch anderer Stätten großstädtischer Geselligkeit besaß Berlin nur wenige. Fast allein in den reichen Häusern Mendelssohn und Meyerbeer, in den bescheidenen Salons Stägemanns und seiner liebenswürdigen Damen oder in der Gesetzlosen Gesellschaft, wo Schleiermacher und der biderbe Zwingherr Buttmann um die Wette die Funken ihres Witzes sprühen ließen, fanden geistreiche Menschen verschiedener Gesinnung noch einen neutralen Boden für ungezwungenen Verkehr. Sonst bestanden überall nur geschlossene kleine Parteien und Kränzchen; selbst der schöngeistige Kreis der Rahel Varnhagen trug schon die Färbung einer literarisch-politischen Parteigesinnung. In den langen Jahrhunderten deutscher Ohnmacht war aus dem alten Germanentrotz ein kleinlicher, neidischer Sondergeist aufgewuchert und den Deutschen zur andern Natur geworden; er trieb die Studenten in die Hahnenkämpfe ihres Verbindungslebens, er verdarb die städtische Geselligkeit durch ein unleidliches Cliquenwesen, und auch Deutschlands größte Stadt war ihm noch nicht entwachsen. Gelehrte und Schauspieler, Schriftsteller und Künstler saßen in ihren Fraktionen und Schulen eng zusammen, anmaßend, unduldsam gegen den Nichtgenossen, grenzenlos ungerecht gegen den Feind. In dieser zerklüfteten und zerrissenen Welt war weder das urbane Wohlwollen der großstädtischen Gesellschaft Italiens zu finden, noch jener durchgebildete Nationalstolz der Franzosen, der jedes große Talent als ein Stück vaterländischen Ruhmes hochhält. Vor Fremden prahlten die Berliner gern mit dem geistigen Glanze ihrer Stadt; daheim bestrebte sich jeder, schon damit man ihn nicht selber für einen Dummkopf hielte, alles Hervorragende herabzusetzen, alles ruppig zu machen, wie Rahel sich auf gut berlinisch ausdrückte. Darum blieb auch die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten unnatürlich weit. Der ehrsame Bürger, der abends unter den Zelten seine Weiße trank, wußte gar nichts von den Größen der Akademie und der Universität; war doch die herrschende Philosophenschule geflissentlich bemüht, durch eine unverständliche Kunstsprache ihre Weisheit allen Unzünftigen zu verschließen. –

Da kehrte im Jahre 1827 Alexander Humboldt nach Berlin zurück, um fortan nach dem Wunsche des Königs in freier Muße am heimischen Hofe zu leben. Es war ein Wendepunkt in der Geschichte unserer Bildung. Denn heilsamer konnte niemand auf das zerfahrene deutsche Leben einwirken als dieser universale Geist, der für jeden eine höfische Schmeichelei bereithielt, aber auch jede tüchtige Kraft mit großherzigem Wohlwollen und eindringendem Verständnis unterstützte. Verwöhnt durch die leichte Anmut der Pariser Salons wollte er sich in die Grobheit, in die dürftige Enge der Heimat lange nicht finden und seufzte noch nach Jahren: »Berlin, ik hev di dick en satt, du bist en blivst en Barenstadt.« Aber vom Tage seiner Heimkehr an war er eine soziale Macht. Er lenkte die Blicke des Königs auf alles Neue und Lebendige, was sich in Kunst und Wissenschaft regte. Er brachte die verwahrloste, durch den Übermut der Spekulation fast erdrückte Naturforschung zuerst wieder zu Ehren. Sobald er im Mendelssohnschen Garten, in seinem vielbewunderten eisenfreien Kupferhäuschen seine magnetischen Beobachtungen begann, scharte sich ein Kreis junger Talente – Encke, Dirichlet, Dove – um den Meister, Karl Ritter, der junge Baeyer und die andern Genossen der Neuen Geographischen Gesellschaft arbeiteten ihm in die Hände, auf allen Gebieten der exakten Forschung erwachte ein rühriger Wetteifer. Unvergeßlich war der Einbruch, als er gleich in seinem ersten Berliner Winter in der Singakademie die öffentlichen Vorlesungen über physische Weltbeschreibung hielt, aus denen nachher der »Kosmos« hervorging, und mit genialer Sicherheit, die Träumereien der Naturphilosophen fein und scharf zurückweisend, das Programm der rein empirischen Naturbeobachtung aufstellte, welche bald alle Lebensgewohnheiten des neuen Jahrhunderts von Grund aus umgestalten sollte. So kühn war die gelehrte Zunft in Deutschland noch niemals auf den Markt hinausgetreten, und nur einem Manne von Humboldts Weltruhm konnte dies Wagnis gelingen. Er zeigte den Deutschen zum ersten Male, daß die strenge Fachwissenschaft gemeinverständlich zu den Besten der Nation zu reden vermochte – zur selben Zeit, da Leopold Ranke mit seinem historischen Erstlingswerke den gleichen Versuch unternahm.

