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16.

In der anstoßenden Zelle ließen sich die Stimmen der Obrigkeit vernehmen. Alles wurde still, und bald darauf trat der Korporal mit zwei Soldaten von der Eskorte in die Zelle der Politischen. Das war die Kontrolle.

Der Korporal nahm eine Zählung vor, wobei er auf jeden einzelnen der Anwesenden mit dem Finger wies. Als er an Nechljudow kam, sagte er in familiärem Tone:

»Jetzt dürfen Sie nicht mehr bleiben, Fürst, die Kontrolle ist vorüber. Sie müssen gehen.«

Nechljudow verstand den Sinn seiner Worte, trat an ihn heran und steckte ihm eine Dreirubelnote, die er bereit hielt, in die Hand.

»Nun, was soll ich schon mit Ihnen machen? Bleiben Sie meinetwegen noch.«

Der Korporal wollte gehen, als ein zweiter Unteroffizier, gefolgt von einem hochaufgeschossenen, mageren Arrestanten mit spärlichem Bartwuchs und blutunterlaufenem Auge, in die Zelle trat.

»Ich komme wegen der Kleinen,« sagte der Arrestant.

»Da ist ja Väterchen gekommen,« ließ sich plötzlich ein hellklingendes kindliches Stimmchen vernehmen, und ein blondes Flachsköpfchen tauchte hinter der Ranzewa auf, die eben in Gemeinschaft mit Maria Pawlowna und Katjuscha für die Kleine aus einem von ihr geschenkten Rocke ein neues Kleid nähte.

»Ich bin es, Töchterchen, ich,« sagte Busowkin – so hieß der Arrestant – freundlich.

»Sie hat es bei uns gut,« sagte Maria Pawlowna, während sie voll Mitgefühl Busowkins zerschlagenes Gesicht betrachtete. »Lassen Sie sie hier!«

»Sie nähen mir ein neues Kleid,« sagte die Kleine und zeigte nach der Ranzewa, die an dem Kleidchen nähte. »So ein schönes, ro–o–tes,« plapperte sie.

»Willst du bei uns über Nacht bleiben?« fragte die Ranzewa und streichelte die Kleine.

»Ja. Und auch Väterchen bleibt hier.«

Auf dem Gesichte der Ranzewa erschien ihr herzliches Lächeln.

»Väterchen kann nicht hier bleiben,« sagte sie. »Aber die Kleine lassen Sie nur da,« wandte sie sich an den Vater.

»Meinetwegen kann sie dableiben,« sagte der Korporal, einen Augenblick in der Tür stehenbleibend, und ging dann zugleich mit dem Unteroffizier hinaus.

Kaum waren die Leute von der Eskorte fort, als Nabatow auf Busowkin zutrat und, ihn an der Schulter fassend, fragte:

»Ist es wahr, Bruder, daß euer Karmanow mit einem andern tauschen will?«

Das gutmütige, freundliche Gesicht Busowkins nahm plötzlich einen düstren Ausdruck an, und über seine Augen zog sich gleichsam ein Häutchen.

»Wir haben nichts gehört. Ich glaube – kaum,« sagte er, und ohne daß das Häutchen von seinen Augen verschwand, fügte er hinzu: »Na, Anjutka, laß dir's gut gehen hier bei den Damen!«

»Er weiß um die Sache, und es stimmt, daß sie getauscht haben,« sagte Nabatow. »Was werden Sie tun?«

»Ich werde es in der Stadt der Behörde sagen. Ich kenne sie beide von Angesicht,« antwortete Nechljudow.

Alle schwiegen – offenbar fürchteten sie, daß der Streit von neuem ausbrechen könnte.

Simonson, der die ganze Zeit über schweigend, die Hände unter dem Kopfe, in der Ecke auf der Pritsche gelegen hatte, erhob sich jetzt entschlossen, ging vorsichtig um alle Dasitzenden herum und trat auf Nechljudow zu.

»Können Sie mich jetzt anhören?« fragte er.

»Gewiß,« sagte Nechljudow und erhob sich, um ihm zu folgen.

Katjuscha hatte gesehen, wie Nechljudow sich erhob – ihr Blick begegnete dem seinigen, und sie errötete und schüttelte gleichsam bedenklich den Kopf.

»Es handelt sich um folgendes,« begann Simonson, als er mit Nechljudow auf den Korridor hinausgegangen war. Im Korridor dröhnte das Lärmen und Schreien der Kriminalgefangenen besonders laut, und Nechljudow runzelte die Stirn, aber Simonson ließ sich anscheinend durch den Lärm nicht stören.

»Ich kenne Ihre Beziehungen zu Katerina Michajlowna,« fuhr er eindringlich fort und sah dabei Nechljudow mit seinen treuherzigen Augen offen und gerade an – »und ich halte es für meine Pflicht ...«

Er mußte innehalten, da soeben dicht an der Tür zwei laut streitende Stimmen auf einmal losschrien.

»Ich sage dir, du Ochse: sie gehört nicht mir!« schrie die eine Stimme.

