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26.

Sie passierten den Flur und den Korridor, dessen scheußliche Luft ihnen Übelkeit verursachte. Von einem Aufseher begleitet, traten Nechljudow, der Engländer und der Inspektor in die erste Zelle der zu Zwangsarbeit Verurteilten. In der Zelle, deren mittlerer Raum von den Pritschen eingenommen war, hatten die Gefangenen sich bereits niedergelegt. Es lagen gegen siebzig Mann in der Zelle. Sie lagen Kopf an Kopf und Seite an Seite. Beim Eintreten der Besucher sprangen alle mit den Ketten rasselnd auf und stellten sich neben die Pritschen, wobei ihre zur Hälfte rasierten Schädel seltsam blinkten. Zwei von ihnen blieben liegen. Der eine war ein junger Mann, der, offenbar vom Fieber, im Gesicht ganz rot war; der andere war ein Greis, der ununterbrochen stöhnte.

Der Engländer fragte, wie lange der junge Arrestant schon krank sei. Der Inspektor sagte, seit diesem Morgen, der Alte dagegen leide schon lange am Unterleib, doch könne man ihn nicht wegbringen, da das Lazarett längst überfüllt sei. Der Engländer schüttelte mißbilligend den Kopf, sagte, daß er diesen Leuten einige Worte sagen möchte, und bat Nechljudow, zu übersetzen, was er sagen würde. Es stellte sich heraus, daß der Engländer neben dem einen Zweck seiner Reise – der Schilderung des Verschickungswesens und der Gefängnisse Sibiriens – noch ein anderes Ziel verfolgte, nämlich die Verkündigung der Rettung durch den Glauben und die Erlösung.

»Sagen Sie ihnen, daß Christus Mitleid mit ihnen hatte und sie liebte,« sagte er, »und daß er für sie gestorben ist. Wenn sie daran glauben, werden sie erlöst werden.« Während er sprach, standen alle Arrestanten schweigend, in militärischer Haltung, vor den Pritschen. »In diesem Buche steht das alles geschrieben, sagen Sie ihnen das,« schloß er. »Sind unter ihnen solche, die lesen können?« Es ergab sich, daß mehr als zwanzig der Gefangenen lesen und schreiben konnten.

Der Engländer nahm aus einer Handtasche einige gebundene Exemplare des Neuen Testaments, und die muskulösen Arme mit den großen schwarzen Nägeln streckten sich ihm, einander stoßend und behindernd, aus den Hanfärmeln entgegen. Er verschenkte in dieser Zelle zwei Evangelien und begab sich in die folgende Zelle.

In dieser spielte sich dieselbe Szene ab. Dieselbe Schwüle, derselbe abscheuliche Geruch herrschte darin; ganz so wie dort hing auch hier zwischen den Fenstern das Heiligenbild, während links vor der Tür der Schmutzkübel stand. Ebenso lagen hier die Gefangenen Seite an Seite dicht gedrängt auf den Pritschen, ebenso sprangen sie auf und richteten sich kerzengerade in die Höhe, und ebenso wie dort blieben auch hier etliche – diesmal waren ihrer drei – auf den Pritschen liegen. Zwei davon richteten sich im Sitzen auf, während der dritte ganz liegen blieb und die Eintretenden nicht einmal ansah. Alle drei waren krank. Der Engländer hielt die gleiche Rede wie vorher und verteilte zwei Evangelien.

In der dritten Kammer hörte man lautes Schreien und Lärmen. Der Inspektor klopfte gegen die Tür und rief: »Ruhig da!« Als die Tür geöffnet wurde, standen wieder alle stramm neben den Pritschen, außer einigen Kranken und zwei sich Prügelnden, die mit wutverzerrten Gesichtern einander an Bart und Haaren zerrten. Erst als der Inspektor ganz nahe an sie heranging, ließen sie voneinander ab. Die Nase des einen war blutig geschlagen, er wischte sich mit dem Ärmel seines Rockes das triefende Gesicht ab, während der andere das ausgerissene Haar aus seinem Barte zog.

»Wo ist denn der Älteste?« fragte der Inspektor streng.

Ein stattlicher, kräftiger Gefangener trat vor.

»Es war nicht möglich, sie zu bändigen, Ew. Gnaden,« sagte der Älteste, dessen Augen munter lächelten.

»Ich werde sie schon bändigen,« sagte der Inspektor finster.

»Warum haben sie sich geprügelt?« fragte der Engländer.

Nechljudow fragte den Ältesten, weshalb der Streit stattgefunden habe.

»Wegen eines Fußlappens, den der eine sich aus Versehen angeeignet hatte,« sagte der Älteste und fuhr fort zu lächeln. »Der andere stieß ihn, und der Gestoßene zahlte ihm doppelt und dreifach heim.«

Nechljudow übersetzte dem Engländer die Antwort.