Auch die Stellung der Gelehrten in der Gesellschaft ward durch Humboldt gehoben – was in diesem Lande der höfisch-bureaukratischen Ranggliederung doch nicht unwichtig war. Schon im Jahre 1822 hatte Oken, der sich hier auf seinem eigensten Gebiete ungleich glücklicher bewährte als in der Politik, einen deutschen Naturforschertag nach Leipzig berufen; auf die erste Versammlung, der nur dreizehn Mitglieder beiwohnten, waren seitdem mehrere gefolgt, und als für den Herbst 1828 ein neuer Kongreß nach Berlin ausgeschrieben wurde, nahm ihn Humboldt unter den Mantel seines großen Namens. Der Wissenschaft brachten solche Wandervereine unmittelbar zwar nur wenig Vorteil – denn in der Forschung wie in der Kunst gehen alle schöpferischen Taten von einzelnen lichten Köpfen aus –, aber in einer Zeit, da das Reisen noch so sehr erschwert war, boten sie manchem tüchtigen Gelehrten, der in der weltfremden Abgeschiedenheit seiner kleinen Universität versauerte, die einzig mögliche Gelegenheit, aus der Kleinstädterei herauszuwachsen und mit Gleichstrebenden in einen anregenden Gedankenaustausch zu treten. Auch einen nationalen Zweck hatte Oken im Auge, als er diese Versammlungen nach dem Vorbilde der Schweizer ins Leben rief. Mochten einzelne der Teilnehmer im Bewußtsein der idealen Größe des Vaterlandes sich über das politische Elend behaglich trösten, den meisten wuchs doch der nationale Stolz und die Sehnsucht nach festerer Verbindung mit den Volksgenossen. Gleiche Empfindungen erweckte das damals zuerst in Stuttgart gefeierte, nachher oft wiederholte Schillerfest und die Säkularfeier zu Ehren Albrecht Dürers, die in vielen deutschen Städten mit Sang und Klang und begeisterten patriotischen Reden abgehalten wurde.

Noch glänzender verlief gleich darauf der Berliner Naturforschertag. An sechshundert Teilnehmer hatten sich eingefunden. Humboldt selbst machte den Wirt und sagte in seiner klassischen Eröffnungsrede: Deutschland offenbare sich hier gleichsam in seiner geistigen Einheit. Er zwang durch sein Beispiel den Hof und die amtliche Welt, auch ihrerseits den Gelehrten eine Achtung zu erweisen, die ihnen in Paris und London längst fraglos gewährt wurde. Wie staunten die Berliner, als bei dem großen Bankett die königlichen Prinzen sich unter die Professoren mischten und der Demagogenrichter Kamptz mit dem erschrecklichen Verschwörer Oken Arm in Arm zur Tafel schritt; der König selber freilich sah nur schüchtern aus seiner Loge auf das ungewohnte Treiben hernieder. Alles drängte sich huldigend um den Fürsten der Naturforschung; und wenngleich viel modische Eitelkeit mit unterlief bei allen den Adressen und Ehrengeschenken, die dem Gefeierten gespendet wurden: es blieb doch ein dauernder Gewinn, daß er der Wissenschaft das Bürgerrecht eroberte in der vornehmen Gesellschaft, daß die zanksüchtige Hauptstadt nun endlich eine anerkannte Größe besaß, die alle gelten ließen, zu der alle emporblickten. Erst durch Humboldt und die versöhnende Macht seines Genies wurde der gute Ton großstädtischer Duldsamkeit in dem zerfahrenen deutschen Leben heimisch.