»Ersticken sollst du dran, du Satan!« krächzte die andere.

In diesem Augenblick trat Maria Pawlowna in den Korridor.

»Könnt ihr denn hier sprechen?« sagte sie. »Geht doch da hinein, in die andere Zelle! Nur Wjerotschka ist drin.«

Sie ging ihnen voran in die kleine, für die weiblichen Politischen bestimmte Zelle, die offenbar sonst als Einzelzelle diente. Auf der Pritsche lag mit verhülltem Kopfe Wjera Jefremowna.

»Sie hat Migräne – sie schläft und hört nichts, und ich gehe hinaus,« sagte Maria Pawlowna.

»Im Gegenteil: bleib nur,« sagte Simonson – »ich hab' vor keinem Menschen Geheimnisse, am wenigsten vor dir.«

»Nun gut,« sagte Maria Pawlowna, rutschte nach Art der Kinder an der Pritsche herunter, daß sie tiefer zu sitzen kam, und machte sich zum Zuhören bereit, wobei ihre schönen Augen irgendwohin in die Ferne zu blicken schienen.

»Mein Anliegen ist also dieses,« wiederholte Simonson, »daß ich, nachdem ich Ihre Beziehungen zu Katerina Michajlowna kenne, mich verpflichtet fühle, Ihnen auch meine Beziehungen zu ihr zu erklären.«

»Ja – also was denn?« fragte Nechljudow, der an der schlichten, aufrichtigen Art, wie Simonson mit ihm sprach, unwillkürlich Wohlgefallen fand.

»Daß ich nämlich Katerina Michajlowna heiraten möchte ...«

»Sonderbar!« sagte Maria Pawlowna, ihre Augen auf Simonson richtend.

»Ich habe mich entschlossen, sie zu bitten, daß sie meine Frau werden möchte.«

»Was kann ich da tun? Das hängt doch ganz von ihr ab,« sagte Nechljudow.

»Ja, aber sie wird diese Frage nicht ohne Sie entscheiden.«

»Warum nicht?«

»Weil sie keine Wahl treffen kann, bevor nicht Ihre Beziehungen zu ihr endgültig entschieden sind.«

»Von meiner Seite ist die Frage endgültig entschieden. Ich wünschte nur das zu tun, was ich für meine Pflicht hielt, und außerdem ihr ihre Lage zu erleichtern, auf keinen Fall jedoch wünsche ich ihr in irgendeiner Beziehung Zwang anzutun.«

»Ja – aber sie will Ihr Opfer nicht annehmen.«

»Es ist von gar keinem Opfer die Rede.«

»Ich weiß auch, daß dieser ihr Entschluß unwiderruflich ist.«

»Nun, was ist dann noch mit mir groß zu reden?« sagte Nechljudow.

»Sie möchte aber, daß auch Sie das anerkennen.«

»Wie soll ich denn anerkennen, daß ich etwas nicht tun soll, wozu ich mich verpflichtet fühle? Das einzige, was ich sagen kann, ist, daß ich nicht frei bin, sie aber frei ist.«

Simonson schwieg ein Weilchen, in Nachdenken versunken.

»Gut, ich will ihr das sagen. Glauben Sie nicht etwa, daß ich in sie verliebt bin,« fuhr er fort. »Ich liebe sie als einen edlen, seltenen Menschen, der viel gelitten hat. Ich verlange von ihr nichts, ich möchte ihr jedoch herzlich gern helfen, ihre Lage erleichtern ...« In seiner Stimme ließ sich, zu Nechljudows Verwunderung, ein Zittern vernehmen. »Wenn sie Ihre Hilfe nicht annehmen will, dann mag sie die meinige annehmen. Falls sie einwilligt, würde ich darum einkommen, daß man mich dahin verschickt, wo sie ihre Strafe absitzen muß. Vier Jahre sind keine Ewigkeit. Ich würde neben ihr hinleben und könnte ihr vielleicht ihr Schicksal erleichtern ...« Er blieb vor Aufregung in seiner Rede stecken.

»Was kann ich dazu sagen?« sprach Nechljudow. »Ich freue mich, daß sie einen solchen Beschützer wie Sie gefunden hat ...«

»Das war es, was ich wissen wollte,« fuhr Simonson fort. »Ich wünschte zu wissen, ob Sie, der Sie sie lieben und ihr doch alles Gute wünschen, es für gut halten würden, daß sie die Ehe mit mir eingeht?«

»O ja,« sagte Nechljudow bestimmt.

»Alles liegt an ihr, ich möchte nur, daß diese Seele, die so schwer gelitten hat, zur Ruhe kommt,« sagte Simonson und sah dabei Nechljudow mit einer so kindlichen Sanftmut an, wie man sie bei einem Menschen mit so düsterem Aussehen nicht erwartet hätte.

Simonson erhob sich und ergriff Nechljudows Hand – dann näherte er sich ihm mit dem Gesichte, lächelte verlegen und küßte ihn.

»Ich will es ihr also sagen,« sprach er und ging hinaus.


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