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23.

»Na, wo sind Sie also abgestiegen? Bei Djukow? Dort ist's nicht gut. Kommen Sie doch zu uns zum Mittagessen,« sagte der General, als er Nechljudow entließ. »Um fünf Uhr. Sprechen Sie Englisch?«

»Ja.«

»Das ist ja schön. Wir haben hier einen englischen Reisenden, sehen Sie, der das Verbannungswesen und die Gefängnisse Sibiriens studiert. Er ist heute bei uns zu Tisch, kommen Sie doch auch her. Wir essen, wie gesagt, um fünf, meine Frau hält auf Pünktlichkeit. Ich werde Ihnen dann auch Bescheid geben, was betreffs dieser Frau sowie des Kranken zu geschehen hat. Vielleicht wird es sich doch machen lassen, daß jemand bei ihm bleibt.«

Nechljudow verabschiedete sich von dem General und begab sich sogleich nach dem Postamt – er war in einer ganz besonders angeregten, unternehmungslustigen Stimmung.

Das Postamt bestand aus einem gewölbten, niedrigen Raume; hinter dem Pulte saßen die Beamten und gaben die eingelaufenen Briefe aus. Einer der Beamten klopfte, den Kopf zur Seite geneigt, ununterbrochen mit dem Stempel auf die Kuverts, die er rasch und flink unter den Stempel schob. Nechljudow nannte seinen Namen. Er brauchte auf seine Post nicht lange zu warten – man übergab ihm die für ihn eingegangene, ziemlich umfangreiche Korrespondenz. Es waren Geldsendungen darunter, und einige Briefe und Bücher, und die letzte Nummer der »Vaterländischen Annalen«. Nechljudow nahm die Sachen und begab sich damit nach einer hölzernen Bank, auf der ein Soldat mit einem kleinen Buche saß, der auf irgendetwas wartete. Er setzte sich neben den Soldaten und begann die ihm eingehändigten Briefe durchzusehen. Es befand sich darunter ein eingeschriebener Brief in einem schönen Kuvert, mit einem scharfgeprägten Siegel aus grellrotem Brieflack. Er öffnete das Kuvert und sah, daß es neben einem Briefe seines ehemaligen Studienfreundes Selenin irgendein offizielles Schriftstück enthielt. Er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg und das Herz stärker schlug: das war die Entscheidung in Sachen Katjuschas! Wie lautete sie? War es eine Ablehnung? Nechljudow durchflog hastig den Begleitbrief, der in einer winzig kleinen, schwer zu entziffernden, harten, brüchigen Handschrift geschrieben war, und atmete freudig auf. Die Entscheidung war günstig.

»Lieber Freund!« schrieb Selenin. »Unser letztes Gespräch hat einen tiefen Eindruck in mir hinterlassen. Du hattest bezüglich der Maslowa recht. Ich habe die Akten aufmerksam geprüft und mich überzeugt, daß ihr schreiendes Unrecht geschehen ist. Die Sache konnte nur in der Bittschriftenkommission wieder gutgemacht werden, bei der Du ja auch das Gnadengesuch eingereicht hast. Es gelang mir, bei der Entscheidung der Angelegenheit dort ein wenig mitzuwirken, und ich schicke Dir eine Abschrift des Begnadigungsschreibens an die Adresse, die mir die Gräfin Jekaterina Iwanowna gegeben hat. Das Originalschreiben ist an den Ort abgesandt worden, an dem die Maslowa zur Zeit ihrer Verurteilung festgehalten wurde, und es wird voraussichtlich von dort sofort an die sibirische Zentralverwaltung abgegangen sein. Ich beeile mich, Dir diese angenehme Nachricht mitzuteilen, und drücke Dir freundschaftlich die Hand. Dein Selenin.«

Das Schriftstück selbst hatte folgenden Inhalt: »Kanzlei Seiner Kaiserlichen Majestät für die an die Allerhöchste Stelle eingereichten Bittschriften. Abteilung so und so. Tisch so und so. Datum so und so. Auf Anordnung des Direktors der Kanzlei Seiner Kaiserlichen Majestät für die an die Allerhöchste Stelle eingereichten Bittschriften wird der Kleinbürgerin Jekaterina Maslowa hiermit bekanntgegeben, daß Seine Kaiserliche Majestät auf Grund des Allerhöchstderselben erstatteten alleruntertänigsten Vortrags der Bitte derselben stattzugeben geruht haben, mit der Maßgabe, daß die über sie verhängte Strafe der Zwangsarbeit in Ansiedelung in einer nicht zu weit entfernten Gegend Sibiriens umzuwandeln ist.«