Draußen im Reiche verlautete freilich von dem Glanze des Berliner geistigen Gebens und von den Verdiensten der preußischen Verwaltung weit weniger als von den albernen Sünden der Demagogenjagd, welche den Ruhm der hohenzollernschen Krone befleckten. Nirgendwo sonst in Deutschland wurde die politische Verfolgung so unerbittlich betrieben. Es lag im Wesen dieses starkknochigen Staates, daß hier alle deutschen Tugenden kraftvoll und mächtig, aber auch alle deutschen Sünden schlechthin ruchlos zutage traten. Fünf Jahre lang durfte eine Rotte von Verworfenen und Verblendeten das kleinliche Mißtrauen, das dem bureaukratischen Absolutismus überall anhaftet, für ihre unheimlichen Zwecke ausbeuten und, während sonst überall das Recht unverbrüchlich gehandhabt wurde, die Opfer ihrer Verdächtigung mit tyrannischer Willkür mißhandeln. Der Fanatiker der Angst, Geh. Rat Kampß, war die Seele dieses finsteren Treibens. Er leitete als Direktor der Polizei die Verhaftungen, er erstattete dem Staatskanzler im Sommer 1819 die ersten Anzeigen über die entdeckte große Verschwörung. Und sicherlich hat er nicht wissentlich verleumdet; aber unbefangen war er jetzt sowenig wie vor Jahren, als er gegen die Wartburgfeier zu Felde zog. Aus Jahns närrischen Goldsprüchlein, die ihm seine Späher zutrugen, meinte er herauszulesen, daß ein Mordanschlag gegen ihn selber im Werke gewesen sei, und mit der ganzen Roheit des persönlichen Hasses verfolgte er nun seine Feinde. Unter ihm wirkte eine polizeiliche Untersuchungskommission, der neben dem elenden Grano auch einer von Hardenbergs zweideutigen Vertrauten, der Lausitzer Tzschoppe, angehörte, ein knabenhaftes Männchen mit blonden Locken, rosigen Wangen und sanften blauen Augen, glatt und leise wie ein Wiesel, überall horchend, immer bereit, mit sauberen, wohlabgezirkelten Schriftzügen unsaubere Anzeigen in die Akten einzutragen.

Nach dem Buchstaben des bestehenden Rechtes ließ sich die Gesetzmäßigkeit des eingeschlagenen Verfahrens schwer bestreiten; denn unzweifelhaft stand dem absoluten Könige die Befugnis zu, in Zeiten der Gefahr außerordentliche Maßregeln zu ergreifen, und nur für den Fall, daß die Wahrscheinlichkeit eines begangenen Verbrechens vorlag, verlangte das Landrecht gerichtliche Untersuchung. Gleichwohl beantragte das Staatsministerium in mehreren Eingaben an den König und den Kanzler die sofortige Einsetzung einer Justizkommission. »Die öffentliche Meinung – dies gaben die Minister dem Monarchen zu erwägen (8. September) – hängt besonders in unsern Tagen vorzüglich von der Achtung für das Recht und seine schützenden Formen ab. Vertrauen aber wird durch nichts so sehr gefährdet, als wenn die Verwaltung zu außerordentlichen Maßregeln schreitet, die nachher nicht durch den Erfolg gerechtfertigt werden. Noch steht dieses Vertrauen fest im preußischen Staate, so fest, daß man – wie die Zeitungsberichte der Regierungen übereinstimmend sich aussprechen – kaum an die gefährlichen Umtriebe glaubt, sie wenigstens nicht fürchtet. Aber wohin könnte es führen, wenn man auf dem betretenen Wege erfolglos noch lange fortschreiten sollte?« Mit der äußersten Grobheit trat Kampß diesen Angriffen entgegen. »Auf dem betretenen Wege?« so fragte er höhnisch – »dem der Umtriebe oder dem der Untersuchungen? Ersterer könnte freilich sehr weit führen!« Da der Staatskanzler den Versicherungen des Polizeidirektors unbedingt traute, so sprach eine von Hardenberg eigenhändig entworfene Kabinettsorder den Ministern das Befremden des Königs aus, ermahnte zur Vorsicht in allen Äußerungen und erklärte sehr nachdrücklich: eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sei unzweifelhaft vorhanden.

