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12.

Der andere politische Gefangene aus dem Volke, der sich bei dem Transport befand, Markel Kondratjew, war ein Mensch von ganz anderer Art. Von seinem fünfzehnten Jahre an war er auf seiner Hände Arbeit angewiesen gewesen, und um in sich das unklare Bewußtsein, daß er zu den Enterbten gehöre, zu betäuben, hatte er geraucht und getrunken. Dieses Bewußtsein war ihm zum erstenmal aufgedämmert, als er einmal, noch als Knabe, mit seinen Kameraden zu einer von der Frau des Fabrikanten veranstalteten Weihnachtsfeier eingeladen wurde, bei der jedem von ihnen eine Fischangel im Werte von einer Kopeke, ein Apfel, eine vergoldete Nuß und eine getrocknete Feige beschert wurde, während die Kinder des Fabrikanten mit Spielsachen beschenkt wurden, die ihm als die Gaben einer Märchenfee erschienen und, wie er später erfuhr, über fünfzig Rubel gekostet hatten.

Er war dreißig Jahre alt, als ein den revolutionären Kreisen angehörendes junges Mädchen in die Fabrik als Arbeiterin eintrat. Sie bemerkte alsbald die hervorragenden Fähigkeiten Kondratjews, gab ihm Bücher und Broschüren zu lesen, unterhielt sich mit ihm und klärte ihn über seine Lage und deren Ursachen, sowie über die Mittel, sie zu verbessern, auf. Immer klarer erkannte er die Möglichkeit, sich selbst und die andern aus der Unterdrückung, in der sie sich befanden, zu befreien. Man hatte ihm gesagt, daß das Wissen diese Befreiung ermögliche, und so verlegte er sich mit Leidenschaft darauf, sich alles mögliche Wissen anzueignen. Unklar blieb ihm freilich, auf welche Weise sich die Verwirklichung der ihm vorschwebenden gesellschaftlichen Ideale durch das Wissen vollziehen sollte, aber er glaubte, daß, wie das Wissen ihm die Ungerechtigkeit der Lage, in der er sich befand, offenbart hatte, es auch diese Ungerechtigkeit beseitigen würde. Und dann erhob ihn dieses Wissen auch in seiner eigenen Vorstellung über die andern Menschen. Er gab das Rauchen und Trinken auf und widmete seine ganze freie Zeit – er war inzwischen Magazinaufseher geworden und hatte nun mehr Muße als früher – dem Studium.

Die junge Revolutionärin unterrichtete ihn und war erstaunt über den unersättlichen Wissensdurst dieses Menschen, der alle möglichen Kenntnisse förmlich verschlang. Im Verlauf von zwei Jahren eignete er sich die Algebra und die Geometrie an, studierte Geschichte, die er ganz besonders liebte, und arbeitete sich durch die ganze schöngeistige und kritische Literatur, hauptsächlich aber durch die Literatur des Sozialismus hindurch.

Seine Lehrerin wurde festgenommen, und mit ihr zugleich Kondratjew, bei dem man verbotene Bücher gefunden hatte. Man sperrte ihn ins Gefängnis und verschickte ihn dann ins Gouvernement Wologda. Dort machte er die Bekanntschaft Nowodworows, las noch viel mehr revolutionäre Bücher, behielt alles im Gedächtnis und wurde in seinen radikalen Ansichten noch mehr befestigt. Nachdem die Frist seiner Verschickung abgelaufen war, übernahm er die Leitung eines großen Streiks, der mit der Zerstörung der Fabrik und der Tötung des Direktors endete. Er wurde festgenommen und neuerdings unter Aberkennung aller Rechte zur Verschickung verurteilt.

Gegen die Religion verhielt er sich ebenso negativ wie gegen die bestehende wirtschaftliche Ordnung. Nicht ohne Mühe, zuerst sogar mit einer gewissen Angst, dann aber mit um so größerer Begeisterung hatte er sich vom Dogmenglauben befreit und entgalt nun die Bevormundung, in der er und seine Vorfahren so lange gehalten worden waren, mit boshaftem, giftigem Spott. Seinen Gewohnheiten nach war er ein Asket, brauchte nur wenig für seine Bedürfnisse und konnte, wie jeder von Kindheit auf an Arbeit gewöhnte Mensch mit gut entwickelten Muskeln, sehr viel und sehr geschickt arbeiten. Doch wußte er dabei die Muße immer zu schätzen und benutzte jede freie Stunde zu geistiger Beschäftigung, auch im Gefängnis und während der Rast auf den Etappen. Er las augenblicklich den ersten Band von Marx' »Kapital« und verwahrte dieses Buch mit größter Sorgfalt als einen kostbaren Schatz in seinem Sacke. Gegen die Kameraden verhielt er sich zurückhaltend und gleichgültig, mit Ausnahme Nowodworows, dem er ganz besonders ergeben war, und dessen Urteil ihm in allen Dingen als unwiderlegliche Wahrheit galt.

Gegen die Frauen, die er in allen notwendigen Dingen als ein Hindernis ansah, hegte er eine unüberwindliche Verachtung. Die Maslowa jedoch bedauerte er und war freundlich gegen sie, da er in ihr ein Opfer der Ausbeutung der unteren Klassen seitens der höheren sah. Aus der gleichen Auffassung heraus hegte er gegen Nechljudow eine Abneigung, war ihm gegenüber wortkarg und drückte ihm nicht die Hand, sondern streckte ihm nur, wenn Nechljudow ihn begrüßte, mechanisch seine Hand hin.


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