Die Nachricht war froh und wichtig zugleich: alles, was Nechljudow nur irgend für Katjuscha und auch für sich selbst als wünschenswert erachten konnte, war erfüllt. Allerdings brachte diese Wandlung ihrer Lage neue Verwickelungen in seinen Beziehungen zu ihr mit sich. Wäre sie zu Zwangsarbeit verurteilt geblieben, dann wäre die Ehe, die er ihr vorgeschlagen, nur fiktiv gewesen und hätte nur insofern für sie eine Bedeutung gehabt, als sie gewisse Erleichterungen ihrer Lage möglich gemacht hätte. Jetzt aber stand nichts einem gemeinsamen Leben im Wege – und darauf war Nechljudow nicht vorbereitet. Und was wurde aus ihren Beziehungen zu Simonson? Was hatten ihre gestrigen Worte zu bedeuten? Wenn sie einwilligte, Simonsons Frau zu werden – war das für ihn erfreulich oder nicht? Er konnte sich in dem Wirrwarr dieser Gedanken auf keine Weise zurechtfinden und zog es vor, nicht daran zu denken. »Alles das wird sich später finden,« dachte er – »jetzt muß ich sie so bald wie möglich sehen, um ihr die freudige Nachricht zu überbringen und sie zu befreien.« Er glaubte, daß die Abschrift des Begnadigungsdekrets, die er in Händen hatte, dazu genügen würde, und fuhr vom Postamt sogleich nach dem Gefängnis.

Obgleich der General ihm die Erlaubnis zum Besuch des Gefängnisses nicht erteilt hatte, wollte er doch den Versuch machen, sich daselbst Zutritt zu verschaffen. Er wußte aus Erfahrung, daß oft das, was sich bei den höheren Vorgesetzten auf keine Weise durchsetzen ließ, bei den unteren Stellen mit Leichtigkeit erreicht werden konnte. Außer Katjuscha wollte er auch Maria Pawlowna sprechen, um zu hören, wie es um Krylzow stand, und ihr mitzuteilen, was der General ihm betreffs ihrer gesagt hatte.

Der Gefängnisinspektor war ein hochgewachsener, korpulenter Mann von sehr imposantem Aussehen, mit einem Schnurrbart und einem Backenbart, der sich bis zu den Mundwinkeln hinzog. Er empfing Nechljudow sehr streng und erklärte ihm offen heraus, daß er ohne Bewilligung des Chefs keinem Fremden den Zutritt zum Gefängnis gestatten dürfe. Auf Nechljudows Bemerkung, daß man ihm selbst in der Residenz den Zutritt gestattet habe, meinte der Inspektor:

»Das kann schon sein. Ich lasse aber niemanden herein.« Dabei schien der Ton, in dem er sprach, zu besagen: »Ihr Herren aus der Residenz glaubt uns verblüffen und uns imponieren zu können – aber wir Ostsibirier kennen unsere Instruktionen und werden euch schon ein Licht aufstecken!«

Auch die Abschrift des Dekrets aus Seiner Majestät Höchsteigener Kanzlei übte auf den Inspektor keine Wirkung aus. Er weigerte sich ganz entschieden, Nechljudow in die Gefängnismauern einzulassen. Auf die naive Äußerung Nechljudows, daß die Maslowa vielleicht nach Vorweisung dieser Abschrift freigelassen werden könnte, lächelte er nur verächtlich und erklärte, daß, wenn jemand freigelassen werden solle, dies nur auf Grund eines Befehls seines unmittelbaren Vorgesetzten geschehen könne. Nur so viel versprach er, daß er der Maslowa von ihrer Begnadigung Mitteilung machen wolle, und daß er sie auch nicht eine Stunde zurückhalten würde, sobald betreffs ihrer Freilassung ein Befehl der ihm vorgesetzten Behörde vorläge.

Auch betreffs der Gesundheit Krylzows lehnte er jede Auskunftserteilung ab, ja, er meinte, er dürfe nicht einmal sagen, ob ein Arrestant dieses Namens sich im Gefängnis befinde. Ohne etwas erreicht zu haben, setzte Nechljudow sich in seine Droschke und fuhr nach seinem Gasthof.

Die Strenge des Inspektors hatte hauptsächlich darin ihren Grund, daß in dem überfüllten Gefängnis – es waren doppelt so viel Gefangene da, als der Raum eigentlich faßte – zurzeit gerade eine Typhusepidemie herrschte. Der Kutscher, der Nechljudow fuhr, erzählte ihm unterwegs, daß im Gefängnis »das Volk sich sehr vermindere«. Irgendein Siechtum habe sie befallen, an die zwanzig Mann würden täglich verscharrt.


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