Ebenso erfolglos blieben anfangs die wiederholten Anträge des Berliner Kammergerichts auf Einleitung gerichtlichen Verfahrens. Auch diesen Gegnern begegnete Kampß mit heftigen Schmähungen: Ob sie etwa die Rolle des französischen Parlaments spielen wollten? Auch sie erhielten einen Verweis vom Könige: Das Kammergericht verkenne seinen Standpunkt, wenn es jetzt noch seinen Antrag wiederhole, nachdem die Polizeibehörde amtlich versichert habe, die Untersuchung sei noch nicht reif für das Einschreiten der Gerichte. Nach solchen Erklärungen des Staatsoberhauptes durften die Behörden ihren Einspruch nicht mehr aufrechthalten. Selbst der greise Kircheisen, der Freund und Gesinnungsgenosse von Suarez, fügte sich. Er hatte einst den König, als er noch Kronprinz war, in freimütiger Anrede vor der Verwerflichkeit der Kabinettsjustiz gewarnt und sein Leben lang die Unabhängigkeit der Gerichte tapfer verteidigt; doch als er jetzt die massenhaften Polizeiberichte durchmusterte, die dem Ministerium auf königlichen Befehl mitgeteilt wurden, da glaubte auch er: der Staat befinde sich in einem Notstande, und der Monarch sei berechtigt, von den Machtbefugnissen seiner landesherrlichen Gewalt Gebrauch zu machen.

Indes hatten die so ungnädig aufgenommenen Mahnungen den König doch zum Nachdenken gebracht. Am 1. Oktober wurde die Kommission umgestaltet und förmlich mit den Befugnissen eines inquirierenden Kriminalgerichts ausgestattet; sie bestand fortan aus fünf Mitgliedern des Kammergerichts und zwei Verwaltungsbeamten. In dieser neuen Gestalt entsprach sie dem Gesetze, da der König noch das gefährliche Recht besaß, für besondere Fälle außerordentliche Gerichte einzusetzen. Zu den Richtern zählten der ehrwürdige Präsident von Trüßschler und Kammergerichtsrat Hoffmann, der romantische Humorist, dem der Gespensterspuk dieser Demagogenjagd so spaßhaft schauerlich vorkam, daß er sich nicht enthalten konnte, das Treiben, an dem er selber teilnahm, in einer Episode seiner Novelle »Meister Floh« zu verspotten. Die oberste Leitung der gesamten Untersuchungen übernahm eine Ministerialkommission: Hardenberg, Kircheisen, Schuckmann, Wittgenstein, Kampß, Oberpräsident Bülow. Gedeckt durch den Kanzler sowie durch seine alten Gönner Schuckmann und Wittgenstein, behielt Kampß also mit seinen Helfershelfern ziemlich freien Spielraum. Da von der Mainzer Bundeskommission wie von der Berliner Polizei beständig neue Anzeigen einliefen, so konnte er das geheime Verfahren durch unerwartete Kreuz- und Querfragen nach Belieben verlängern. Persönlich begegnete der unansehnliche kleine Mann manchem der Unglücklichen, die er in seinen Krallen hielt, mit überraschender Freundlichkeit; aber war das ein Trost für die Folterqual der endlosen Untersuchungshaft? In dem alten Schlosse Köpenick an der Spree, dicht neben dem berühmten Wappensaale, wo einst jenes tapfere Kriegsgericht das Leben des Kronprinzen Friedrich gegen seinen eigenen Vater verteidigt hatte, saßen jetzt die Demagogen hinter verblendeten Fenstern und blickten hinaus auf ein viereckiges Stück grauen Himmels; nur einige Stunden lang durften sie unter den Bäumen des Parks umhergehen oder im Flusse baden. Auch die Berliner Gefängnisse waren angefüllt mit Opfern der politischen Verfolgung, und das Studentenlied spottete: »wer die Wahrheit kennet und sagt sie frei, der kommt nach Berlin auf die Hausvogtei.«

Die große Mehrzahl der Beamten zog sich, nachdem der erste Schrecken verraucht war, von dem Unwesen der Demagogenverfolger angeekelt, zurück und betrachtete den kleinen um Kampß geschürten Häscherhaufen wie eine Pestbeule am Leibe ihres ehrenhaften Standes. Um den rheinischen Schwurgerichten die politischen Verbrechen zu entziehen, befahl der König (6. März 1821), daß für alle Vergehen wider die Sicherheit des Staates die Vorschriften des Allgemeinen Landrechts und der altländischen Kriminalordnung gelten sollten; diese Kabinettsorder erhielt rückwirkende Kraft, nur wurden die Richter angewiesen, bei der Strafabmessung für frühere Fälle stets das mildere Gesetz anzuwenden. Die Minister des Innern und der Polizei empfingen den Auftrag, über das Betragen der Lehrer Bericht zu erstatten, da die Umtriebe in der Verführung der Jugend ihre Wurzel hätten. Bei der Anstellung von Jugendlehrern und Geistlichen sollte fortan das Gutachten dieser beiden Minister eingeholt, gegen die Absetzung demagogischer Lehrer nur noch ein Rekurs an das Ministerium gestattet, jede geheime Studentenverbindung aber ohne weiteres vor die Strafgerichte verwiesen werden.