»Ich möchte ihnen einige Worte sagen,« sprach der Engländer, zum Inspektor gewandt, und Nechljudow übersetzte die Worte.

»Bitte,« sagte der Inspektor.

Der Engländer nahm sein eigenes, in Leder gebundenes Testament heraus.

»Bitte, übersetzen Sie ihnen, was ich sage,« wandte er sich an Nechljudow. »Ihr habt euch gezankt und geprügelt,« fuhr er fort – »Christus aber, der für uns gestorben ist, hat uns ein anderes Mittel gegeben, unsere Streitigkeiten zum Austrag zu bringen. Fragen Sie sie, ob sie wissen, wie wir nach Christi Gebot mit einem Menschen verfahren sollen, der uns beleidigt?«

Nechljudow übersetzte die Worte und die Frage des Engländers.

»Der Obrigkeit Anzeige erstatten, damit sie den Streit schlichte?« bemerkte einer der Gefangenen in fragendem Tone, als sei er seiner Sache nicht ganz sicher, während er zugleich zum Inspektor hinüberschielte.

»Ihm eins auf den Schädel geben, daß ihm die Lust vergeht, noch einmal anzufangen?« sagte ein zweiter.

Einige lachten beifällig. Nechljudow übersetzte dem Engländer ihre Antworten.

»Sagen Sie ihnen, daß man nach Christi Gebot gerade das Gegenteil davon tun muß: schlägt dich jemand auf die eine Backe, dann reiche ihm auch die andere hin,« sagte der Engländer, seine Worte durch entsprechende Bewegungen der Backen veranschaulichend.

Nechljudow übersetzte.

»Er soll's doch einmal probieren,« ließ eine Stimme sich vernehmen.

»Und wenn er mir auch auf die andere Backe eine klebt, was soll ich ihm dann hinhalten?« sagte einer der Kranken, die auf der Pritsche lagen. »Schließlich klopft er dich so lange, bis du windelweich bist.«

»Es käme immer auf 'ne Probe an,« sagte jemand aus den hinteren Reihen und lachte vergnügt. Ein allgemeines, unwiderstehliches Gelächter bemächtigte sich der ganzen Zelle; selbst der soeben Geprügelte lachte über das ganze blutbesudelte Gesicht. Auch die Kranken lachten.

Der Engländer ließ sich nicht verblüffen und bat, ihnen zu sagen, daß das, was ihnen unmöglich scheine, doch möglich und ausführbar sei, wenn der Mensch glaube.

»Fragen Sie sie auch, ob sie trinken,« fügte er hinzu.

»Na, und ob!« rief einer, worauf die andern wieder in lautes Lachen ausbrachen.

An Kranken waren in dieser Zelle vier vorhanden. Auf die Frage des Engländers, warum die Kranken nicht in eine Zelle zusammengelegt würden, antwortete der Inspektor, daß die Kranken selbst das nicht wünschten. Übrigens litten diese Kranken an keiner ansteckenden Krankheit, und der Feldscher habe sie in Behandlung und leiste ihnen Hilfe.

»Eine schöne Hilfe – schon die zweite Woche läßt er sich nicht sehen!« sagte eine Stimme. Der Inspektor antwortete nicht und führte die Besucher in die nächste Zelle. Wieder öffnete man die Tür, wieder standen alle auf und schwiegen still, und wieder verteilte der Engländer die Evangelien. Dasselbe geschah auch in der fünften und sechsten Zelle, zur Rechten wie zur Linken, hüben wie drüben.

Von den zu Zwangsarbeit Verurteilten ging es zu den von Gerichtswegen Verschickten, von diesen zu den von Gemeinde wegen Verschickten und von diesen wiederum zu den freiwillig Mitgehenden. Überall war das gleiche zu sehen: überall wurden dieselben frierenden, hungernden, untätigen, von Krankheiten angesteckten, entehrten, eingeschlossenen Menschen gleich wilden Tieren gezeigt.

Der Engländer hatte die Evangelien, die er mitgenommen, bereits verteilt, und er hatte nun nichts mehr zu verteilen und hielt auch keine Reden mehr. Das grausige Schauspiel, vor allem aber die stickige, verpestete Luft hatten offenbar auch seine Energie gebrochen, und er fand, während er durch die weiteren Zellen schritt, auf den Bericht des Inspektors über die einzelnen Kategorien der Gefangenen nur immer die eine Antwort: »Allright! Allright!« Nechljudow ging wie im Traume mit – er hatte nicht die Kraft, sich loszumachen und fortzugehen. Und immer noch war er so müde, so müde.


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