Wie lächerlich erschien neben diesem gewaltigen Rüstzeuge der Erfolg der Untersuchungen. Was mußten preußische Patrioten empfinden, wenn sie den Königsmörder Carnot, der in Frankreich unmöglich war, unter dem Schutze der preußischen Krone frei in Magdeburg leben sahen und damit verglichen, wie der königstreue Jahn jahrelang gepeinigt wurde. Vergeblich beteuerte der Turnvater: »Eigene Ansichten mögen meine Aufsätze leicht enthalten, aber keine umkehrerischen Absichten. Von geheimen Umtrieben bin ich weder Mitwisser noch gar Mittreiber.« Vergeblich beantragte Kammergerichtsrat Hoffmann schon nach einigen Monaten die Freilassung des offenbar Unschuldigen. Man gestattete ihm nur, auf der Festung Kolberg in leichter Stadthaft zu leben; dort mußte er noch bis zum Jahre 1825 aushalten, da ward er endlich gerichtlich freigesprochen und erhielt vom Könige ein Gnadengehalt, aber auch den Befehl, seinen Wohnort nicht am Sitze einer Universität oder eines Gymnasiums zu wählen. Ein verschollener Mann, lebte er fortan in seinem Weinbergshäuschen zu Freiburg an der Unstrut still dahin. Wenn zuweilen noch die Burschen von den sächsischen Universitäten auf ihren Ferienreisen bei ihm einkehrten, so bemerkten sie mit Befremden, daß der Alte im Bart dem Teutonentum seiner glücklichen Jahre unwandelbar treu geblieben war und von dem Welschheitsteufel des neuen Radikalismus nichts hören wollte.

Nach Bonn wurde als Untersuchungskommissär ein ebenso unwissender als kleinlicher Richter, des Namens Pape, gesendet, und zu seiner Unterstützung der Referendar Dambach, ein herzloser Aktenmensch, der nachher die Leitung der Berliner Hausvogtei erhielt und neben Tzschoppe jahrelang Kampß' gefügigstes Werkzeug blieb. Was wußten diese beiden Leute aus den Heften und Notizen C. Th. Welckers nicht alles herauszulesen! Trotz der unvorsichtigen Heftigkeit des Angeklagten war ihm schließlich gar nichts nachzuweisen; das als Kriminaluntersuchung begonnene Verfahren wurde als polizeiliche Untersuchung in der Stille eingestellt. Welcker erhielt, als er einem Rufe nach Freiburg folgte, seine Entlassung aus dem königlichen Dienst in schmeichelhaften Worten, doch da ihm gerichtliche Freisprechung versagt blieb, so überschüttete er durch eine fast dreißig Bogen lange »Öffentliche aktenmäßige Widerlegung« die preußische Willkür mit einem Sturzbade sittlicher Entrüstung.

Ganz anders wußte Arndt die Herzen der Leser zu erschüttern durch die schlichte treuherzige Sprache seiner kurzen Verteidigungsschrift: »Ein abgenötigtes Wort aus seiner Sache.« Wohin war es doch mit der preußischen Gerechtigkeit gekommen, wenn dieser Treueste der Treuen sich jetzt genötigt sah, seine Briefschaften im Keller und unter den Dielen seiner Zimmer zu vergraben! Schon bevor die Demagogenverfolgung begann, hatte er mit dem unbegreiflichen Mißtrauen der Behörden zu kämpfen gehabt und dem Kuratorium auseinandersetzen müssen, der Titel seiner öffentlichen Vorlesung »Über Leben und Studium« sei wirklich ganz harmlos gemeint. Und dann die aberwitzigen Verhöre vor Pape und Dambach! Alle die wunderlichen Wortbildungen und Wortverschränkungen, mit denen Arndt sorglos zu spielen liebte, wurden ihm jetzt als verdächtig vorgehalten. Was bedeuteten die »papierlichen Künste und Pläne«, die er nach einem seiner Briefe noch vorhatte? Was besagte der rätselhafte Satz: »Das liegt über meiner Sphäre –«? war das Lied »O Durchbrecher aller Bande« ein demagogisches Gedicht oder stand es wirklich im alten Berliner Gesangbuch? Mit besonderem Argwohn ward ein Blatt durchspürt, das neben andern abgerissenen Sätzen auch die Worte enthielt: »Wenn ein Prediger erschossen ist, hat die Sache ein Ende.« Es war eine Abschrift jener Bemerkungen, welche der König im Jahre 1811 an den Rand der Denkschrift Gneisenaus über den Volkskrieg geschrieben hatte. Welche Mühe, bis der Untersuchungsrichter endlich seinen lächerlichen Irrtum einsah. Kamptz unterstand sich noch fünfundzwanzig Jahre später, öffentlich dreistweg abzuleugnen, daß Arndt in der Tat wegen der eigenen Worte des Monarchen zur Rede gestellt worden war.

Drei Jahre nach der ersten Haussuchung, anderthalb Jahre nach Beginn der förmlichen Untersuchung wurde das Verfahren plötzlich eingestellt. Eine gerichtliche Freisprechung konnte Arndt sowenig wie Welcker erlangen. Erst im Jahre 1827 erhielt er die Mitteilung, daß die Untersuchung nichts ergeben habe. Sein Amt und seinen Wohnsitz konnte er behalten, da Stein, Niebuhr und Eichhorn sich freimütig für ihn verwendeten, aber seine Vorlesungen durfte er nicht wieder eröffnen. Und bei alledem blieb der Tapfere unverbittert. Seine kindliche Frömmigkeit brachte es über sich, selbst die schmähliche Unbill dieser Jahre als ein Verhängnis des ausgleichenden und gerechten Gottes hinzunehmen; wollte ihn einmal der Groll übermannen, dann rief er sich zu:

Und hast doch oft den Himmel offen
Und Gott die Finger recken sehn!

Von seinem Preußen wollte er nicht lassen, »weil es mein Vaterland und noch immer meine Hoffnung ist«. Und doch gestand er, daß er die langsame Zerreibung und Zermürbung seiner besten Kräfte bis ins Mark hinein nur zu tief gefühlt habe. Die Publizistik war ihm verleidet und so gut wie verboten; zu wissenschaftlicher Arbeit fühlte er sich wenig aufgelegt, da ihm der Stachel der Lehrtätigkeit fehlte; so verlebte er schöne Jahre »in einer Art von nebelndem und spielendem Traume unter Kindern, Bäumen und Blumen«. Die deutsche Jugend aber verlor durch die Torheit der Demagogenjagd einen Lehrer, der wie kein anderer den hereinbrechenden Verirrungen revolutionären Weltbürgertums sich entgegenstemmen konnte.

Arndts Schicksal erbitterte vornehmlich die Norddeutschen; am Rhein galt Görres für den Märtyrer der Freiheit. Der wiederholte aus seinem Exile noch mehrmals, immer vergeblich, seine alte Forderung, daß man ihn vor ein rheinisches Schwurgericht stellen solle, und rächte sich sodann durch die Flugschrift »In Sachen der Rheinprovinzen und in eigener Angelegenheit«, ein leidenschaftliches Pamphlet, das dem Ansehen Preußens am Rhein schwere Wunden schlug. Mit demagogischer Meisterschaft setzte er hier alle Hebel des rheinischen Partikularismus in Bewegung: den Haß der Katholiken wider den protestantischen Übermut und die Abneigung des Bürgertums gegen das Heer; »in der freien Schweiz«, sagte er mit einer Redewendung, die in seinen Schriften fortan immer wiederkehrte, »begegnet man nirgends jenen Scharen stehender Müßiggänger, die im Frieden den Wohlstand des Volkes fressen, damit sie ihn im Kriege nicht zu verteidigen haben.« Der Unbill, die ihm selber widerfahren, gab er eine Färbung, als ob er bloß um des rheinisch-französischen Rechtes willen gelitten hätte, und schloß drohend: »Nun, wie es auch kommen möge, muß ihm sein Recht werden, sobald der Provinz das ihrige geworden.«

Sonst hatten nur noch wenige angesehene Männer unter der Demagogenverfolgung zu leiden. Dem wackeren Reimer war schlechterdings nichts anzuhaben, trotz der sorgsamen Durchstöberung aller seiner Papiere. Von den Breslauer Turngenossen kam Passow mit wenigen Wochen leichter Haft davon, da ihm nichts anderes zur Last fiel, als ein paar starke Worte in seinem »Turnziel«; Karl von Raumer ließ sich, um den schlesischen Händeln zu entrinnen, selber nach Halle versetzen, sein Freund Harnisch blieb, nachdem er einige unangenehme Amtsschreiben empfangen, unbelästigt am Lehrerseminar. Die verhafteten Studenten aber hielten fast alle treu zusammen. Man fand bei dem jungen Philosophen von Hennig eine Landkarte von Deutschland, welche dem preußischen Staate schon ungefähr die Grenzen vom Jahre 1866 bestimmte, und entdeckte auch den radikalen Reichsverfassungsplan der Unbedingten. Manche der aufgefangenen Briefe verkündeten die fanatischen Lehren Karl Follens: daß jeder Staat, der in seiner Freiheit bedrängt sei, sich im Zustande berechtigter Revolution befinde, daß dann der Krieg der Individuen beginne und jeder Bürger die Volksverräter zu strafen berechtigt sei, wenn der Staat sie nicht bestrafe. Noch häufiger fanden sich allerhand drohende Redensarten über den nahen Tag der Tat, der Rache. Doch wer mochte herausfinden, wo hier die jugendliche Prahlerei aufhörte und der erste Vorsatz begann? Selbst die Demagogenrichter mußten sich sagen, daß der Weg von der Feder zum Dolche in Deutschland nicht kurz ist. Von den nächsten Freunden der beiden Mörder hatten sich einige bereits ins Ausland geflüchtet, die andern schwiegen unverbrüchlich. Dann entfloh auch Mühlenfels, der, sicherlich mit Unrecht, für besonders gefährlich galt, weil seine Briefe von burschikosen Kraftworten überflossen; er entkam auf einem Fischerboote nach Schweden und konnte erst nach vielen Jahren die Verzeihung des Königs erlangen. –

Die große Untersuchung drohte schon im Sande zu verlaufen; da ward im Jahre 1823, zu Kampß' Genugtuung, ein neuer Geheimbund entdeckt, der einer Verschwörung mindestens ähnlich sah. Wie war es auch möglich, daß die Karlsbader Beschlüsse bei deutschen Studenten unbedingten Gehorsam hätten finden sollen? Die Burschenschaft hatte sich überall aufgelöst, die Breslauer unter feierlichem Absingen des Liedes »Unsern Bund trennt nur der Tod«; doch überall scharte sie sich sogleich von neuem zusammen, hier unter dem alten Namen, dort als Allgemeinheit oder in der Form verbündeter Kränzchen. In Jena und Halle war sie bald wieder stärker als alle andern Verbindungen insgesamt; auf manchen Universitäten gewann sie erst durch den Reiz des Verbotes größeren Anhang, und nicht lange, so wurden die verbotenen Farben in Leipzig schon wieder auf offener Straße getragen. Entsittlichend wirkte der Gewissenszwang, den die Regierungen in ihrer törichten Angst den jungen Leuten auferlegten. Da jeder Student jetzt auf Ehrenwort geloben mußte, keiner geheimen Verbindung beizutreten, so beschwichtigten die einen ihr Gewissen mit dem Troste, die Burschenschaft sei nicht geheim; andere beschlossen, jeder Bursche solle in dem Augenblicke, da er vor Gericht gerufen wurde, stillschweigend aus der Verbindung austreten. Die Verwegensten aber behaupteten frischweg: Durch den Bruch unseres Ehrenwortes haben wir der Obrigkeit bereits den Krieg erklärt, folglich sind wir auch zu andern ungesetzlichen Schritten berechtigt.

Die alte Burschenschaft war von Haus aus zu groß, um eine bestimmte Gesinnung einzuhalten; jetzt traten die verschiedenen Parteien, die sich einst in ihr zusammengefunden, allmählich auseinander. Die Christlichgesinnten kehrten der Politik den Rücken und begnügten sich mit fröhlicher Geselligkeit oder mit akademischen Reformbestrebungen. Diesen Arminen, wie sie späterhin genannt wurden, stand die politische Germania gegenüber. Wer jetzt noch, inmitten der allgemeinen Abspannung, an politische Ideale glaubte, verfiel leicht dem Radikalismus, und der erbitternde Druck der polizeilichen Verfolgung, die aufregenden Nachrichten aus Südeuropa konnten diese Stimmung nur verschärfen. Auch die Germanen bestanden in ihrer großen Mehrzahl aus harmlosen jungen Schwärmern, die in einem Atem ihr angestammtes Fürstenhaus und den Kaiser im Kyffhäuser priesen. Die alte Kaisertreue unseres Volkes kam eben jetzt durch Rückerts Barbarossalied und nachher durch Raumers Hohenstaufengeschichte wieder in Schwang; Hunderte begeisterter Jünglinge wiederholten die Weissagung des Dichters:

Er hat hinabgenommen
Des Reiches Herrlichkeit
Und wird einst wiederkommen
Mit ihr zu seiner Zeit!

Aber daneben stieg schon ein modernes Geschlecht empor, das vom christlichen Mittelalter nichts mehr hören wollte und sich das einige Deutschland nur als ein Glied in dem großen Völkerbunde des befreiten Europas vorstellte. Im Burschenhause zu Jena führte Arnold Ruge das große Wort, ein derber, gemütlicher Pommer voll trockenen Humors und frischer Lebenslust, viel zu gutherzig, um ohne Not eine Fliege totzuschlagen, und trotz alledem ein Apostel des allgemeinen Umsturzes in Staat und Kirche. Sein Ideal war »die Anarchie oder Selbstbeherrschung«, die er im alten Athen zu finden glaubte; nachher hatten nach langen Jahrhunderten der Zwingherrschaft erst die Republiken der Niederländer und der Amerikaner wieder einiges Heil in die Welt gebracht, bis dann endlich der lichte Tag der großen Revolution emporgestiegen war und eine neue Blüte der Menschheit in den Heldenkämpfen des Konvents sich entfaltet hatte. Solche Ansichten, die in den Tagen des Wartburgfestes noch einen Sturm des Unwillens erregt hätten, fanden jetzt schon eine gläubige Gemeinde. Unfähig, wie er sein Leben lang blieb, Traumleben und Wirklichkeit zu unterscheiden, baute Ruge fest auf die radikale Entschlossenheit seiner Genossen und bezweifelte niemals die unermeßliche Überlegenheit »dieser ruhigen republikanischen Staatsmänner« gegenüber der verrotteten monarchischen Philisterwelt. »Von dem richtigen Verständnis dieser Frage hängt die Zukunft Europas, insbesondere unseres noch nicht republikanischen Volkes ab« – so klang es dröhnend durch den Saal, da die jungen Weltverbesserer über die Frage »des freien Schlägers« berieten und als rauflustige Philosophen zu dem echt germanischen Entschlusse gelangten, die mittelalterliche Barbarei des Duells in Anbetracht der Vorurteile des Zeitalters vorläufig noch nicht aufzugeben.

Wo diese radikale Richtung obenauf kam, da begann sich der Ton bald merklich zu ändern. Vom Christentum war gar keine Rede mehr; aus den alten Wahlsprüchen »Frisch, frei, fröhlich, fromm« und »Gott, Freiheit, Ehre, Vaterland« wurden die Frömmigkeit und der liebe Gott stillschweigend weggelassen, hier und da schon förmlich gestrichen. Wie erschrak Wolfgang Menzel, als er einige Jahre nach den Karlsbader Beschlüssen aus der Schweiz heimkehrte und von der christlich-germanischen Schwärmerei seiner Burschenzeit keine Spur mehr übrig fand. In Halle bemühte sich Karl von Raumer, der treue Freund der alten Burschenschaft, vergeblich, den radikalen Verführern der Jugend zu wehren. Die Burschen hörten nicht mehr auf ihren frommen Lehrer. Wie durfte man von ihnen Mäßigung erwarten, wenn der Unverstand der Behörden das altgewohnte akademische Genossenschaftsleben völlig zu vernichten suchte und den Studenten nicht einmal die Einsetzung eines akademischen Ausschusses gestatten wollte? Lächerlich grell trat der Gegensatz des alten und des neuen Geschlechts an den Tag, als Arnold Ruge eine Zeitlang mit Jahn zusammen in Kolberg auf der Festung saß, der pantheistische Republikaner mit dem strenggläubigen, preußischen Monarchisten. Keiner von beiden verhehlte, daß er den andern für einen ausgemachten Narren ansah, Kampß aber hielt beide für gleich ruchlose Hochverräter. Für die Zukunft des deutschen Parteilebens wurde die radikale Verbitterung des jungen Geschlechts unheilvoll, für die öffentliche Sicherheit stand im Augenblicke nichts zu fürchten. Wie scharf durchschaute Arndt die deutsche Jugend, als er ihr zurief:

Schlecht gerät dir List und Kunst,
Feinheit wird dir eitel Dunst.

In den Künsten der Verschwörung hatten sich die offenherzigen Germanen niemals mit den Welschen messen können. Nun gar dies unbedachtsame junge Volk gab sich überall Blößen; die tiefgeheimen allgemeinen deutschen Burschentage, welche in diesen Jahren in Dresden, auf dem Kyffhäuser und an andern Orten gehalten wurden, kamen sämtlich früher oder später zur Kenntnis der Polizei. (423 bis 442.)


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